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Updated: 18.12.2012 15:51 |
225 Jahre Knast und 2,5 Millionen Euro Entschädigung Drakonische Forderungen der italienischen Staatsanwaltschaft gegen 25 Angeklagte wegen der Anti-G8-Proteste in Genua 2001 Artikel von Rosso Vincenzo* Der folgende Artikel erschien in der Schweizer Wochenzeitung „WoZ“ (www.woz.ch ) vom 1.11.2007 in stark redigierter und gekürzter Form. Hier die vollständige Ursprungsversion über die zum Teil mehr als zynischen Plädoyers und Strafforderungen der italienischen Staatsanwaltschaft im Maxi-Prozess gegen 25 Angeklagte, die stellvertretend für die Zehntausenden abgeurteilt werden sollen, die Ende Juli 2001 in Genua gegen den G8-Gipfel und die herrschende Weltordnung demonstrierten. „Ihr werdet für alles bezahlen und Ihr werdet teuer bezahlen!“ Diese einstige Standardlosung der radikalen Linken in Italien hat sich jetzt die Genueser Staatsanwaltschaft im Prozess gegen 25 Antiglobalisierer wegen verschiedener Vorfälle beim G8-Gipfel im Juli 2001 zueigen gemacht. In dem seit März 2004 dauernden Maxi-Prozess gegen 25 Teilnehmer der damaligen Demonstrationen, die aus allen Teilen der italienischen Linken stammen, fordern die Staatsanwälte Anna Canepa und Andrea Canciani Haftstrafen von insgesamt 224einhalb Jahren. Darüber hinaus sollen die Angeklagten, nach dem Willen von Avvocato Ernesto De Napoli, der den italienischen Staat in dem Prozess als Nebenkläger vertritt, zur Wiedergutmachung der „Imageschäden“, die die Republik Italien durch sie erlitten habe, pro Kopf 100.000 Euro Schadensersatz zahlen. Insgesamt 2,5 Millionen Euro. Die Höhe der Haftstrafen, die von der Staatsanwaltschaft gefordert werden, resultiert nicht zuletzt aus dem Rückgriff auf den Paragraphen 419 des Strafgesetzbuches („Plünderung und Verwüstung“), der in der Nachkriegsgeschichte nur sehr selten Anwendung fand. Canepa und Canciani argumentieren, bei den Protesten gegen den G8-Gipfel im Sommer 2001 habe dieser Tatbestand vorgelegen, weil in Genua aufgrund der Massen gewalttätiger Demonstranten die öffentliche Ordnung zusammengebrochen sei. Eine höchst fragwürdige Behauptung, musste doch selbst der staatliche Nebenkläger De Napoli in seinem Plädoyer zugeben, dass diese angeblich plündernden und brandschatzenden Horden offenbar gar nicht bewaffnet waren: „Man kann sagen, dass die öffentliche Ordnung nicht immer auf der Höhe war. In diesem Kontext, angesichts von tausenden Demonstranten, die, auch wenn sie sich kriegerisch gebärdeten, jedoch nicht bewaffnet schienen, wäre es vielleicht besser gewesen, den Einsatz von Tränengas oder Aktionen zu vermeiden, die möglicherweise gewaltsame Reaktionen auslösen konnten.“ Doch über das brutale und blutige Vorgehen der Polizei bei ihrem Angriff auf die genehmigte Demonstration der Tute Bianche / Disobbedient in der Via Tolemaide, die Verwendung von Eisenstangen und Pflastersteinen durch die „Ordnungshüter“, das Verprügeln friedlicher Demonstranten trotz erhobener Hände oder die Erschießung Carlo Giulianis auf der Piazza Alimonda und die Auswirkungen dessen auf den weiteren Verlauf der Proteste wollen die Staatsanwälte Canepa und Canciani in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Zwar bestreiten sie diese Fakten ebenso wenig wie die „chilenische Nacht“ in der Diaz-Schule oder die Folterungen in der Bolzaneto-Kaserne, doch das seien Themen eines anderen Prozesses. Eine Verbindung gäbe es nicht. Stattdessen lautet ihre Konsequenz aus dem Geschehenen, dass es der Staatsgewalt an Effizienz gemangelt habe: „Vor der ganzen Welt haben unser Land, seine politische Autorität und die Ordnungskräfte einen Eindruck gravierender Ineffizienz hinterlassen.“ Das soll sich nun offenbar gründlich ändern. Dabei gehört es zu den zynischen Skurrilitäten dieses Verfahrens, das mehr als einmal den Charakter einer Schmierenkomödie hatte, dass sich die Staatsanwälte trotz der geforderten knapp 225 Jahre Haft selbst noch für äußerst gnädig halten. „Das sind harte, aber keine exemplarischen Strafen“, meint zum Beispiel Staatsanwältin Anna Canepa. Vielen Angeklagten seien im Rahmen ihres Konstrukts doch hier oder da durchaus „mildernde Umstände“ zugestanden und ein kleiner Rabatt gewährt worden. Im Endergebnis schwanken die verlangten Haftstrafen bei den 25 Angeklagtem zwischen 6 und 16 Jahren, je nachdem ob ihnen eine „Rädelsführerschaft“ unterstellt wird oder nicht. Ein 36jähriger Betroffener, der für 9 Jahre hinter Gitter soll, weil er den Carabinieri-Jeep mit einem Brett angegriffen haben soll, aus dem heraus kurz darauf Carlo Giuliani erschossen wurde, fragte in einem Interview für die linksliberale Tageszeitung „la Repubblica“ treffend: „ Wenn sie mir neun Jahre Haft geben, was sollten sie dann mit Leuten tun, die einen umbringen?“ Doch das ist nicht die einzige Ungeheuerlichkeit in diesem Prozess. So sind die geforderten 100.000 Euro Schadensersatz pro Kopf (die sich auf 30.000 € „verringern“, falls das Gericht nicht auf „Plünderung und Verwüstung“ erkennt) nebst Behebung des „Imageschadens“ zur Wiedergutmachung der Schäden an der Marassi-Kaserne, an den Mannschaftstransportern der prügelnden „Ordnungskräfte“ und des Ungemachs bestimmt, das der mutmaßliche Mörder Carlo Giulianis, Mario Placanica, und seine beiden Carabinieri-Kollegen erlitten hätten. Carlos Mutter Haidi Giuliani kommentierte diese Nachricht mit den Worten: „Ich warte schon darauf, dass irgendjemand zu mir und zu Giuliano (Carlos Vater; Anm.d.Red.) kommt und von uns Schadensersatz verlangt, weil das Blut unseres Sohnes den Straßenbelag verunreinigt hat.“ Um die 25 Angeklagten nicht allein zu lassen und, mit Blick auf den für Dezember oder Anfang Januar erwarteten Urteilsspruch, politischen Druck zu entfalten, ruft die italienische Antiglobalisierungsbewegung für den 17.November in Genua zu einer Großdemonstration auf. Luca Casarini, einer der ehemaligen Köpfe der Disobbedienti, bringt die Einschätzung der Bewegung auf den Punkt: „Von 300.000 Leuten haben sie 25 als Sündenböcke herausgegriffen. Dies ist ein politischer Prozess gegen die Bewegungen, gegen die heutigen und gegen die künftigen. Hier wird Leuten der Prozess gemacht, um den sozialen Dissens zu verhindern. Dies ist kein Justiztribunal, sondern ein Machttribunal, das denjenigen, die auf die Straße gehen mitteilt, dass sie solche Strafen riskieren. Es ist eine ganz nüchterne Terrorstrategie.“ An ein rechtsstaatliches Verfahren nach den üblichen bürgerlichen Standards glaubten in diesem Fall wohl auch die zuständigen Stellen in Deutschland, England und der Schweiz nicht. Sie lehnten jedenfalls die Auslieferung der aus diesen Ländern stammenden Beschuldigten nach den in Genua gemachten Erfahrungen ab. Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik „Aktuelles“). Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch |