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Updated: 18.12.2012 16:00 |
Paris/Frankreich: Kampf der Wohnungslosen. Hintergründe und erste Ergebnisse
Geschätzte 100.000 Obdachlose gibt es in Frankreich. Offiziell wurden bei der Volkszählung (von 2001) rund 86.000 gezählt, hinzu kommen, dürfte eine gewisse Dunkelziffer. Aber insgesamt verzeichnet das Land drei Millionen "schlecht Behauste" oder " mal logés" . Das sind Menschen, die in Wohnwagen und auf Campingplätzen leben (141.000), in möblierten Hotels - meist speziell für Immigranten - in überteuerten Zimmern ohne Komfort auf Dauer leben (583.000), bei Familienmitglieder oder Bekannten untergebracht sind (150.000) oder aber in hoffnungslos überbelegten oder keinen modernen Hygiene- und Sicherheitsstandards gehorchenden Wohnungen hausen. Letztere machen, mit über 68 Prozent, den größten Anteil an den " mal logés" aus. Rund 300 von ihnen campieren seit dem 16. Dezember 2006 in Paris entlang des Canal de Saint-Martin, der Wasserstraße, die den Nordosten der Hauptstadt durchzieht. Im Vorwahlkampf um die französische Präsidentschaft haben sie damit erhebliche Aufmerksamkeit erregt, zwischen Weihnachten und Neujahr sowie in den ersten Januartagen sorgten sie für "das" Medienthema Nummer Eins in Frankreich. Eine kleine Reportage Paris, an einem Abend der vergangenen Woche. Ein wenig beißender Rauch steigt aus einer kleinen Tonne auf, drum herum stehen drei oder vier Zelte, hinter einer Brücke sind weitere zu erahnen. Am Ufer des Kanals, der quer durch den Pariser Osten führt, sind einige Kleidungsstücke zum Trocken aufgehängt. Unter seinem Zeltdach ist ein Mann dabei, sich eine Konservendose aufzuwärmen. "Hallo", frage ich, "bin ich hier richtig bei den Leuten, wo man freiwillig eine Nacht in einem Obdachlosenzelt schlafen kann, wegen der Solidarität?" Nein, bin ich nicht: "Ah, sie meinen die Initiative der Kinder von Don Quichotte? Die waren am Anfang tatsächlich hier, sind aber jetzt mit ihren Zelten einen halben Kilometer weiter stadteinwärts gezogen, weil wir zuerst an diesem Ort waren. Ich, ich bin nicht für die Medienpropaganda hier. Ich lebe wirklich hier." Und was denkt er über die Initiative? "Ich denke nichts. Weder gut noch schlecht." Dennoch bleibt der vielleicht Vierzigjährige freundlich und respektvoll, gibt mir aber zu verstehen, dass ich in dem Zelt in seine Privatsphäre eingedrungen bin. Seiner Beschreibung folgend, versuche ich es zwei Brücken weiter an einem anderen Zelt. "Halts Maul!" erhalte ich zur Antwort. Im hinteren Teil des Zelts scheint ein Mann zu liegen. Ein paar Meter weiter sitzt eine Frau auf einer Matratze. "Noch weiter stadteinwärts", meint sie. Die Initiative findet sie nicht gut: "Die bekommen doch bestimmt einen Haufen Geld für ihre Aktion! Und wir, die Obdachlosen, wir kriegen von dem ganzen Geld nichts ab! Also, was soll das bringen." Aus dem benachbarten Zelt tönt es nun wiederholt, laut und nicht gut aufgelegt klingend: "Halts Maul! Halts Maul! Halts Maul!" Also ziehe ich es vor, noch ein Stück weiter anzufragen. Dieses Mal bin ich richtig. Eine kleine Zeltstadt aus mindestens 200 rosa-schwarzen Sportzelten ist dem Canal Saint-Martin entlang aufgebaut, unweit der Stelle, wo der innerstädtische Kanal unter dem Boden versinkt und unterirdisch bis zur Seine weitergeführt wird. Inmitten eines Straßenzugs mit angesagten Kneipen und Bürohäusern, in einem innerstädtischen Viertel. Ich frage nach einer Zeltunterkunft, um mich für eine Nacht einzuquartieren. Ganz im Sinne der Aufforderung, die die "Initiative der Kinder des Don Quichotte" acht Tage vor Weihnachten öffentlich an die "Leute mit einem Dach über dem Kopf" ( bien logés , wörtlich: "gut behausten") lanciert hatte: Kommt her und seht selbst, wie es sich als Obdachloser - auf Zeit - lebt! Tatsächlich haben einige, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie der Schauspieler Jean Rochefort ebenso wie Privatleute, dem Aufruf bereits Folge geleistet. In den abendlichen Fernsehnachrichten war sogar eine 70jährige Dame zu sehen, die freiwillig eine Nacht im Zelt verbrachte. (Was gar nicht so leicht ist: Der Autoverkehr bis spät in die Nacht hinein, die Schritte der Passanten ab dem frühen Morgen...) Man verweist mich an einige Verantwortliche. Barthez ist gerade dabei, vor dem Anbruch der Nacht aus einem großen Topf Suppe auszuschenken. Ja klar, ein Zelt müsse noch zu haben sein. Unterdessen nutze ich die Gelegenheit, um mit einigen der Bewohner der Zeltstadt ins Gespräch zu kommen. Weshalb sind sie wohnungslos, warum haben sie sich hier einquartiert? Hakim und Rachid (Vornamen von der Redaktion geändert) sitzen in einer Kneipe, die seit einigen Tagen zum "Hauptquartier" der Initiative geworden ist, und bestellen sich gerade ein Bierchen. Die beiden dürften irgendwo zwischen 40 und 50 Jahre alt sein. Der eine stammt aus Tunesien, der andere aus Marokko. Beide sind seit über 17 Jahren in Frankreich, wo ältere Geschwister oder Verwandte in früheren Jahrzehnten als Arbeitskräfte für die Industrie rekrutiert worden waren. Die beiden Jüngeren kam nach, aber damals gab es schon keine Arbeit mehr. Ihnen wurde auch keine "legale" Einwanderung angeboten. Aber mangels Perspektiven im Herkunftsland blieben sie dennoch. Seit 17 Jahren ohne Aufenthaltstitel. Warum das, frage ich? Bis im vorigen Jahr bot das Gesetz doch die Möglichkeit, bei nachgewiesenem - auch "illegalem" zehnjährigem Aufenthalt seinen Status zu legalisieren. Innenminister Nicolas Sarkozy hat dieses Recht allerdings im vorigen Sommer wieder abgeschafft. "Na ja", meint Hakim, "versucht haben wir es ja. Aber bei den Behörden oder vor Gericht musst Du beweisen, dass Du wirklich seit zehn Jahren ununterbrochen da bist. Und wenn man illegal lebt, hat man nicht unbedingt die Dokumente, die den Nachweis dafür erbringen. Unsere jedenfalls haben sie nicht gewertet." Also leben beide von Erntearbeiten - wie im letzten Herbst bei der Weinernte in Burgund - und Gelegenheitsverdiensten. Eine Wohnung können sie damit nicht bekommen. "Vorher lebten wir in einem Wohnwagen in der Pariser Vorstadt Bobigny, auch an einem Kanal", erzählt Rachid, "auch im harten Winter 1998. Damals sind 140 Obdachlose erfroren." Wo sie später hingehen werden, wissen sie noch nicht. Rachid schwört auf den Koran, "weil der Glaube der einzige Trost ist", dann bestellt er noch ein Bier. Rafaël bringt mich zum Verantwortlichen für die Zelte. Er ist ein junger Mann, Anfang 20, und kommt eigentlich aus La Rochelle in Westfrankreich. Wie er hierher kam? "Seit 14 Tagen bin ich auf der Straße. Vorher wohnte ich bei meiner Freundin. Ich selbst lebe von Zeitarbeit, da brauchst Du mit Deinen Lohnzetteln gar nicht erst eine Wohnung zu suchen. Dann hat die Freundin mich vor die Tür geschmissen. Aber da war ich auf der Straße." Nachdem er in den Medien von der Aktion in Paris gehört hatte, wollte er mitmachen. Die Zukunft? Eine neue Freundin suchen, um sich bei ihr einzuquartieren. Rafael hat da eine heiße Spur, der er demnächst nach Marseille folgen wird. Auch viele ältere Obdachlose in der Zeltstadt sind, ähnlich wie er, nach einer Trennung oder Ehescheidung auf der Straße gelandet: Entweder konnten sie nach danach allein ihre Miete (oder ihren Kredit, zum Abzahlen des Wohnungskaufs) nicht mehr aufbringen und wurden aus ihrer Wohnung gekündigt, oder sie fielen in eine vorübergehende Depression und verloren Job und Absicherung. Nicht alle klingen so optimistisch für die nähere Zukunft wie Rafaël. Neben diesem Publikum, das die große Mehrheit unter den Anwesenden ausmachen dürfte, gibt es noch ein paar junge Punker mit Hunden. Die Zeltstadt ist gut organisiert. Es gibt einen selbstorganisierten Sicherheitsdienst, der Tag und Nacht Wache schiebt - damit es nicht zu Überfällen oder Diebstählen kommt. Augustin Legrand, einer der Initiatoren der Aktion, dessen Gesicht inzwischen halb Frankreich aus den Medien kennt, erzählt, wie er seit Oktober selbst das Leben aus der Straße ausprobierte, als Erfahrung. Er erzählt von Fußtritten von Passanten und der Angst, irgendwann nachts im Schlaf angegriffen zu werden, nicht mehr aufzuwachen. Der Ordnerdienst, der mit Funkgeräten ausgestattet ist, greift aber auch ein, um einzelne Obdachlose vom Platz zu weisen, die betrunken sind oder unter Drogeneinfluss stehen und dabei aggressiv wurden. Zwei mal bekomme ich solche Szenen mit. Aufgrund eines solchen Konflikts musste die Zeltstadt auch von ihrem ursprünglichen Platz, wo sie acht Tage vor Weihnachten zuerst aufgestellt worden war, einen halben Kilometer weiter am Kanal entlang wandern. Die Initiatoren der Aktion, die Brüder Legrand (Augustin und Jean-Baptiste), leben nicht aus materieller Not in einem Zelt. sind selbst ursprünglich keine Obdachlosen. Augustin, 31 Jahre und zwei Meter groß- der als Erster die Ideen zu der öffentlichen Übernachtungsaktion mitten in Paris hatte -, hat als Schauspieler in einigen Kinofilmen mitgewirkt und Dokumentarfilme gedreht. So wurde er auf die Lage der SDF (Sans domicile fixe, "ohne festen Wohnsitz") aufmerksam, wie man die modernen Obdachlosen nennt - in Abgrenzung zu den historischen "Clochards" früherer Epochen. Letztere hatten ich zum Teil selbst zu einem Leben unter den Brücken und für einen gewissen Daseinsstil entschieden, um den Zwängen einer bürgerlichen Existenz zu entfliehen. Ihre Situation wurde oft romantisiert. Die der SDF, die Frankreich seit 30 Jahren kennt, wird dagegen weder von ihnen selbst noch von Außenstehenden auch nur eine Minute als rosig empfunden. Es ist "la galère", wie man im Französischen mit einem treffenden Sprachbild eine soziale Zwangslage benennt. Arbeiten... und trotzdem obdachlos sein (oder: Das Problem der ,Working Poor' und der Wohnungsmarkt) Die Mehrheit unter ihnen würde sicherlich gern ein anderes Leben führen. Circa 25 Prozent der heutigen Obdachlosen arbeiten regelmäßig, allerdings mehrheitlich in sog. atypischen Beschäftigungsverhältnissen wie in befristeten Verträgen oder Zeitarbeit. Aber 7 bis 8 Prozent haben sogar unbefristete Arbeitsverhältnisse. Doch sie können die immer härter werdenden Auflagen der Hauseigentümer und Maklerfirmen nicht erfüllen, die immer weitergehende Garantien fordern. Vom Gesetz her sollte ein Mieter nach Möglichkeit das Dreifache seiner Monatsmiete verdienen, in der Praxis wird oft mindest das Vierfache verlangt. Oder aber die Person muss einen Bürgen mitbringen, der seinerseits mit seinem Einkommen oder Besitz garantiert, dass die Miete nicht unbezahlt bleibt. Der Bürge muss dann aber seine gesamten Lebensverhältnisse penibel offenlegen, da Makler und Hauseigentümer sicher sein wollen, dass er nicht irgendwo anders Unterhaltspflichten für Partner oder Kinder hat, so dass sein Einkommen nicht pfändbar wäre. Das mögen natürlich viele Leute nicht gern, weshalb sie sich mit Bürgschaften für Freunde und Bekannte zurückhalten. Wer keine wohlhabenden Eltern und/oder einen festen und unbefristeten Arbeitsvertrag hat, dessen Chancen sind auf dem Wohnungsmarkt äußerst dürftig. Das bedeutet im gesamten Pariser Stadtgebiet, dass eine Person allein ein Einkommen oberhalb von 2.000 Euro haben müsste - denn unterhalb von 500 bis 550 Euro ist auch keine Einzimmerwohnung zu finden. (Ausnahmen sind allein die so genannten "chambres de bonne", also ehemalige Dienstmädchenzimmer von 6 oder 8 Quadratmetern Größe. Diese sind auch billiger zu haben, wenn man drankommt -- aber ermöglichen kein autonomes Wohnen. Denn darin gibt es natürlich keine Küche, und oft nicht einmal ein eigenes Badezimmer. Manche Studierende lassen sich auf diese Weise bei älteren Leuten unterbringen, bei Bekannten der Familie oder im Austausch gegen einfache Pflege- oder Einkaufs-Dienstleistungen. Eine Lösung für die allgemeine Wohnungsnot ist das natürlich nicht.) Und selbst in der "nahen Banlieue", also dort in den Trabantenstädten, wo man noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinkommt, haben sich die Preise annähernd an Pariser Niveau angenähert und sind heute allenfalls 40 bis 50 Euro günstiger - sofern überhaupt. - Studierende und Arbeitslose erhalten Wohngeld, wobei die Bedingungen dabei für StudentInnen und WG-Bewohner/innen im Jahr 2005 verschärft worden sind, so dass unter dem Strich erheblich weniger dabei ,rumspringt. Wer vorher durchschnittlich rund 150 Euro im Monat erhielt, kann jetzt nur noch circa 100 Euro bekommen. Und wehe, wenn das Studium dann mal fertig ist... Vor circa zwei Jahren stellte sich übrigens bei einer Erhebung der Stadt Paris heraus, dass 40 ihrer eigenen städtischen Angestellten und Beamten selbst obdachlos waren - sie konnten die drakonischen Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt nicht erfüllen, und waren mal hier und mal dort bei Bekannten untergebracht und zwischendurch auf der Straße. Diesem Phänomen versuchte die Stadt in der Folgezeit durch bevorzugte Zuteilung einiger ihrer Sozialwohnungen Herr zu werden. Aber das senkt die Wohnungsnot in Paris ansonsten natürlich überhaupt nicht. Erst weit außerhalb der Hauptstadt, in der "großen Banlieue", beginnen die Preise zu sinken - selbst in den Trabantenstädten sind dort, wo die öffentlichen Verkehrsmittel noch hinkommen, inzwischen die Preise annähernd auf Pariser Niveau geklettert. Die Immobilienpreise in Frankreich, beim Kauf, haben sich seit 1997 verdoppelt. Eine Zwei-Zimmer-Wohnung kostet ungefähr so viel wie in vielen Regionen Deutschlands ein Hauskauf, Kaufpreise 5.000 Euro pro Quadratmeter auch in schlecht situierten Gebäuden und randständigen Lagen in Paris (Stadtgebiet) sind eher die Regel. (Der Autor spricht aus eigener Erfahrung, da ihm jüngst seine kleine Wohnung zwangsweise zu diesem Preis angeboten wurde - mit der Alternative: Kaufen oder Rausfliegen. Es kam Zweiteres dabei heraus...) Bei den Mieten versuchen die Eigentümer, diese Preisentwicklung nachzuvollziehen und sich gleichzeitig zunehmend von Mietern zu trennen, da Verkaufen mittlerweile als noch lukrativer gilt. Gesetzlich ist es den Vermietern im Prinzip erlaubt, die Miete bis zu 10 Prozent im Jahr zu erhöhen, sofern sie unter dem Marktwert lieg - und auch ansonsten jährlich die durchschnittliche Erhöhung der Baukosten auf die Mietpreise draufzuschlagen. Und solange eher Luxuswohnungen errichtet werden, senkt das die Baupreise nicht gerade ab... Ursachen für die horrenden Preise Verantwortlich für die Preisexplosion sind vor allem drei Faktoren. Erstens wurden zahlreiche Gelder von Franzosen, die wohlhabend sind oder aber durch Wertspekulationen ihre private Alterabsicherung aufbauen wollen, nachdem sie bis zu Anfang dieses Jahrzehnts an der Börse angelegt waren, seit dem Platzen der New Ecomony-Blase in den Jahren 2000/01 von dort zurückgezogen. Aus Angst vor Kursverlust und damit dem eigenen finanziellen Absturz werden diese Gelder stattdessen zunehmend in Immobilien investiert, da diese Anlage als sicher gilt. Der stetige Finanzzufluss hat aber die Preise in die Höhe getrieben. Zum Zweiten hat sich der Immobilienmarkt in den letzten Jahren zunehmend internationalisiert, was ihn zusätzlich unter Preisdruck setzt. Vor allem die US-amerikanischen Pensionsfonds, die - sich von der Existenzangst jener Rentner, deren Versorgung von ihnen abhängt, nährend - ein extrem aggressives Investionsverhalten an den Tag legen, sind im französischen Immobiliengeschäft eingestiegen. Zu Hause in den USA versuchen inzwischen viele Großstädte, ihrem sozial verheerenden Treiben wesentlich engere Grenzen zu setzen, deshalb exportieren diese Fonds oft ihre Spekulationsgeschäfte. Seit einem Jahrzehnt möchte auch die französische Rechte im eigenen Land die Gründung solcher privater Rentenfonds durchsetzen, konnte sich aber bislang aufgrund massiver sozialer Widerstände noch nicht mit diesem Vorhaben durchsetzen. Zum Dritten gibt es schlicht und einfach zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Nicht, dass nicht mehr gebaut würde, im Jahr 2005 war sogar ein gewisser Bauboom zu verzeichnen: 410.000 neue Wohneinheiten. Aber 85 Prozent der neu errichteten Wohnungen und Häuser können sich Angehörige des obersten Viertels der Einkommenspyramide leisten, deren untere drei Viertel weitgehend leer ausgehen. Seit dem Regierungsantritt der UMP im Jahr 2002 wurde der soziale Wohnungsbau erheblich zurückgefahren. Stattdessen erhalten private Baufirmen staatliche Zuschüsse dafür, dass sie neuen Wohnraum errichten - aber ohne jegliche soziale Auflage, also ohne darauf zu achten, für wen die neu errichteten Bauten erschwinglich sind. Bevorzugt werden deshalb Erst- und Zweitwohungen für Reiche draußen im Grünen. Die Landschaft wird dabei zersiedelt, ohne dass der realen Wohnungsnot die geringste Abhilfe geschaffen würde. Innerhalb der Ballungsgebiete beruft sich die Regierung zudem immer öfter auf die notwendige "soziale Durchmischung", um den weiteren Zuzug von armen oder gering verdienenden Familien in Gebiete mit hohem Anteil an Sozialwohnungen zu beschränken - ansonsten drohe man "Ghettobildung" zu fördern. Daher versucht man zunehmend auch Mittelschichten, die vor dem enormen Preisdruck in den Innenstädten fliehen, in den Vorstädten anzusiedeln und deren Image dadurch aufzubessen. Unter dem Strich findet also ein Abdrängen der unteren sozialen Klassen in immer weiter außen an den Rändern der Ballungsräume liegende, suburbane Zonen ab. Was die Konservativen nunmehr für Geringverdienende im Angebot führen, ist der Zugang zu Eigentumswohnungen - das Privateigentum an Wohnraum soll gegenüber sozialem Wohnungsbau und Mieterwesen begünstigt werden - für rund 100.000 Euro in noch zu gründenden "neuen Städten". Im Raum Paris werden diese über 30 Kilometer außerhalb des Zentrums liegen, wo die Nachteile der Großstadt - Flächenfraß und Verschmutzung - wunderbar mit den Ödnissen des Landlebens kombiniert sein werden. Ergebnisse der Proteste Was hat nun die Aktion der Zeltenden in Paris, die in den letzten Wochen zum innenpolitischen Medienthema Nummer Eins avanciert ist, gebracht? Immerhin dies: Alle größeren Kandidaten zur Präsidentschaftswahl (vom 22. April und 06. Mai) prügeln sich fast darum, Vorschläge zu machen und die "Charta vom Canal Saint-Martin" genannte Erklärung der Zeltenden zu unterstützen. Präsident Jacques Chirac in seiner Neujahrsansprache und sein Premierminister Dominique de Villepin haben die wichtigste Forderung aus der Erklärung verbal aufgegriffen: Das "Recht auf eine Wohnung", das seit der Verfassung der Vierten Republik von 1946 - damals regierte eine antifaschistische Koalition unter Einschluss der Kommunisten - in Frankreich Verfassungsrang hat, soll endlich zum "einklagbaren Recht" werden. Das bedeutet, dass das Recht auf Wohnraum nicht mehr nur einen hehren Programmsatz bilden wird - sondern dass eine Person, die unter vernünftigen Bedingungen keine Wohnung finden kann, tatsächlich den Staat wegen mangelnder Vorsorge oder Wohnungsbaupolitik anklagen und zu Schadensersatz verurteilen lassen kann. Diese Forderung, die von sozialen Initiativen seit langen Jahren aufgestellt wird, findet nun plötzlich in breiten Kreisen Rückhalt. Allein die beiden Rechtsaußenpolitiker Jean-Marie Le Pen und Philippe de Villiers haben sich davon klar distanziert. Ihnen zufolge bildet ein solches einklagbares Recht "eine klare Verletzung des Privateigentums" (Le Pen). Die Ursache für die Wohnungsnot, so ergänzte Philippe de Villiers, sei "in der Masseneinwanderung" zu suchen. Das rechte Wochenmagazin ,Valeurs actuelles' stießin dasselbe Horn. (VGL. KASTEN)
Noch ist nicht genau klar, wie ein solches Recht ausgestaltet werden wird. Der konservative Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy hatte zwar bereits Anfang Dezember, vor dem Beginn der Pariser Aktion, von einem Recht auf Wohnen gesprochen. Damals fing er gerade an, zu versuchen, sein Image als neolibaler Kampfkandidat zugunsten eines stärker sozial geprägten Images einzutauschen. Aber Sarkozy fügte sofort hinzu, ein Recht auf eine eigene Wohnung gebe es ihm zufolge nur für diejenigen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen. Alle anderen sollen nur ein "Recht auf Beherbergung" haben, also nicht auf selbst gestalteten Wohnraum, sondern eine Unterbringung in einer Sammelunterkunft. Solche gibt es bereits heute, aber sie bieten nicht ausreichend Plätze für alle Wohnungslosen. Ferner sind sie erst ab 19 Uhr abends geöffnet und müssen am frühen Morgen vor 8 Uhr verlassen werden. Zudem gelten oft drakonische "Gemeinschaftsregeln", und Obdachlose, die psychisch kaputt und beispielsweise alkoholabhängig sind, geraten mit ihnen notwendig in Konflikt. Die Regierung hat jetzt eine Ausdehnung der Öffnungszeiten auf 17 Uhr bis 9 Uhr vormittags angekündigt. Die Initiatoren der Pariser Aktion fordern hingegen als Notmaßnahme ihre Öffnung rund um die Uhr sowie eine soziale Betreuung für Obdachlose mit psychischen Problemen, die oftmals durch das Leben auf der Straße ausgelöst wurden. Längerfristig aber fordert die Initiative eindeutig eigenen Wohnraum für alle, die derzeit kein festes Dach über dem Kopf haben - für jene, denen dies besser bekommt, auch in Wohngruppen und anderen "den Bedürfnissen angepassten Wohnformen". Ob die Regierung dahin gehen möchte oder aber nur an eine Ausdehnung der Unterbringung in Sammelunterkünften dient, ist noch nicht genau ausgemacht. Fest steht, dass die Regierung sich aber bereits festgelegt hat, dass das Recht auf Wohnraum nicht an einem selbstgewählten Wohnort, sondern nur auf den Ballungsraum bezogen gelten gemacht werden könne - und, so fügte Regierungschef de Villepin im Hinblick auf die Hauptstadt explizit hinzu, in Paris nur für die Großregion Ile-de-France. Dies schlösse eine Unterbringung in Fertighäusern am äußersten Rand des Ballungsraums, wie Sozial- und Wohnungsbauminister Jean-Louis Borloo sie im vergangenen Frühsommer indirekt angeregt hat, mit ein. Bald wird man klarer sehen, wie ernst es der Regierung ist: Da die Legislaturperiode im Februar zu Ende geht, hat die Mannschaft von Chirac und de Villepin jetzt angekündigt, schon in den kommenden 14 Tagen einen Gesetzentwurf dazu vorzulegen. Dieser ist nun für den 17. Januar angekündigt. Damit könnte er (im Prinzip) noch in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden. Damit geht es den beiden Männern, deren jeweilige politische Karriere wohl in diesem Frühjahr zu Ende sein dürfte, wohl auch darum, ihrem Nachfolger an der Staatsspitze ein unerwünschtes "Geschenk" zu machen - und selbst wenigstens noch mit einer Aktion positiv in die Geschichte einzugehen. Bis dahin hat die Regierung am Montag dieser Woche einstweilige (Not-)Maßnahmen angekündigt. 27.100 neue Plätze in (Sammel-)Unterkünften sollen für Obdachlose eingerichtet werden. Nunmehr sollen auch ihre Öffnungszeiten ausgedehnt werden. Und in einem "Modellversuch" sollen auch von einem Hund begleitete Obdachlose eine Aufnahme finden können, ohne sich von ihrem Tier trennen zu müssen. Die "Kinder des Don Quichotte" wurden daraufhin am Montag und Dienstag in der Presse mit den Worten zitiert, nunmehr würden sie ihre Zeltlager im öffentlichen Raum aufheben, da die Politik auf ihr Ansinnen reagiert habe. Am Mittwoch hieß es dann aber von ihrer Seite, sie würden mit dem Abbau der kleinen Zeltstadt am Pariser Canal Saint-Martin noch warten, um zu sehen, wie und inwiefern die Ankündigungen der Regierung zu greifen beginnen. Aufgehoben wurden oder werden derzeit unterdessen die Mini-Zeltstädte in anderen französischen Großstädten (Lille, Lyon, Tours, Toulouse, Nizza..), die sich in Nachahmung der Pariser Aktion gebildet hatten. Ihre Dauer war aber ohnehin in den meisten Fällen von vornherein auf eine Woche angesetzt worden. Und die Sozis? Die sozialdemokratische Opposition ihrerseits hatte das Thema bis Ende der vorigen Woche verschlafen. In ihrem Wahlprogramm stehen nur Allgemeinplätze zum Thema Wohnraum, darunter jener, dass der Wirtschafts- und Sozialrat - in dem Vertreter von Arbeitgebern und Gewerkschaften sitzen - eine Studie zum Recht auf Wohnraum durchführen möge. Volltreffer: Eine solche Studie existiert bereits seit 2004. Die Peinlichkeit enthüllte am Donnerstag vormittag die (den Sozialdemokraten sehr nahe stehende) linksliberale Pariser Tageszeitung ,Libération'. Die rechtssozialdemokratische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal weigerte sich darüberhinaus in einer ersten Reaktion, das "einklagbare Recht" auf Wohnraum ihrerseits auf ihre Fahnen zu schreiben: Dies sei "Demagogie". Kurz darauf aber sind die Sozialdemokraten nun doch aufgewacht. Eilig legten sie eigene Vorschläge zur Sache vor, die sich von denen der Konservativen abheben sollen. Die Pariser Abendzeitung ,Le Monde' (die verdeckt, aber eindeutige Unterstützung für Ségolène Royal betreibt) konnte einen halben Tag nach der Kritik ihrer Konkurretin ,Libération' auf ihrer Titelseite vermelden, die Sozis hätten nun neue, ganz tolle Vorschläge im Angebot... Neben Allgemeinplätzen gehört dazu auch der relativ interessante Vorschlag, die öffentliche Hand solle als Bürgen für jene Mietkandidaten einspringen müssen, der Wohnungssuche an der Suche nach einem wohlhabenden Garanten scheitert. (Einen ähnlichen Mechanismus hat bereits die regierende bürgerliche Rechte im Juli 2006 verabschiedet, und er ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten. Diese Ausfallversicherung durch die öffentliche Hand tritt aber nur dann in Aktion, wenn in einem bestehenden Mietverhältnis aufgrund arbeitsbedingter, finanzieller Engpässe Mieten nicht bezahlt werden können. Der oder die Betreffende muss dann später dem Staat des Vorgestreckte zurückzahlen. Aber der Mechanismus greift absolut nicht, um das Problem der Mietkautionen und Bürgschaften - vor dem Eintritt in das Mietverhältnis - zu lösen. Diesem Problem soll nun der von Royal vorgeschlagene "öffentliche Dienst für Kautionen" Abhilfe verschaffen. Die Idee ist zumindest interessant.) Schlussbetrachtung Die französische Gesellschaft hat, im Zuge der jüngsten Auseinandersetzung, ihren Blick auf das Obdachlosenproblem verändert. In der Vergangenheit galt diese Problematik noch als Thema für politische Demagogie (im Sinne eines Eintretens für humanitäre Mildtätigkeit), die für die Mehrheit der Gesellschaft insofern folgenlose bleibe, als diese nicht direkt tangiert schien. Im Februar 2002 hatte Frankreichs damaliger Premierminister und Präsidentschaftskandidat Lionel Jospin (Sozialdemokrat) noch den Slogan "Keinen Obdachlosen mehr bis 2007" als wichtigstes Wahlkampfversprechen in sein Programm aufnehmen wollen. (Vgl. dazu im Labournet von damals: http://www.labournet.de/internationales/fr/wahlwirren.html ) Der Empfang für dieses Versprechen fiel ausgesprochen kühl aus. Einerseits erschien Jospins Ankündigung als demagogisch, da er nicht näher auswies, mit welchen Mitteln und aufgrund welcher Maßnahmen er dieses Ziel zu erreichen oder ihm näher zu kommen gedenke. Zum Anderen aber fiel auch aus anderen Gründen die Reaktion eher negativ aus: Eine vermeintlich nur "humanitäre" Ankündigung für die völlig aus dem sozialen Leben "Ausgeschlossenen" - das brachte eher die im Arbeitsleben Stehenden, die sich zunehmend selbst unter Druck geraten fühlten (verstärkte Arbeitsintensivität, Flexibilisierungsdruck und Hetze, Angst vor dem Morgen im Rahmen von "atypischen" Beschäftigungsverhältnissen) gegen Jospin auf. Denn einmal mehr schien die "soziale Frage" nur als eine Frage der ,exclusion' (Ausschluss), also der völlig aus dem sozialen Gefüge Herausgefallenen, aufgeworfen und durchbuchstabiert zu werden. Die Ausbeutung und die sich radikalisierende Ungleichheit innerhalb dieses sozialen Gefüges schienen dabei umso mehr ausgeblendet und an den Rand gedrängt zu werden. Deshalb auch wählten, unter anderem vor diesem Hintergrund, so manche abhängig Beschäftigten am Schluss Jean-Marie Le Pen statt Lionel Jospin (verknüpft mit der Beschwerde "Wir zahlen nur, und zählen nichts, als ob wir reich und nicht selbst arm wären"). Heute läuft die Diskussion völlig anders. Dies hängt wohl damit zusammen, dass (u.a. aufgrund der "Working Poor"-Diskussion) auch die im Arbeitsleben und im Ausbeutungsprozess Stehenden selbst sioch von der Wohnungslosen- und Obdachlosen-Problematik angesprochen fühlen. Die rapide ansteigenden Mietkosten und Ansprüche der Eigentümer (Bürgschaften etc. piepapo) haben den Druck auf die so genannten "einfachen" Haushalte so spürbar erhöht, dass man sich auch dort nun plötzlich vorstellen kann, dass man selbst eines Tages die eigene Wohnung verlieren könnte. Es genügt schließlich, einen kleinen "Unfall" im Leben zu haben (plötzliche Arbeitsunfähigkeit, Trennung und Auflösung einer Beziehung), um fast von einem Tag auf der anderen sein teures Dach über dem Kopf sich nicht mehr leisten zu können. Am 07. Dezember 2006 erschien eine Umfrage, derzufolge 48 Prozent der Französinnen und Franzosen sich (zumindest) "vorstellen können, selbst obdachlos zu werden". (!) Das ist der Stoff, aus dem der Erfolg des Themas erwuchs. Die politische Klasse ist aufgrund des gewaltigen Medienechos, das die Pariser Zeltstadt erzielt hat, in Hektik verfallen. Immerhin scheint dies zu ersten positiven Maßnahmen zu führen. Die weiteren Folgen bleiben unterdessen abzuwarten. Augustin Legrand sieht seine Mission als erfüllt an. Er habe genug vom Medienrummel, meint er, und flog am vorigen Samstag zu Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm nach Südafrika. Einladungen in Fernsehstudios oder das Ansinnen eines Senders, ihn ihm Flugzeug zu begleiten, lehnte er ab: Ihm gehe es nicht um Publicity. Die Frage ist nun, welches Ende die Aktion jener Obdachlosen nehmen wird, die mit ihm und seinen Brüdern zusammen in Paris zelten. Optimisten meinen, es könne ausgehen wie im Sommer, als einige Dutzend Obdachlose an der Seine übernachteten - in Zelten, die ihnen die humanitäre Hilfsorganisation "Ärzte der Welt" zur Verfügung gestellt hatten. Damals drohte der Anblick der Zelte, die Operation "Paris Plage" - das sommerliche Aufschütten eines künstlichen Sandstrands mitten in Paris - an der Seine zu stören. Um den Touristen keinen Schandfleck zu bieten, fand die öffentliche Hand für die Betreffenden eilends 105 Wohnungen. Zu hoffen ist, dass es den Obdachlosen vom Canal Saint-Martin ähnlich ergehen wird. Eine polizeiliche Räumung scheint dagegen nicht zu drohen: Dafür ist ihre Aktion inzwischen in zu breiten Kreisen bekannt. In anderen Fällen ist die Staatsmacht dabei nicht so zimperlich. Mitte Dezember hatte der Polizeigewerkschafter Erik Bondin die Beschwerde einiger Beamtenkollegen aus dem Pariser Süden vorgetragen: Sie wollten nicht länger die Anordnungen ausführen zu müssen, Obdachlose zu verjagen und ihre wenigen Gegengestände auf den Hausmüll zu werfen. "In den Augen der Öffentlichkeit stehen sie wie Barbaren dar, die gegen die sozial Schwächsten vorgehen und sie zu noch inhumaneren Lebensbedingungen zwingen", fasste Bondin die Sorgen seiner Kollegen zusammen. Bernard Schmid, Paris, 11.01.2007 Eine deutlich gekürzte Fassung des Artikels erschien am 10.01.2007 unter dem Titel "Feierabend im Zelt" in der Berliner Wochenzeitung Jungle World |