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Updated: 18.12.2012 15:51
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Die vergessene Seite der Revolution

Renate Hürtgen und Willi Hajek über Arbeiterräte und Revolutionskomitees in Ungarn 1956*

Die Feierlichkeiten in Budapest zum 50. Jahrestag des Ungarnaufstandes 1956 am 23. Oktober waren »getrübt von Gewalt«, berichtete das ZDF in seiner Abendschau am selben Tag. Diesmal waren die Bilder eindeutig – die Gewalt ging nicht vom Volke aus, sondern von der Polizei, die mit Wasserwerfern und Gummigeschossen eine Gruppe von Demonstranten vom Platz fegte. Es gab 40 Verletzte. Der Platz sei anschließend abgesperrt und »unheimlich leer« gewesen, sagte der Reporter, sichtlich beeindruckt von diesem spontanen Massenausbruch.

Budapester demonstrieren, und Zeitzeugen verweigern ihre Teilnahme am Festakt – sie sind offensichtlich unzufrieden mit der »Aufarbeitung« der Revolution und empört darüber, wer hier die Verwaltung der Geschichte übernommen hat. Allen voran die Nationalkonservativen, die ihre Empörung über das Geschichtsverständnis gleich mit der Frage der Ablösung der »alten kommunistischen Kader« in der Regierung verbinden – oder richtiger: Sie ergreifen die günstige Gelegenheit, das Wahlvolk so auf ihre Seite zu ziehen. Aber die Unzufriedenheit mit der offiziellen Deutung und dem Umgang der Regierungsparteien mit dem Ungarnaufstand von 1956 ist weit verbreiteter und beschränkt sich durchaus nicht nur auf die Nationalisten. Unzufrieden sind auch diejenigen, die den Aufstand damals erst zu dem gemacht haben, was er dann wurde: eine Revolution. Sie kommen in der offiziellen Feier zum 50. überhaupt nicht mehr vor. Nicht nur in Ungarn, sämtliche Feiern, Vorträge und Konferenzen hier bei uns in Deutschland – es werden insgesamt an die 30 gewesen sein – kamen ohne die Erwähnung der Arbeiterräte und Revolutionskomitees aus. Ein guter Grund, wie wir fanden, um auf diese »vergessene Seite der Revolution« in einer Veranstaltung im Berliner »Haus der Demokratie und Menschenrechte« aufmerksam zu machen.

Die Zeitzeugen und ersten Chronisten wussten noch, dass diese Institutionen das eigentliche Herzstück des Aufstandes waren und seinen Charakter bestimmten. In dem UN-Bericht von 1957 heißt es dazu: »Keine Seite des ungarischen Aufstandes drückt seine demokratischen Tendenzen oder auch seine Reaktion auf die vorangegangenen Verhältnisse besser aus als die Schaffung der Revolutionsräte in Dörfern, Städten und Kreisen und die Errichtung der Arbeiterräte in den Fabriken.« (S. 122)

Bereits am 24. Oktober 1956, also einen Tag nach den Massendemonstrationen und den ersten Schüssen vor dem Rundfunkgebäude, wurde in der Vereinigten Lederfabrik Budapests ein Arbeiterrat gebildet. In der Nacht zuvor waren russische Panzer aufgefahren, es war der Tag, an dem der Ausnahmezustand verhängt und vor dem Parlament ein blutiges Gemetzel durch die ungarische Staatssicherheit veranstaltet wurde. Am nächsten Tag wurden in den Fabriken von Debrecen, Dunapentele und Csepel weitere Arbeiterräte gegründet. Bis zum Dezember 1956 entstanden in Ungarn 2100 Arbeiterräte, darunter zahlreiche überregionale Zusammenschlüsse. Die Chronisten gehen davon aus, dass etwa 28000 Menschen in diesen Gremien arbeiteten. Zählt man noch die in den Territorien, Institutionen, in Berufsverbänden oder in der Armee gebildeten Revolutionskomitees dazu, wächst die Zahl auf fast 5000 Räte und Komitees mit über 50000 Aktiven. Nicht mitgezählt sind hier die unmittelbar auf den Straßen Kämpfenden in Budapest und anderswo. Ungarn hatte damals neun Millionen Einwohner.

Was machten diese Räte? Das war eine der Fragen, die wir auf unserer Veranstaltung versuchten zu klären. Die Informationslage ist nicht besonders ergiebig: Es gibt den schon erwähnten UN-Bericht und vor allem zahlreiche Berichte und Aufsätze von vor allem Trotzkisten – die sich aber auch stark auf diesen Bericht beziehen und die, so weit wir sehen, keine aktuellen Erkenntnisse liefern. Das bereits Ende der 80er Jahre in Budapest gegründete »56er Institut« hat viel für die Aufarbeitung der Ereignisse 1956 geleistet, den Arbeiterräten jedoch widmete man wenig Interesse. Eine Ausnahme ist hervorzuheben: Am Oral History Archivum dieses Instituts hat Adrienne Molnar zahlreiche biografische Interviews mit Führern der Arbeiterräte und den Kindern der Verurteilten dokumentiert, wovon nur ein sehr kleiner Teil bisher veröffentlicht wurde.[1]

Der UN-Bericht, auf den wir uns also im Wesentlichen stützen müssen, beschreibt die Aufgaben der Räte so: »Diese Räte stellten eine spontane Reaktion gegen die diktatorischen Methoden des Regimes dar. Sie übernahmen die verschiedenen Aufgaben der örtlichen Verwaltung. Auch in der Armee, in verschiedenen Regierungszweigen, in Berufsgruppen, beim Rundfunk und bei der ungarischen Telegrafenagentur gab es Revolutionsräte (...) Die Arbeiterräte stellten ebenfalls politische Forderungen und übten einen beachtenswerten Einfluss aus. Ihr Hauptzweck war jedoch, den Arbeitern einen wirklichen Anteil an der Betriebsführung zu sichern...« Tatsächlich gibt es zahlreiche Berichte von Betriebsversammlungen, auf denen die amtierenden Direktoren abgesetzt, Normen und Löhne neu festgesetzt wurden. Bei aller Euphorie ist hier einzuschränken: Die meisten innerbetrieblichen Festlegungen kamen nie zur Umsetzung, denn nach dem 24. Oktober 1956 herrschte quasi ein Ausnahmezustand in Ungarn, der die Funktionen der Arbeiterräte letztlich auf zwei wichtige Aufgaben reduzierte: Sie organisierten zum einen nach dem ersten und zweiten Angriff der russischen Panzer am 4. November das alltägliche Leben in den Städten, sorgten für die Lebensmittelverteilung und reparierten zerstörte Gebäude. Da zwischen dem 24. Oktober und Mitte Dezember eine an- und abschwellende Streiksituation im Land bestand, war die zweite wichtige Funktion der Arbeiterräte, diese Streiks zu organisieren bzw. koordinieren.

Sowohl die Nagy- als auch die Kadarregierung begriffen rasch, dass die Arbeiterräte, namentlich ihrer »Streikwaffe« wegen, das politische Geschehen durchaus bestimmen können und taten das einzig Sinnvolle in dieser Situation: Sie unterstützten die Bildung der Arbeiterräte in den Betrieben und machten sie zu ihren Gesprächspartnern. Noch nach der russischen Invasion am 4. November gingen Arbeiterräte – die sich inzwischen zu zentralen Organen, etwa dem Budapester Arbeiterrat, zusammengeschlossen hatten – im Regierungsgebäude ein und aus, stellten ihre Forderungen oder drohten mit Streik. »... der Arbeiterrat hat heute die größte politische Macht«, soll Kadar Anfang Dezember gesagt haben. Der November und Dezember 1956 war – neben der Forderung nach Rückkehr von Imre Nagy in die Regierung – von zwei Forderungen bestimmt: Die Arbeiterräte forderten ein Streikrecht und die Gründung eines Nationalen Arbeiterrates. Doch die Verhandlungen mit der Regierung verlaufen erfolglos. Die Gründung eines Nationalen Arbeiterrates wird mit Hilfe von Panzern, die den Tagungsort umzingeln, am 21. November 1956 verhindert. Am 9. Dezember 1956 werden die versammelten Delegierten der Arbeiterräte verhaftet, Anfang Januar 1957 wird die Bildung von Arbeiterräten verboten und, ebenso wie die Beteiligung an Streiks, unter Todesstrafe gestellt.

Kehren wir aber noch einmal zurück zu den Zielen dieses Aufstandes:

Dazu ein Ausschnitt aus einem Interview mit der Sozialdemokratin Anna Kethly vom 12. Dezember 1956 [2]:

»Hören Sie, allen war klar, dass die Bauern, die nach dem Krieg das Land der Großgrundbesitzer erhalten hatten, nur das Ende der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wollten, nicht aber die Rückkehr der enteigneten Großgrundbesitzer. (...) Dasselbe gilt für die Arbeiter gegenüber den enteigneten Fabrikbesitzern. Die Arbeiterschaft will eine gerechte sozialistische Ordnung in Freiheit und Demokratie, aber nicht die Rückkehr der Fabrikanten und Bankiers und ausländischen Kapitalisten.«

Diese Feststellung der ungarischen Sozialdemokratin wird von den Akteuren der damaligen Zeit und den Chronisten überwiegend bestätigt. Es ging um Freiheit und Demokratie, aber nicht um die Rückkehr zu privatkapitalistischen Verhältnissen. Dazu aber noch einige Überlegungen von Erich Lessing, Österreicher, 1923 in Wien geboren und Mitglied der Photoagentur »Magnum«. Er war in der Zeit vor dem Aufstand und während des Aufstands in Ungarn und schildert den Ablauf ungefähr so:

Es herrschte Reformstimmung, die kritischen Elemente der Gesellschaft sammelten sich im Kreis um Petöfi, den ungarischen Nationaldichter aus der 1848er-Zeit der Aufstände gegen die Habsburger Monarchie, überall wurde von Reformen geredet, selbst innerhalb des Parteiapparats der KP. Der Alltag war hart für die meisten Menschen, die Enttäuschungen nach all den Hoffnungen aus den 50er Jahren waren riesengroß. Gleichzeitig zirkulierten die Nachrichten aus Polen vom dortigen Aufstand der ArbeiterInnen und der Einsetzung von Gomulka als neuem KP-Vorsitzenden...

Deshalb auch am 23. Oktober 1956 die Solidaritätsdemonstration zur polnischen Botschaft in Budapest, um dort die Anerkennung und den Respekt für die Aufständischen in Polen zu zeigen. Es wurde eine Riesendemonstration, die sich nicht mehr auflösen wollte und die, auf welchen Wegen auch immer, auf die Idee kam, auch in Ungarn die symbolische Ordnung des Regimes anzugreifen. Ein Bildersturm begann. Stalin wurde vom Betonsockel gestürzt, Hammer und Sichel aus der ungarischen Fahne ausgeschnitten.

Es gab viel Gewalt und Hass. Vom Charakter her eine linke Revolte, fanden sich in den Reihen der Aufständischen neben Reformkommunisten und Sozialdemokraten auch Royalisten, Katholiken, rechtsextreme Milizen und sehr viel wütendes und aufständisches Volk. Es kam – allerdings erst, nachdem die verhassten AVH-Leute (die ungarische Staatssicherheit) geschossen und getötet hatten – zu Akten der Lynchjustiz: Ungarische »Stasi«-Leute, deren Identität aufgedeckt wurde und solche, die man dafür hielt, wurden mit dem Kopf nach unten an Bäumen aufgehängt wie ehemals Mussolini, als Beigabe noch ein Bild ihres Parteidiktators auf der Brust befestigt. Anhänger der herrschenden Apparate spürten plötzlich jene Angst, die viele oppositionelle Akteure über Jahre kennen gelernt hatten. Sie wurden gesucht und gejagt. Der Bildersturm auf die kommunistischen Symbole erinnerte an die französische Revolution, nur waren es damals Kirchenvertreter und Aristokraten, die sich vor der aufständischen Wut des Volkes verstecken mussten.

Nationale Unabhängigkeit in Analogie zu den Kämpfen gegen die Habsburger Monarchie ein Jahrhundert zuvor – dies war die eine Ebene der Freiheit, um deren Verwirklichung es den Aufständischen ging. Die Formierung der Räte war eine andere Ebene von Freiheit und Demokratie. Sie bedeutete zugleich die Herausbildung einer gesellschaftlichen Gegenmacht mit einer eigenen Dynamik. Der Alltag musste organisiert werden, sowohl auf der lokalen wie auf der betrieblichen Ebene, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Damit aber entwickelten sich in dieser freiheitlichen Situation zugleich die Diskussionen über die Frage: »Was und wie produzieren?«, über die Auswahl und die Methoden der Leitung, die Festlegung der Löhne und der Lohnunterschiede. So begann sich, ganz in Ansätzen, diese langaufgestaute Unzufriedenheit zu transformieren in den Aufbau einer demokratischen Ordnung von unten, aus der Gesellschaft heraus.

Jugoslawien mit seiner Arbeiterselbstverwaltung war in den voran gegangenen Monaten ebenfalls Gegenstand der öffentlichen Debatten gewesen, nicht nur unter Arbeitern. Selbst die ungarische Gewerkschaftsführung hatte sich im Sommer 1956 in Jugoslawien das »Rätemodell« angesehen und diskutierte das Für und Wider solcher Gremien. Viele Arbeiter stellten sich die Verhältnisse in Jugoslawien so vor, dass dort die Arbeiter die Kontrolle hätten über die Produktion, mitentscheiden würden in allen Fragen der betrieblichen Organisation: Arbeiterselbstverwaltung eben.

Der Kampf um die Freiheit war insofern vielschichtig: Es ging zunächst sehr wohl um eine nationale Selbstbestimmung, um ein »Raus aus dem Sowjetblock« und ein »Hinein in die Bewegung der Blockfreien« – wenige Wochen zuvor hatten die Österreicher den Ungarn dies vorgemacht. Es ging also!

Doch der viel tiefere Grund für das Verlangen nach Freiheit entstand aus den sozialen Zwangsverhältnissen selbst, in denen die Mehrheit der Bevölkerung in Ungarn alltäglich leben und arbeiten musste. Die Macht war konzentriert in den Händen des kommunistischen Partei- und Staatsapparats, die soziale Lage und Versorgung war, über zehn Jahre nach dem Krieg, immer noch sehr schlecht. Schauprozesse und brutalste Verhörpraktiken überzogen Ungarn noch zu Beginn der 50er Jahre. Gefordert wurden Pressefreiheit- und Meinungsfreiheit: Die Medien sollten ›von unten‹ kontrolliert werden, und nicht von oben durch die Partei. Übrigens: Während der Revolution gab es in fast allen Städten eigene, revolutionäre Rundfunkstationen! Die stalinistische Diktatur der Partei sollte abgelöst werden durch eine demokratische Kontrolle von unten, so verstanden sich die Revolutionskomitees in den Gemeinden, bei den Schriftstellern, Studenten, in den Ministerien oder in der Armee. Mit ihnen ebenso wie mit den Arbeiterräten in den Betrieben schien für kurze Wochen nicht nur eine Alternative zum Terror Stalins auf, sondern eine Ahnung von dem, was Volks-Selbstermächtigung und Arbeiter-Selbstverwaltung beinhalten und erreichen können.

Genau deshalb fehlt auch die Auseinandersetzung mit den Arbeiterräten und der sich neu organisierenden aufständischen Gesellschaft in der offiziellen aktuellen Erinnerungskultur. In Zeiten, in denen die Herrschenden an Legitimation verlieren, können sie schwerlich über damalige soziale Sehnsüchte reden, die bis heute nicht eingelöst sind. Das müssen wir schon selber tun: den Zusammenhang herstellen zwischen den damaligen Aufständen und zeitgenössischen gesellschaftskritischen Vorstellungen und Perspektiven.

Übrigens führten gerade die Aufstände in Ungarn und die Entstehung der Arbeiterräte zu einer Debatte in Italien und Frankreich – in Italien insbesondere im Umfeld Raniero Panzieris, des späteren Herausgebers der Quaderno Rossi, und in Frankreich innerhalb der Gruppe »socialisme et barbarie« – um die Frage der Arbeiterkontrolle gegenüber der Vorherrschaft des Partei- und Gewerkschaftsapparats in den Arbeiterbewegungen auch im Westen.

Renate Hürtgen und Willi Hajek sind Mitglieder des Arbeitskreises »Geschichte sozialer Bewegungen von unten Ost/West«

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9-10/06


Anmerkungen:

(1) Zsuzsanna Körösi/Adrienne Molnar: »Mit einem Geheimnis leben. Die Schicksale der Kinder der Verurteilten von 1956«, Herne 2005

(2) in: Lothar Ruehl: »Der Spiegel«, abgedruckt in: Melvin J. Larski: »Die ungarische Revolution. Die Geschichte des Oktoberaufstandes nach Dokumenten, Meldungen, Augenzeugenberichten und dem Echo der Weltöffentlichkeit«, Berlin 1958. Anna Kethly wurde als ehemalige Vorsitzende der ungarischen Sozialisten am 27. Oktober 1956 Mitglied der Nagy-Regierung, die nur wenige Tage amtierte.


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