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Updated: 18.12.2012 15:51
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Der "Rentenreformer" - und der Skandal...

"Die Woerth-Affäre bietet einen tiefen Einblick in den Korruptionssumpf, der sich zwischen den obersten Etagen der französischen Bourgeoisie und der konservativ-wirtschaftsliberalen Regierungspartei Sarkozys (UMP) erstreckt. Die Milliardärin Liliane Bettencourt, Erbin des Konzerngründers von L'Oréal, Tochter und Witwe aktiver Nazikollaborateure, schmierte bürgerliche Politiker mit dicken Geldscheinbündeln "in braunen DIN A 5-Umschlägen". Das Personal packt jetzt aus..." so beginnt der aktuelle Artikel "Die Leiden des alten W." von Bernard Schmid vom 16. Juli 2010.  

Teil 2: Frankreichs Regierungs-Rechte und Super-Reiche: Korrupt bis zum Anschlag * (* Aber wann findet der Anschlag denn nun endlich statt ?)

"Zweiter Teil unseres Polit- & Kapital-Krimis um Eric Woerth, Liliane Bettencourt und Nicolas Sarkozy, bei dem wir für Sie (Liebe Leser/innen) die Puzzelteile mühevoll zusammensuchten." Artikel von Bernard Schmid, Paris, vom 10.08.2010

Die leiden des alten W.

Die Woerth-Affäre bietet einen tiefen Einblick in den Korruptionssumpf, der sich zwischen den obersten Etagen der französischen Bourgeoisie und der konservativ-wirtschaftsliberalen Regierungspartei Sarkozys (UMP) erstreckt. Die Milliardärin Liliane Bettencourt, Erbin des Konzerngründers von L'Oréal, Tochter und Witwe aktiver Nazikollaborateure, schmierte bürgerliche Politiker mit dicken Geldscheinbündeln "in braunen DIN A 5-Umschlägen". Das Personal packt jetzt aus...

Die geplante Renten"reform", für die just der (noch?) amtierende Arbeits- & Sozialminister Eric Woerth zuständig ist, dürfte nunmehr erheblich schwerer durchsetzbar werden. Die Glaubwürdigkeit des mehrfach der Korruption überführten Ministers ist dahin. Dennoch, oder gerade deswegen?, hält Präsident Nicolas Sarkozy eisern an seinem Minister fest: Jetzt nur nicht nachgeben! - Am Dienstag dieser Woche (13. Juli) präsentierte Letzterer nun den Entwurf für das Renten-"Reform"gesetz auf der Kabinettssitzung. Der Gesetzentwurf wurde durch den Ministerrat angenommen und wird nun ab dem Dienstag, 07. September 10 im Parlament debattiert werden - Fortsetzung folgt garantiert

Die Sendung mit der Ratte: Sarkozy hält TV-Show ab und wittert "Anti-Reform-Komplott"

Der Präsident wittert eine Verschwörung: "Nicolas Sarkozy gibt einem Komplott gegen die Reformen die Verantwortung", fasste die Agentur Reuters am späten Montag Abend (12. Juli) zusammen. Sein Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth steht im Zentrum eines mutma?lichen Korruptionsskandals und wird der Beihilfe zur Steuerhinterziehung in dreistelliger Millionenhöhe verdächtigt? Alles nur ein Manöver finsterer Kräfte, um die Renten"reform" zu verhindern oder blockieren. Originalton Sarkozy: "Wenn Sie Reformen in Angriff nehmen, dann rühren Sie an Interessen, rühren Sie an Besitzstände, dann stören Sie eine bestimmte Zahl von Leuten. Und die Antwort besteht oft in Verleumdung." Es sei "kein Zufall", dass "genau in der Minute, wo Eric Woerth die Rentenreform vorlegt, eine bestimmte Zahl von Leuten ihn aufhalten wollen."

Um auch ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass sein einstündiger Fernsehauftritt vom Abend des 12. Juli (ab 20.15 im zweiten Kanal) mit "der" Affäre zusammenhängt, ließ Sarkozy am Wochenende zuvor mitteilen, seine Ansprache auf den Bildschirmen seit "schon seit einem Monat geplant" gewesen. Pech nur, dass der Präsident bis Ende vergangener Woche vergessen hatte, irgendjemandem etwas davon mitzuteilen. Ein echtes Geheimprojekt gewissermaßen.

Die dem Dachverband CGT angegliederte Journalistengewerkschaft SNJ-CGT hat übrigens heftig auf das brave Abfrageinterview des Fernsehjournalisten David Pujadas mit dem Staatspräsidenten reagiert: "Eine Schande" für den Journalismus und "eine Stunde Werbung" für Sarkozy sei es gewesen, teilte die Gewerkschaft am Dienstag, den 13. Juli mit. Auch bei offenen Unwahrheiten, die Nicolas Sarkozy ausgesprochen habe, sei ihm nicht im Leisesten widersprochen worden. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2010/07/13/97001-20100713FILWWW00461-sarkozypujadas-une-honte-snj-cgt.php oder http://www.liberation.fr/medias/0101646842-le-snj-cgt-de-france-televisions-a-juge-pujadas-complaisant-et-incompetent-face-a-sarkozy )

Dass es sich um ein seit längerem geplantes Interview handelt, ist in Wirklichkeit höchst unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher aber ist, dass die viel stärker verbreitete Vermutung zutrifft, wonach Nicolas Sarkozy in höchster Not den "Feuerwehrmann" spielte, um zu verhindern, dass seine Regierung bis auf die Grundmauern niederbrennt. Das nimmt nicht wirklich wunder, denn die politische Situation hat begonnen, sich für das Regierungslager zuzuspitzen. Am vergangenen Mittwoch (07. Juli) zitierte die auf Enthüllungen sowie Satire spezialisierte Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné' einen namentlich nicht genannten Minister, bei dem es sich der Beschreibung nach um Innenminister Brice Hortefeux handeln könnte. Dieser wird mit den Worten wiedergegeben, wenn es so weiter gehe, dann komme die bürgerliche Rechte bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in gut anderthalb Jahren gar nicht erst in den zweiten Wahlgang. Die Stichwahl würde demnach zwischen den Sozialdemokraten und der extremen Rechten ausgetragen.

Das Regierungslager versucht, die extreme Rechte als Anti-Korruptions-Partei aufzubauen - Ihr letztes politisches Schutzschild?

Der Minister sprach demnach von einem "umgekehrten 21. April", unter Anspielung auf jenen Tag im Jahr 2002, an dem der damalige sozialdemokratische Premierminister und Präsidentschaftskandidat Lionel Jospin nach der ersten Runde aus dem Rennen flog. Den zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl machten damals der Konservative Jacques Chirac und der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen unter sich aus. Schon seit den Regionalparlamentswahlen vom März dieses Jahres sagen Beobachter, aber auch manche Abgeordnete der Regierungspartei UMP für 2012 eine vergleichbare Konstellation voraus, aber ohne die bürgerliche Rechte. Im März und April machte bereits das geflügelte Wort von "Marine versus Martine" die Rede, also einer Stichwahl zwischen der sozialdemokratischen Parteichefin Martine Aubry und der rechtsextremen Nachwuchspolitikerin Marine Le Pen, die auf dem nächsten Parteikongress am 15./16/ im Januar 2011 voraussichtlich ihren Vater an der Parteispitze des Front National (FN) ablösen wird. Letztere vermied es bisher, auf ähnliche Weise wie ihr Vater etwa mit Holocaustleugnung oder -verharmlosung oder Nazisympathien öffentlich anzuecken, und gilt als ungleich "moderner". Der durch den ,Canard enchaîné' zitierte Minister prognostizierte ihr vergangene Woche 22 Prozent als Präsidentschaftskandidatin. Nicolas Sarkozy selbst wird durch die Zeitung mit den Worten zitiert, die derzeitige Situation könne dem FN "fünf Prozent der Stimmen" zusätzlich einbringen.

Die Frage ist, ob es nicht genau dies ist, was die konservative Rechte derzeit anstrebt, jedenfalls für den Fall, dass es ihr momentan nicht gelingt, ihren eigenen Niedergang aufzuhalten. Jedenfalls tut sie beinahe alles dafür, einen Aufstieg der extremen Rechten zu beschwören, für den Fall, dass die Kritik an den Praktiken der Konservativen weiterhin anschwelle - als ob die Neofaschisten, und auf keinen Fall die sozialdemokratische oder linke Opposition, allein die "natürliche Alternative" zum Regierungslager bildeten. Man könnte auch anders an die Sache herangehen, und etwa die Frage stellen, warum bitte schön ausgerechnet die extreme Rechte Frankreichs am besten platziert sei, um über Korruption und Vetternwirtschaft herzuziehen. Eine Partei, die seit ihrer Gründung im Oktober 1972 durch denselben Vorsitzenden angeführt wird? Die sich nun darauf vorbereitet, dass ihre Führung durch ein Familienmitglied - dessen Tochter - übernommen wird? Eine Partei, deren Chef, der alternde Jean-Marie Le Pen, in den siebziger Jahren zum Multimillionär wurde, indem er unter trüben Umständen das Alleinerbe eines geistig umnachteten Anhängers namens Hubert Lambert antrat? Warum sollte ausgerechnet ein solcher Verein sich dazu ausersehen fühlen, mit Fingern auf andere zu zeigen und bei ihnen Korruption und Nepotismus anzuklagen - so könnte man mit einigem Recht fragen.

Dies tut die bürgerliche Rechte jedoch nicht, sondern sie setzt es als quasi naturgegeben voraus, dass allein die extreme Rechte automatisch und zwingend davon profitiere, falls die konservative Regierung mit ihren Korruptionsaffären in die Enge getrieben wird. Marine Le Pen wird in den letzten Tagen auf fast allen Radio- und Fernsehkanälen dazu eingeladen, die Korruptionsaffären des Regierungslagers zu kommentieren. Die frühere rechtssozialdemokratische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal sprach ihrerseits schon am 30. Juni vom "Sarkozysmus, einem korrupten System". Jean-François Copé, Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei UMP, verglich sie daraufhin prompt mit Marine Le Pen: Die Sozialdemokratin rede wie die rechtsextreme Nachwuchspolitikerin. Das bedeutet, Letztere ist das Original und die sozialdemokratische Populistin nur die Kopie.

Die eher linke Internetzeitung ,Médiapart' enthüllt Einzelheiten über die Korruptionspraktiken des konservativen Lagers? Ein Entrüstungssturm - gekünstelt oder nicht - wird bei den Konservativen entfesselt. Es hagelt Vergleiche mit der antisemitischen Hetzpresse der 30er Jahre und faschistischen Publikationen. Auch wenn UMP-Sprecher Frédéric Lefebvre, dessen Spitzname "Pitbull" lautet, seinerseits eher eine höchst eigentümliche Mischung aus "Rechtsradikalismus, Trotzkismus und einer Rache der Reichen, die dem Minister Woerth seinen Kampf gegen Steuerbetrug nicht verziehen haben" an die Wand malt.

,Médiapart' war die Publikation, die am 16. Juni erstmals Einzelheiten über jene Affäre publizierte, die Feuer an die Lunte legte. Schon zuvor waren im Laufe des Juni einige andere Korruptions- oder Selbstbedienungspraktiken von geringerer Bedeutung ruchbar geworden. Etwa die Zigarren, die der Staatssekretär Christian Blanc verpaffte und für die er 12.000 Euro vom Steuerzahler übernehmen ließ. Oder die Villa an der Côte d'Azur, die der bisher für die französische Afrikapolitik zuständige Staatssekretär Alain Joyandet sich mit illegal erworbener Baugenehmigung erweitern ließ. Die beiden Staatssekretäre wurden in den ersten Julitagen durch Präsident Sarkozy und Premierminister François Fillon aus dem Amt geekelt und zum Rücktritt, den beide am vorletzten Sonntag (4. Juli) einreichten, gemobbt. Auch wenn sie dem Vernehmen nach früher zurücktraten, als es Sarkozy lieb gewesen wäre (so schreibt jedenfalls ,Le Monde'), da der Präsident ihren Rücktritt oder ihren Rausschmiss gerne noch eine Weile lang als Trumpfkarte für spätere Momente aufbewahrt hätte. Besonders pikant dabei war, dass Blanc sich auch noch auf hochnotpeinliche Weise herauszureden versuchte, indem er die Schuld von sich schob und an einen Untergebenen mit Namen Guillaume Jublot weiterreicht: Dieser habe ihm die Zigarren geklaut, so dass er selbst gar nicht mitbekommen habe, dass sie fehlten. Premierminister Fillon soll angesichts seiner peinlichen Verteidigungsversuche einen Wutanfall bekommen haben.

EINSCHUB: Rückblick auf die im Laufe des Juni ruchbar gewordenen "Affären"

Christian Blanc, der bis am vorletzten Sonntag (o4. Juli) als Staatssekretär für das zukünftige ,Grand Paris' - also den geplanten administrativen Zusammenschluss von Paris und eines Teils seiner Banlieue/Trabantenstädte - zuständig war, wurde aufgrund von flagranter Selbstbedienung aus dem Amt gedrängt. Er hatte auf Staatskosten für 12.000 Euro Zigarren verpafft. Als es herausgekommen war, zahlte er die Summe erst nach ausdrücklicher Aufforderung von Premierminister François Fillon - der darüber erbost war - in die Staatskasse zurück. Besonders peinlich war, dass Blanc seine Selbstbedienung auf Staatskosten auch noch einem Untergebebenen - Guillaume Jublot - anzulasten versuchte, der dafür in einem Interview mit der Sonntags-Ausgabe des ,Parisien' vom o4. Juli zurückkofferte : « Ich habe die Zigarren von Christian Blanc nicht gestohlen/geklaut. » (S. http://www.leparisien.fr/politique/je-n-ai-pas-vole-les-cigares-de-christian-blanc-04-07-2010-988259.php )

Christine Boutin, bis vor einigen Monaten - rechtskatholische - Ministerin für Wohnungsbaupolitik, wurde im Juni 2009 aus diesem Amt abgelöst. Um die solcherart degradierte Ex-Ministerin (die das ultra-christliche Wählerspektrum abdecken soll) zufriedenzustellen, verlieh Präsident Nicolas Sarkozy ihr daraufhin den Auftrag, eine vage gehaltene Untersuchung zum Thema « Soziale Folgen der Globalisierung » durchzuführen. Diese « Mission » wurde ihr mit saftigen 9.500 Euro monatlich entlohnt. Diese stolze Entlohnung, die ohne reale und überprüfbare Gegenleistung blieb, kam zu einer Parlamentarier-Rente in Höhe von 6.000 Euro zuzüglich einer Pension für sonstige frühere Funktionen von 2.500 Euro hinzu. Nachdem die Wochenzeitung ,Canard enchaîné' am 16. 06. 10 über diese satte Bedienung der Ex-Ministerin berichtet hatte, musste Madame Boutin dann jedoch auf die Dopplung - fettes « (Pseudo-)Gehalt » plus fette Rente - verzichten.

Jeanette Bougrab, 36, Tochter eines Harki (früheren pro-französischen Kämpfers im Kolonialkrieg in Algerien), wurde im April 2010 durch Präsident Nicolas Sarkozy an die Spitze der Anti-Diskriminierungs-Behörde HALDE ernannt. Eine ihrer ersten Amtshandlungen bestand darin, am o3. Mai über eine Anpassung ihres Gehalts abstimmen zu lassen, das (laut einem Artikel der Enthüllungszeitung ,Le Canard enchaîné' vom 26. 06. 10) von gut 6.100 Euro unter ihrem Vorgänger Louis Schweitzer auf 14.000 Euro wuchs. Also mehr als verdoppelt wurde. Bougrab hat die Zeitungsinformation allerdings als « diffamierend » bezeichnet und dementiert, musste laut Angaben des ,Canard enchaîne' jedoch auf die kleine Verdoppelung ihres Gehalts verzichten.

Die Leiden des alten Sackes W.

Doch Joyandet und Blanc "wurden" wohl allem deswegen zurückgetreten, weil es in den Augen der beiden Herren an der Staatsspitze galt, den in ihren Augen strategisch wichtigsten - und zugleich am tiefsten in den Korruptionssumpf verstrickten - Minister zu retten: den amtierenden Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth. (Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/actualite/politique/20100705.OBS6650/depart-de-joyandet-et-blanc-pour-proteger-woerth-estime-la-presse.html ) Dessen Aufgabe besteht derzeit darin, die so genanten "Reform" der Renten zu retten, die derzeit vorbereitet wird. Das französische Kabinett verabschiedete die Vorlage dazu an diesem Dienstag (13. Juli), das Parlament wird in einer dreiwöchigen Sondersitzung - während die Abgeordneten normalerweise noch im Urlaub wären - ab der zweiten Septemberwoche darüber debattieren.

Diese "Reform" ist ausgesprochen unpopulär, 67 % erklären sie für "ungerecht". Am 24. Juni demonstrierten bereits anderthalb bis zwei Millionen Menschen dagegen, für den Frühherbst werden noch stärkere Proteste erwartet. Kernbestandteil der Reform ist die Anhebung der Zahl obligatorischer Beitragsjahre zur Pensionskasse von derzeit 40 auf 41,5 bis im Jahr 2018. Vor wenigen Jahren waren es noch 37,5 gewesen, bis zur bisher letzten "Reform".

Auch wird das gesetzliche Mindestalter für den Eintritt in die Rente von 60 auf 62 angehoben. Dieses Mindestalter aber gilt ausschließlich für jene, die die erforderlichen Beitragsjahre zusammen haben - was mit jeder Anhebung immer schwieriger wird. Die anderen müssen entweder hohe Extra-Strafbeträge und Abzüge akzeptieren, für zwei fehlende Beitragsjahre machen sie bereits zehn Prozent der Rente aus, oder aber bis zum gesetzlichen Eintrittsalter warten. Dieses lag bislang bei 65 Jahren. Bis 2023 soll es nun auf 67 angehoben werden. Auch dann wird noch bestraft, wem Beitragsjahre fehlen - zwar nicht durch Extra-Abzüge, wohl aber fällt die Rente durch ein geringeres Gesamtvolumen der Beiträge doch kleiner aus.

Sarkozy hält diese "Reform" für einen Fortschritt im Namen der "wirtschaftlichen Vernunft", mit dem er in die Geschichte eingehen möchte. Deshalb kommt es für ihn im Augenblick auf keinen Fall in Betracht, seinen Minister Eric Woerth zu opfern, auch wenn dieser unter normalen Umständen wohl bereits unhaltbar geworden wäre. Sonst, so glaubt Präsident Sarkozy, droht ihm die ganze "Reform" zu kippen.

Eine Serie von unglaublichen Zufällen: Sachen gibt's...

Die Ehefrau des Ministers, Florence Woerth, arbeitete seit November 2007 in Diensten des Vermögensverwalters der Milliardärin - und Erbin eines Nazikollaborateurs - Liliane Bettencourt, mit Namen Patrice de Maistre. Die Ministergattin war in dessen Beraterfirma Clymène als Vermögensbetreuerin angestellt - "um Eric Woerth einen Gefallen zu tun", wie de Maistre laut Tonbandaufnahmen äußerte. Nun ist Liliane Bettencourt eine Großspenderin der Regierungspartei UMP. Deren Schatzmeister, der die Spenden von Privatsponsoren einkassiert, ist wiederum seit 2002 Eric Woerth. Er war in den Jahren 2007 bis 2009 auch Haushaltsminister, also auch für Steuereintreibung und den Kampf gegen Steuerbetrug zuständig.

Rein zufällig ist Madame Bettencourt aber auch eine Steuerhinterzieherin in großem Maßstab - es geht um dreistellige Millionenbeträge in Euro -, wie ab dem 16. Juni stückweise herauskam. Damals publizierte Médiapart Auszüge aus illegal aufgenommenen Tonbandmitschnitten, die für den jüngst begonnen Prozess um Familienstreitigkeiten zwischen Liliane Bettencourt und ihrer Tochter Françoise Bettencourt-Meyers angefertigt wurden. (Vgl. dazu den Artikel, der die Affäre ins Rollen brachte: http://www.mediapart.fr/journal/france/140610/sarkozy-woerth-fraude-fiscale-les-secrets-voles-de-laffaire-bettencourt ) Die Aufnahmen waren von Bettencourts früherem Hausverwalter Pascal Beonnefoy angefertigt worden.

Hintergrund sind Vorwürfe von Seiten der Tochter und ihrer Umgebung, die 87jährige Mutter lasse sich von Strebern, Schleimern und Günstlingen in ihrem Umfeld - insbesondere aber ihrem Lebensgefährten, dem Fotographen François-Marie Banier (vgl. http://www.lexpress.fr/actualite/politique/francois-marie-banier-la-generosite-de-liliane-bettencourt-est-voulue_906065.html ) - ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Was wohl zum guten Teil auch zutrifft. Frau Tochter hat wohl schlicht & einfach Angst um den Verbleib ihres Erbes. Allerdings kommen auch noch weitere Konfliktfaktoren hinzu, denn Françoise Bettencourt-Meyers ist mit einem jüdischen Bankkaufmann verheiratet, während Liliane Bettencourts Vater (Eugène Schueller) und ihr im November 2007 verstorbener Ehemann André Bettencourt zu ihren "Hochzeiten" glühende Pétainisten, Nazikollaborateure und Antisemiten waren. André Bettencourt war "immerhin" Frankreich-Chef der, Joseph Goebbels unterstellten, "Propagandastaffel" während der Besatzung gewesen. Eugène Schueller seinerseits hatte während der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts diverse faschistische Gruppierungen, u.a. die ab 1937 aktive rechtsterroristische Vereinigung ,La Cagoule' finanziell gesponsert.

Die Tochter verlangt seit circa zwei Jahren, dass ihre Mutter unter Vormundschaft gestellt wird. Am 1. Juli 2010 sollte ein Prozess darum in Nanterre beginnen, der jedoch aufgrund der politischen Bombe, die im Zusammenhang mit dem Vermögen der Bettencourts und dessen "politischer Verwendung" erst einmal verschoben worden ist.

Die aus diesem Anlass getätigten Enthüllungen haben es in sich. Allein auf zwei nicht angegebenen Konten der Dame in der Schweiz liegen 78 Millionen Euro. Ferner ist sie Eigentümerin der Insel d'Arros, die zum Archipel der Seychellen gehört, einem Steuerparadies. Formell gehört die Insel inzwischen einer Stiftung, die in Liechtenstein ansässig ist. Dreistellige Millionenbeiträge waren also in, für ihre Steuertransparenz nicht unbedingt bekannten, Staaten wie der Schweiz und Liechtenstein plus den Seychellen geparkt.

Keine Steuerkontrolle - aber Steuer-Rückzahlung über 30 Millionen

Ebenso purer Zufall ist es, dass bei Liliane Bettencourt seit nunmehr 15 Jahren keine Steuerkontrolle vorgenommen wurde. Noch zufälliger aber ist, dass Eric Woerth - wie durch einen Bericht der Pariser Abendzeitung Le Monde Anfang Juli herauskam - am 30. Januar 2008 persönlich bei Bettencourt in ihrer Privatwohnung im Millionärsvorort Neuilly-sur-Seine zu Abend speiste. Und, ein Zufall kommt selten allein, dass die Schwervermögende im März 2008, wenige Wochen nachdem sie einen Antrag darauf gestellt hatte, eine Steuer-Rückzahlung in Höhe von 30 Millionen Euro (allein für das Jahr 2007) erhielt.

Fortgang der Enthüllungen

Auch Nicolas Sarkozy selbst wird inzwischen durch diese Affäre in Mitleidenschaft gezogen. Am Dienstag, o6. Juli, kam beispielsweise heraus, dass die Milliardärin Bettencourt 150.000 Euro in bar ( !) an Eric Woerth « für den Präsidentschaftswahlkampf Nicolas Sarkozys von 2007 » bezahlt haben soll. (Vgl. http://www.lejdd.fr/Politique/Depeches/Avocat-Bettencourt-Des-versements-a-Woerth-205344/ und http://www.lejdd.fr/Politique/Depeches/Raffarin-S-il-y-a-eu-de-l-argent-liquide-c-est-hors-la-loi-205342/ )

Das Regierungslager hat, na klar, dementiert. Aber die Polizei bestätigte ihrerseits am Mittwoch, o7. Juli, dass die Angaben der früheren Buchhalterin von Madame Bettencourt in den Jahren 1995 bis 2009 (Claire Thibout) - die diese zuerst bei einer polizeilichen Vernehmung und später gegenüber dem Internet-Magazin ,Médiapart' (Ausgabe vom o6. o7.) tätigte - über eine Bar-Abhebung von 50.000 Euro am 26. März 2007 zu diesem Zwecke zutreffend gewesen sei. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/politique/article/2010/07/07/la-police-confirme-le-retrait-de-50-000-euros-fin-mars-2007_1384483_823448.html#ens_id=1373579) Claire Thibout hatte angegeben, an jenem Tag 150.000 Euro abgehoben zu haben : 50.000 in bar von einem Konto bei der BNP, und 100.000 von einem Schweizer Geheimkonto ; ferner seien vergleichbare Summen zwei mal pro Monat in Bargeld abgehoben worden, um Sarkozys UMP auf illegalem Wege zu finanzieren. Am Donnerstag, o8. Juli 10 verlautbarte jedoch, dass die Familie Bettencourt über Quittungen in Höhe von circa 40.000 Euro von Ende März 07 verfüge, die angeblich die Verwendung dieser Gelder von jenem Tag im März 2007- zu anderen Zwecken als der illegalen Parteienfinanzierung - belegen. Im Laufe des Tages zog Claire Thibout (unter massivem pyschologischen Druck stehend) einen Teil ihrer zuvor getätigten Aussagen zurück : Die Angaben gegenüber ,Médiapart' seien « ausgeschmückt » gewesen/worden. Claire Thibout steht natürlich unter massivem Druck ihrer Umgebung, zudem möchte sie möglicherweise nicht eines Tages erhängt in einem Waldstück aufgefunden werden.

Andere Angaben wurden jedoch durch ein Tagebuch der früheren Buchhalterin, das die Ermittler beschlagnahmen konnten, bestätigt. Den Teil-Rückzug der am Abend des o6. Juli erneut polizeilich befragten Dame nutzt nun das politische Lager des Präsidenten, um in die Offensive zu gehen und alle Vorwürfe als Lug & Trug hinzustellen. Doch am Freitag, o9. Juli kam heraus, dass in den vier Monaten vor der letzten französischen Präsidentschaftswahl vom April/Mai 2010 allein 388.000 Euro in bar nachweisbar von Konten der Bettencourts bei der Bank BNP-Paribas abgehoben wurden. (Vgl. http://www.lejdd.fr/Societe/Justice/Actualite/Bettencourt-388.000-euros-retires-206100/ ) Dies förderten Einträge in den, durch die Ermittler beschlagnahmten, Tagebüchern Claire Thibouts zu Tage. Nun dürfte es erst einmal Erklärungsbedarf für den Verbleib dieser Summen geben, für die Friseur-Rechnungen der Madame Bettencourt dürften sie jedenfalls nicht vollständig draufgegangen sein. Seit dem heutigen Tage (16. Juli) kommen, laut einem Bericht des Wochenmagazins ,Marianne', nochmals weitere 100.000 Bar-Abhebungen während der Wahlkampfzeit, in den ersten Jahresmonaten 2007, von einem Konto bei einer anderen Bank (Dexia) hinzu. Vgl. http://www.marianne2.fr/Nouvelles-revelations-dans-l-affaire-Bettencourt-le-cheque-de-100-000-euros-qui-accuse-_a195352.html?preaction=nl&id=5908561&idnl=26016&

Am Freitag früh, o9. Juli fanden Hausdurchsuchungen u.a. bei Liliane Bettencourts Vermögensverwalter Patrice de Maistre statt. Am Donnerstag, den 15. Juli wurden dann vier Personen in polizeilichen Gewahrsam genommmen und durch die Finanzinspektion (Steuerfahndung) verhört. Dazu zählen Patrice de Maistre, sein früherer Steueranwalt und der frühere Verwalter der Seychellen-Insel Arros. Allerdings scheint die Sachen einen Haken zu haben : Der zuständige Staatsanwalt, der die Ermittlungen führt, ist der in Nanterre ansässige Philippe Courroye. In einem Interview mit der Pariser Abendzeitung ,Le Monde' (Ausgabe vom 16. Juli) erhebt die frühere Untersuchungsrichterin Eva Joly - die in den neunziger Jahren den Riesenskandal um den Erdölkonzern ELF Aquitaine, der ab 1994 losging, aushob - schwere Vorwürfe gegen ihren früheren Kollegen Courroye. Letzterer, der sich einer persönlichen Freundschaft zu Nicolas Sarkozy rühmt, tue in Wirklichkeit (laut Eva Joly) so ziemlich Alles, um die Angeklagten in Wirklichkeit zu schützen : vorher angekündigte Durchsuchungen, Verfahrensfehler, Beihilfe zum Vernichten von Beweisen. Unterdessen berichtete allerdings die Enthüllungs- (und Satire-)Zeitung ,Canard enchaîné' in ihrer Ausgabe vom Mittwoch, 14. Juli, das Präsidentenlager mache sich Sorgen darüber, dass Corroye zunehmend unkontrollierbar agiere. Wo genau der Hase entlang läuft, bleibt also abzuwarten: Wirft der derzeit sehr aktiv auftretende Staatsanwalt nur Nebelgranaten, oder treibt er tatsächlich brauchbare Ermittlungen voran? Die nahe Zukunft wird uns vielleicht ein bisschen Aufschluss darüber geben. Bis dahin jedenfalls bleiben Zweifel angebracht, denn in den durch ,Médiapart' publizierten Tonbandaufzeichnungen (vgl. oben) wird Courroye durch Patrice de Maistre und dessen Anwalt - Georges Kiejman, einen frühere Hofschranze am Hofe des republikanischen Monarchen François Miterrand - in einem Gespräch als verbündetes Element dargestellt. Es war Philippe Courroye, der eine Klage der Tochter Françoise Bettencourt-Meyers wegen Vertrauensmissbrauchs und Veruntreuung des Vermögens ihrer Mutter durch deren Umgebung abgeheftet und das dazu eröffnete Ermittlungsverfahren eingestellt hatte.

Auf neue Enthüllungen & Erkenntnisse dürfen wir gespannt bleiben. In ihrer Freitags-Ausgabe (die am Donnerstag Abend in Paris erschien) berichtet die Abendzeitung ,Le Monde', dass Bettencourts früherer Hausverwalter Pascal Bonnefoy und ihre frühere Sekretärin Chantal Trovel - von 1997 bis 2007 im Hause beschäftigt - die Übergabe von dicken Geldbündeln in bar, « in braunen DIN A 5-Umschlägen », an eine Reihe von Politikern bestätigen. Die Angestellten waren nicht unmittelbar Augenzeugen von Übergabeszenen, aber sie sahen vor allem in Wahlkampfzeiten den Reigen von ein- und ausgehenden Politikern, und André Bettencourt bestätigte ihnen gegenüber mündlich explizit den (finanziellen) Zweck ihres Auftauchens. Die Szenerie reicht von Eric Woerth und den UMP-Politiker Pierre Lellouche bis zum Fernseh,philosophen' Bernard-Henri Lévy. Auch das Ehepaar Chirac ging demnach ein und aus, allerdings eher zu einem Zeitpunkt, als Jacques C. seine politische Karriere schon eher hinter sich hatte.

Auf einer anderen Flanke wird Eric Woerth attackiert, seitdem der ,Canard enchaîné' am 14. Juli 10 berichtete, dass er - sechs Tage vor seinem Abgang aus dem Haushaltsministerium - eine riesige Pferderennbahn (mit einem Gelände von 57 Hektar) für den Spottpreis von gut 2 Millionen Euro, einem Zehntel des üblichen Kaufpreises, an Freunde verscherbelt hat. Seine Ehefrau Florence Woerth ist übrigens Besitzerin eines Rennpferdestalls und in diesem Geschäft, welches das Kontakteknüpfen in hohen Bourgeoiskreisen erlaubt, sehr aktiv.

Ausblick

Der Minister Eric Woerth beginnt seit Anfang Juli - und vor allem bis zur jüngst (am o8. Juli) einsetzten Gegenoffensive -, für das Regierungslager allmählich unhaltbar zu werden. Doch Woerth schloss schon am Dienstag, o6. Juli, einen Rücktritt kategorisch aus und bleibt seither bei diéser Position. Präsident Nicolas Sarkozy hält bis zur Stunde eisern an ihm fest. Premierminister François Fillon seinerseits beklagte eine « Menschenjagd » auf den armen Minister (s. http://www.lejdd.fr/Politique/Depeches/Woerth-Fillon-denonce-une-chasse-a-l-homme-205481/ ), und das Regierungslager - u.a. in Gestalt des derzeitigen Haushaltsministers François Baroin - beschuldigt die sozialdemokratische Parlamentsopposition, aufgrund ihrer Kritik nur absichtlich die extreme Rechte zu stärken, um den Konservativen zu schaden (vgl. http://www.lejdd.fr/Politique/Depeches/Le-PS-dement-faire-le-jeu-de-l-extreme-droite-205514/ ). Die sozialistischen Abgeordneten waren am Nachmittag des 06. Juli, als symbolischer Protest aufgrund dieses Vorwurfs der bewussten Komplizenschaft mit der extremen Rechten, aus dem Parlament ausgezogen.

Eric Woerth soll nach Auffassung Sarkozys seinen Kopf aus der Schlinge ziehen können, weil ein von ihm bestellter und am Sonntag Abend (11. Juli) publizierter Rapport des Direktors der Allgemeine Steuerinspektion (IGF) - die die Finanzämter kontrolliert - zum Schluss kommt, es seien keine Spuren einer Intervention des Ministers zugunsten der steuerlichen Situation von Liliane Bettencourt gefunden worden. Der Bericht, der im Rekordzeitraum von anderthalb Wochen - während derer 6.247 Steuerakten untersucht worden sein sollen - entstand, ist aber höchst umstritten. Er wird nicht durch die Steuerinspektion insgesamt, sondern nur durch ihren Direktor verantwortet. Dieser aber ist ein direkter Untergebener des Haushaltsministers, derzeit Woerths Nachfolger François Baroin (UMP) und kann von ihm je, frei nach politischer Entscheidung, jederzeit ausgetauscht werden. (Vgl. http://www.marianne2.fr/sarkofrance/Les-revelations-du-rapport-de-l-IGF-dont-Sarkozy-ne-parlera-pas_a125.html ) Ferner bestätigt der Rapport sogar ausdrüklich, dass Eric Woerth über die steuerliche Situation der Bettencourt "informiert" war. Der Berichterstatter fand lediglich keinen schriftlichen Beleg für irgendeine schwarz auf weiß gegebene Anordnung Woerths in seiner Amtszeit als Haushaltsminister. Einen solch enormen Zufall konnte man aber wohl auch nicht vernünftiger Weise erwarten.

Der Minister, der ursprünglich aus einem rechtskonservativ-monarchistischen Umfeld stammt, ist politisch schwer angeschlagen. Präsident Sarkozy steht sich aber nach wie vor eisern hinter ihm, aufgrund der strategischen Position, die Woerth derzeit besetzt. Dadurch droht sich aber die politische Krise zu verschärfen, weshalb das Regierungslager schon jetzt die extreme Rechte aufzublasen versucht - die wohl statt der Linksopposition gestärkt werden soll, um notfalls längerfristig über einen Bündnispartner zu verfügen. Woerth dürfte in naher Zukunft jedenfalls wachsende Schwierigkeiten dabei haben, den "kleinen Leuten" die Notwendigkeit des "Verzichts" und des Abbaus sozialer Garantien nahe zu bringen. (Vgl. auch http://abonnes.lemonde.fr/politique/article/2010/07/12/en-pleine-reforme-des-retraites-nicolas-sarkozy-paie-cher-l-affaire-bettencourt_1386850_823448.html )

B. Schmid, 16. Juli 2010


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