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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Neoliberalismus und Regierungslinke - Bengalen als exemplarischer Fall ? Das "Massaker von Nandigram" in Westbengalen, bei dem im Frühjahr 2007 Bauern und Landarbeiter starben, die sich der Vergabe von Land an "Investoren" widersetzten, macht in Indien weiter Schlagzeilen und Furore. Nicht aufgrund seiner Einzigartigkeit - denn seitdem gab es in anderen Bundesstaaten bereits weitere Todesopfer der Modernisierung. Nein: Der von der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) seit Jahrzehnten regierte Bundesstaat Westbengalen ist beileibe nicht die einzige Gegend des riesigen Landes, in dem mit den weltweit üblichen Flexibilisierungen, Steuersenkungen, Investitionsanreizen, Reduzierung von (Schutz)Vorschriften, Landnahme und Vertreibung das Projekt "Eingliederung in den Weltmarkt" verfolgt wird. Ebenso ist Westbengalen auch nicht der einzige indische Bundesstaat, in dem es massiven Widerstand gegen diese Politik gibt. Ganz im Gegenteil: Die Marktwirtschaft lässt quer durchs Riesenland schlagen, schiessen und verfolgen, in nahezu allen vorstellbaren Konstellationen und für unterschiedlichste Unternehmenszwecke: Bergbau in verschiedenen Varianten, Hightech-Outsourcing und Sonderwirtschaftszonen. Aber die Auseinandersetzungen in Bengalen sind in jüngster Zeit eben besonders heftig geworden - und die Politik der Justierung auf den Weltmarkt wird eben von einer linken Landesregierung betrieben. Was die Debatten darum auch in der gesamten - und nicht nur der parteinahen - indischen Gewerkschaftsbewegung und den sozialen Bewegungen prägt - und sie gerade deshalb auch für andere Länder wichtig macht, speziell dort, wo es ansatzweise vergleichbare Konstellationen gibt. Die kommentierte aktuelle Materialsammlung "Exempel Nandigram?" von Ende August 2007. Exempel Nandigram ? Die "Öffnung" Indiens zur modernen Marktwirtschaft wird meist auf etwa Anfang der 90er Jahre datiert - zum etwa selben Zeitraum, da auch in anderen grossen Ländern außerhalb Europas vergleichbare Schritte unternommen wurden (Brasilien, Südafrika, Nigeria beispielsweise), was als eine Folge des neoliberalen Siegeszuges in den USA und Westeuropa bewertet wird. Indien wird seitdem in doppelter Weise "erschlossen": Zum einen werden, wie anderswo auch, die bereits bestehenden Arbeitsbeziehungen in marktwirtschaftlichem Sinne verändert, zum anderen werden ganze Regionen - oftmals lange Zeit vernachlässigt - in den Verwertungsprozeß einbezogen. Das "europäische Muster" - und seine Begrenzungen Dass die Veränderungen ab 1991 im wesentlichen auf
zwei Verursacher zurückzuführen sind, nämlich auf den internationalen
Druck von Währungsfonds und Weltbank (die immer wieder die mangelnde
"Flexibilität" indischer Arbeitsgesetze kritisierten) und
auf das Drängen indischer Unternehmer (die nach einer ganzen Serie
von Aussperrungen in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in Presseartikeln
als "militante Unternehmer" bezeichnet wurden) - das macht der
(englische) redaktionelle Artikel "How
‘Labour Reforms’ Are Implemented: The Story of Otis Elevators"
Eines von nahezu unendlich vielen möglichen Beispielen
dazu, wie diese Politik aussergerichtlich durchgesetzt wurde liefert der
Artikel "Anti-Labour
Violence Isn’t Random" Wenn also in jenem Teil der indischen Gesellschaft in dem es Arbeits(schutz)Gesetze gibt - oder gab - und gewerkschaftliche Organisierung inklusive Tarifverträge usw die Veränderungen der letzten anderthalb Jahrzehnte die Arbeitswelt nachhaltig umgestaltet haben, so bleibt andrerseits festzuhalten, dass dies so nur für eine kleine Minderheit in Indien gilt: nicht für jene 92% der arbeitenden Menschen Indiens, die in den Städten in der informellen Ökonomie arbeiten oder eben in der Landwirtschaft. Denn selbst in den großen Industrie- und Wirtschaftszentren,
die für die Verhältnisse im ganzen Land keineswegs repräsentativ
sind, stellen "informell Beschäftigte" die große
Mehrheit: "Studies have shown that the informal sector accounts for
66.7% of total employment in Delhi while the corresponding figure for
Mumbai is 68% and for Chennai, it is 60.6%" schreibt Rahul Srivastava
in seinem Beitrag "The
informal sector and urban poverty" "Begrenzt" wird das europäische Muster aber vor allem durch den Umfang der ländlichen Bevölkerung Indiens - niemand kann sie wirklich genau zählen, aber durchschnittlich wird davon ausgegangen, daß es sich dabei um rund 700 Millionen Menschen handelt. Schocktherapie auf dem Land Wenige würden auf die Idee kommen, "das Bestehende" gegen Veränderung zu verteidigen in einer Gesellschaft, deren führende Kräfte sich einst im Unabhängigkeitskampf gegen das British Empire die Landreform auf die Fahnen geschrieben hatte. Und in einer Bilanz aus rund 60 Jahren gerade einmal 10% der bebaubaren Ländereien dieser Reform unterzogen hat (mehr und wirksamer war diese Reform einst nicht zufälligerweise in Kerala und Westbengalen, wo es eben linke Regierungen gab...). Nach der Unabhängigkeit - wie heute - lautete das Schlagwort "Entwicklung". Ein Begriff, der dann, je nach Konjunktur soziale Rechte als förderlich oder hinderlich für den Prozeß darstellen läßt. Nagraj Adve hat für die Kashipur Solidarity Group -
einer der Orte, wo es blutige Auseinandersetzungen gab - einen Diskussionsbeitrag
verfasst "Development
- a note for discussion written for the Kashipur Solidarity Group"
"This violent entry of capital is posited by elites and in the media as bringing ‘development’ to these areas. But in reality because of consistent neglect by the state for decades, adivasis and other underclasses in these areas don’t have the skills to benefit from the jobs this entry of industry would generate, nor the incomes to benefit from its products. Instead their lives get overturned in so many ways: their homes, lives, community, history, forests, and the environment, both local and beyond. They get further divided by their reality and get caught in the dilemma of underdevelopment; such as in Kashipur, where adivasis and dalits with no land or little land working as wage labour in an underdeveloped agriculture from which they earn Rs 15 a day are now faced with construction work from a company and earning Rs 60 a day, a company that is overturning everyone’s lives around. In this manner, a small section among them become useful for industry for a little while as manual labour building roads, walls, etc, and are then abandoned to the vagaries of the migrant labour market. This spread of capitalism in India did not start in the 1990s. The policy choices made in the 1950s and thereafter – import substitution, state support for large projects, dams, power generation, mining, and the development of heavy industry – lay the ground for what followed in the 1990s. Some people tend to view this part of the development process positively as the coming of age of an indigenous capital and self-reliance. Whereas this is not to be dismissed, I would urge we view the post-independence trajectory from the eyes of those who paid the cost: such as the millions of people – again a lot of them adivasis and dalits – who were displaced by these large projects, just as the people are paying today. This development trajectory kept in mind the inability of Indian capital to invest in certain areas because it was not developed enough and hence the state did: power generation, roads, railways, infrastructure. Now we see the withdrawal of the state from some of these areas. Significant choices were made that give it a particular direction and these choices were dependent on the balance of class forces at the time. Some like to say that the post-independence development trajectory was made with the purpose of employment generation and getting people out of poverty. To the partial degree this happened, these were only incidental achievements: I feel the primary goal was the development of Indian capitalism, and in that they succeeded". Bei der Auseinandersetzung in Kashipur ging es - wie oft
in Land- und Forstwirtschaft, sowie im Bergbau - um "Ureinwohner",
die eben aufgrund ihrer Ansiedlung besonders unter dem "neuen Kurs"
zu leiden haben. "Im Kashipur-Distrikt (Indien) sollen die BewohnerInnen,
in der Mehrheit Ureiwohner, dem Bauxitabbau und einem Aluminium-Werk weichen.
An dem Projekt ist auch die kanadische Firma Alcan beteiligt. Bei Protesten
werden drei Personen von der Polizei erschossen" - so beginnt der
Bericht von Fritz Rotdorn "Kashipur
(Indien): Widerstand der Adivasi" Die Widerstände gegen - plötzlich "hereinbrechende"
- Industrialisierungsprojekte ziehen sich quer durchs Land, sind also
keineswegs nur auf Westbengalen beschränkt, wie einleitend gesagt.
Einen umfassenden Überblick über Widerstände speziell gegen
Bergbauprojekte gibt die Webseite von "Mines
and Communities" Wenn auch die Widerstandsbewegungen jene Erscheinung sind,
die im Zentrum dieser Materialsammlung stehen, so kann doch nicht darüber
hinweggegangen werden, dass es eine andere - katastrophale - Erscheinung
gibt, die ebenfalls eine Reaktion auf die Neuerungen in Indien ist: massenhafte
Selbstmorde von verzweifelten Bauern und Landarbeitern. Der (englische)
Beitrag "India's
Agrarian Martyrs: Are You Listening?" Special Exploitation Zones... Bei dieser Gesamtlage nimmt es nicht wunder, daß in
dem (englischen) Beitrag "Displacing
farmers: India Will Have 400 million Agricultural Refugees" Der (englische) Beitrag "Special
Exploitation Zones" Die Gesamtbewertung der Entwicklung hin zur weiteren Entrechtung
der armen Bevölkerung wurde bereits in dem ausführlichen (englischen)
Gastvortrag "Diminishing
Freedoms of the Poor - The Poor Future" ...und die Gewerkschaften Die indische Gewerkschaftsbewegung ist vor allem durch zwei
Erscheinungen gekennzeichnet: erstens durch ihre (zumindest langjährige)
Abwesenheit im dominierenden informellen Sektor und zweitens durch die
Tatsache, dass die Vielzahl existierender Gewerkschaftsföderationen
sich durch ihre jeweilige Anbindung an (oder Gründung durch) politische
Parteien auszeichnet (so war etwa Nehru Vorsitzender des ersten Gewerkschaftsbundes).
Was an sich noch nicht in jedem Falle eine grundlegende Schwäche
bedeuten muß: Schließlich startete die indische "Reformpolitik"
im Jahre 1991 mit dem Plan, die 248 staatlichen Großbetriebe zu
privatisieren, was bisher nicht gelang. So hatte etwa die linke Landesregierung
von Westbengalen durchaus dem Privatisierungsplan der in ihrem Bundesstaat
beheimateten indischen Stahlindustrie zugestimmt - aber die Kämpfe
der eigenen Gewerkschaftszentrale hatten dies verhindert - und haben es
bis heute. Das wird in dem (englischen) Beitrag "New
Social and New Political Unionism: Labour, Industry, and the State in
India and Pakistan" Die Studie "Working
class struggles, labour elites and closed shops: the lessons from India’s
trade unions and experiences of organisation" Dass nun die jeweils regierungsnahen Gewerkschaftsföderationen
- wie im Falle von Westbengalen der CITU
Widerstand - und demnach auch andere Positionen in der "Entwicklungsdebatte"
- kommen deshalb eher von entweder kleineren Zentralen, oder den speziell
in den letzten Jahren entstandenen unabhängigen Einzelgewerkschaften.
In der unabhängigen Gewerkschaftszeitschrift "Labourfile"
wird über Widerstandsaktionen des (der KP Indiens M/L nahestehenden)
Gewerkschaftsbundes AICCTU im Bundesstaat Uttar Pradesh berichtet - wobei
es zwar um keine offizielle SEZ geht, aber sehr wohl um eine Region mit
"besonderen wirtschaftlichen Erleichterungen". "When
Workers Challenge Violations of Labour Laws Government Brands Them Anti-Development"
"We resolve to build grassroots resistance against
imperialist globalisation and forge these struggles in solidarity with
all other progressive forces into a national struggle" - so heisst
es in einem der Gründungsdokumente "Building
National Resistance to Imperialist Globalisation" "The decade of eighties of the last century in this state witnessed a new turning point as regards the workers’ movement. The workers of different factories of West Bengal started revolting against the anti-Labour move perpetrated by the Central Trade Unions. As a result, the revolting workers started organizing themselves into new consolidations. This process of consolidation gave rise to two distinct trends: (A) Spontaneous revolts, followed by clashes and violence, that ended sadly in the withdrawal of the movement, and (B) Initiating organised, unified and protracted movement that culminated in a new form of struggle. The first trend was embodied in the spontaneous revolt by the workers of Victoria Jute Mill in 1992 and the recent workers’ uprising in the Tea Gardens in North Bengal, where a CITU leader was burnt to death by the angry workers. The second trend was heralded by the victorious workers of the Hindustan Livers. The movement of the Jute Worker of Kanoria Jute Mill in the 90s of the last century had taken the issues and just causes of the workers to the society at large. The message of this trend of movement was taken up by a large number of workers in various factories of the state of West Bengal. The movement of the workers of the Mathkal, Garden Reach Ship Builders, Bauria Cotton Mill and others were the representatives of this trend. Against the prevailing trend of surrender to Capitalists and the Bureaucratic functioning of the central trade unions, this new trend of workers’ initiative (of which SSKU is a successful instance) is holding high the banner of internal democracy, honesty and fighting for the just causes of the workers". Zusammenfassend bleibt zu sagen: Ja, Nandigram ist durchaus ein Beispiel dafür, wie die Segnungen der Marktwirtschaft sich in Indien auswirken - eben mit der Besonderheit, dass es sich bei der Landesregierung um eine linke handelt... (Zusammengestellt und kommentiert von hrw) |