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Updated: 18.12.2012 16:07
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Frankreich, eine langweilige und unbedeutende Wahlrunde später: Wo sind die sozialen Widerstandspotenziale für die Zukunft?

Die gute Nachricht der letzten Tage kam aus Strasbourg. "Ausgerechnet" aus der Kronenbourg-Brauerei im Stadtteil Obernai. Normalerweise stellt das "Bier", das dort hergestellt wird, eine pure Zumutung dar: Eine fade Hasenpisse ohne Geschmack und Charakter, verabreicht in kleinen grünen Fläschchen mit Schraubverschluss. Aber vergangene Woche erhielt die Sache plötzlich mehr Würze. Vom Montag bis vergangenem Freitag befand sich ein Gutteil der insgesamt 680 Beschäftigten der Brauerei im Ausstand, und zwar gegen Überstunden und für eine Erhöhung der Löhne.

Just zu einer Zeit, da die Ankündigungen der Regierung für das erste Gesetzespaket, das im Juli während einer sommerlichen Sondersitzung des Parlaments verabschiedet werden soll (gefolgt von weiteren Gesetzesbündeln, die u.a. eine Verschärfung des Jugendstrafrechts und der Regeln für Familienzusammenführung bei Einwanderern zum Gegenstand haben werden), stark um die Begünstigung von Überstunden kreisen. Letztere sollen künftig für die abhängig Beschäftigten vollständig steuerbefreit werden, was freilich für die Bezieher/innen von Niedriglöhnen real von geringem Interesse ist, da 50 Prozent der französischen Lohnabhängigen ohnehin keine Einkommenssteuer bezahlen, sondern unterhalb der Verdienstgrenze liegen. Die Arbeitgeber sollen zugleich von Sozialabgaben auf die Überstunden befreit werden. Die Befreiung von Steuern und Abgaben soll sowohl für jene Überstunden, die innerhalb des per Gesetz festgelegten jährlichen "Kontingents" von maximal 220 Stunden liegen, als auch für darüber hinaus gehende Überschreitungen der Regelarbeitszeit gelten. Denn nunmehr soll, auf "freiwilliger" individueller Basis, die jährliche Arbeitszeit der Lohnabhängigen über die 220-Stunden-Höchstgrenz hinaus überschritten werden können.

Kosten soll das Ganze 6 Milliarden Euro, wie Premierminister François Fillon in der vergangenen Woche ankündigte - nachdem er selbst noch wenige Stunden zuvor zurückhalten von 2,5 bis 3 Milliarden Euro gesprochen hatte. Die Steuergeschenke an die Mittel- und vor allem die Oberklassen, insbesondere die Quasi-Abschaffung der Erbschaftssteuer, werden weitere Kosten aufwerfen und die Einnahmen für die öffentlichen Haushalte verringern und/oder die Sozialkassen trocken legen. Das Gesamtpaket, das laut Fillon einen "Vertrauensschock" (choc de confiance) bei den wirtschaftlichen Akteuren schaffen soll, wird ihm zufolge 11 Milliarden Euro jährlich kosten. Die sozialdemokratische Tageszeitung ,Libération' spricht hingegen von "11 bis 19 Milliarden Euro pro laufendem Jahr". Aber den Spaß für die Oberklassen lässt die Regierung sich gern etwas kosten. Ebenso, wie die Verlängerung der wöchentlichen und der jährlichen Arbeitszeit ihr ein wirkliches Herzensanliegen ist.

"Wir haben mit Euren Überstunden nichts am Hut" antworteten die Lohnabhängigen in der Brauerei im ostfranzösischen Strasbourg, die im Eigentum des Getränkekonzerns Scottish & Newcastle steht. ,Libération' vom Freitag zitiert einen Arbeiter der Brauerei: "Nach 30 Jahren im Betrieb, und täglichem Arbeiten bei 80 Dezibel Lautstärke, möchte man auch einfach mal am Samstag mit seinem Frauchen in Ruhe spazieren gehen können." Der Konzern, der die Bierfabrik übernommen hat, hatte den Beschäftigten seit Jahresanfang einhundert "obligatorische" jährliche Überstunden aufgezwungen - so sieht die Praxis aus, völlig entgegen dem derzeit herrschenden Diskurs von Regierung und bürgerlichem Lager, die das Ableisten von Überstunden gern als "freiwillige" individuelle Entscheidung des Lohnabhängigen darstellen. Im Sinne des tollen Versprechens von Präsident Nicolas Sarkozy: "Alle sollen mehr arbeiten dürfen, um mehr verdienen zu können." Eine Rechnung, die manchen Lohnabhängigen vorübergehend zu gefallen scheint, da sie in einem ersten Moment zunächst nur "mehr verdienen" heraushören.

"Unsere Löhne sind zu tief", antworteten die Brauereiarbeiter von Strasbourg, anstatt auf diese Milchmädchenrechnung einzugehen. 200 Euro pro Monat Lohnerhöhung forderten sie. Erreicht haben sie zwar nicht diese monatliche Anhebung ihrer Löhne, wohl aber 1.500 Euro "Sonderprämie" für alle. So steht es in dem "Protokoll zum Streikende", das am Freitag per Mehrheitsvotum der Beschäftigten angenommen wurde und das Ende des Arbeitskampfs einleitete. Ihn hatte zunächst die CGT anzustoßen geholfen, im Laufe der vergangenen Woche hatten ihn dann auch die Gewerkschaften CFDT und unterstützt. Und ferner, vor allem, enthält das "Protokoll" auch die entscheidende Passage: Überstunden können künftig nur noch wirklich freiwillig geleistet werden, und niemand kann dazu gezwungen werden - wenn, so der Pferdefuß, in den kommenden drei Monaten die Produktion aus Sicht der Direktion "zufrieden stellend" ausfällt.

Die übrige Situation betreffend, ist die Situation insgesamt weniger rosig. Der konservativ-liberale Bürgerblock hat einen überaus erwarteten Wahlsieg eingefahren, da sich einerseits die Linkswählerschaft zum Teil demobilisiert hat (die Wahlenthaltung beträgt 40 Prozent schon im ersten Durchgang), andererseits aber die Le Pen-Wähler massiv für die konservative Rechte stimmen gingen. (Vgl. zu letzterem Punkt ausführlich: http://www.hagalil.com/01/de/Europa.php?itemid=921 externer Link) Unzweifelhaft wird der zweite Wahlgang genauso ausgehen wie der erste. Dabei sind die ersten sozialen Grausamkeiten bereits angekündigt. In den letzten 48 Stunden schält sich immer deutlicher heraus: Die Steuergeschenke an die Besser- und Bestverdienenden, sowie die Finanzierung der Ausdehnung der Arbeitszeiten durch den Steuerzahler, werden ihren Preis in Gestalt einer Erhöhung der Mehrwertsteuer (TVA) haben. Also der sozial ungerechtesten Steuer, die für alle Konsumentinnen und Konsumenten gleich hoch ausfällt, wenn sie die gleiche Summe für den Kauf derselben Produkte ausgeben - für den Milliardär ebenso wie für die Sozialhilfeempfängerin. Nicolas Sarkozy hat schon vor der Wahl die Idee einer Mehrwertsteuer-Anhebung unter dem Titel "Soziale TVA" (sic, da das Vorhaben angeblich die Schaffung von Arbeitsplätzen begünstigt) ins Gespräch gebracht - und sich dabei pikanterweise auf das Vorbild der Bundesrepublik Deutschland bezogen. Wo die Mehrwertsteuer zwar von 16 auf 19 Prozent anzog, aber noch immer niedriger liegt als bereits heute in Frankreich (mit 19,6 %). Um welchen Prozentsatz die französische TVA noch angehoben werden soll, wird man freilich erst nach dem Ende der Parlamentswahlen erfahren. Vorerst ist von einer Anhebung um 1,2 Prozentpunkte auf 20,8 % die Rede, die circa 7 Milliarden Euro einbringen soll.

Man darf François Fillon darauf vertrauen, dass er als Premierminister die anstehenden "Reform" mit aller, nun ja, "gebotenen Härte" durchziehen wird. Seine Vita spricht jedenfalls dafür (vgl. Kasten). Inzwischen deutet sich aber an, dass nicht alle Pläne reibungslos und ohne soziale Widerstände aufgehen werden. Während die sozialdemokratische Parlamentsopposition seit vergangenem Sonntag die absehbare Mehrwertsteuer-Erhöhung zum Wahlkampf erhoben hat, haben sich die größeren Gewerkschaften nunmehr mit lobenswerter Klarheit gegen die Regierungspläne zur Vervielfachung der Überstunden positioniert. In einer gemeinsamen Erklärung vom vergangenen Donnerstag haben die "repräsentativen" Gewerkschaftsdachverbände ihre Ablehnung kundgetan: Die geplante Ausdehnung der Überstunden sei "nicht gut für die Beschäftigung". Tatsächlich werden die Erwerbslosen dabei in den Mond gucken dürfen, denn das Kapitel wird natürlich künftig weniger Arbeitskräfte benötigen, wenn es die "vorhandenen" besser bzw. intensiver "nutzen" kann.

Kurzportrait: François FILLON 

Der neue Premierminister, der aus dem westfranzösischen Le Mans stammt, gilt traditionell eher als "sozialer Gaullist". Demnach hält der Mann es eher mit der Bewahrung gewisser sozialer Errungenschaft und eines Mindestniveaus an Staatsanteil in der Wirtschaft. Soweit die Rhetorik. Nun kommen wir zum Faktischen: François Fillon ist ein Regierungspolitiker, der bereits unter den aufeinanderfolgenden Kabinetten Raffarin-1, Raffarin-2 und Raffarin-3 (2002 bis 2005) als Minister mit unterschiedlichen Ressortzuständigkeiten im Kabinett saß- und dort Erhebliches für das Vorankommen der neoliberalen "Reformwelle" geleitest hat. 

Insbesondere hat François Fillon in diesem Zeitraum drei größere  "Reformprojekte" auf dem Kerbholz, denn die jeweiligen Gesetze wurden in  allen drei Fällen unter dem Namen ,Loi Fillon' bekannt. Ausweislich seiner Vorarbeit, als zuständiger Fachminister, an den jeweiligen Gesetzentwürfen vor ihrer Einreichung ins Parlament trugen diese "Reform"vorhaben jeweils seine Handschrift. Daher zählt Fillon nicht wirklich zu den "unbeschriebenen Blättern" unter den bürgerlichen Politikern, sondern gehört eher in die Kategorie der schweren Jungs. Sein politisches Vorstrafenregister ist anschaulich. 

Und hier seine drei größten Glanztaten:  

Gesetz vom 24. Juli 2003 (Datum des Inkrafttretens), François Fillon ist Minister für Arbeit & Soziales: ,Réforme Fillon sur les retraites', Rentenreform. U.a. Anhebung der Zahl der erforderlichen Beitragsjahre - für eine Person, die einen vollen Rentenanspruch  geltend machen möchte -  von zvor 37,5 auf zukünftig (ab 2020) 42,5 Beitragsjahre. Ferner Absenkung der garantierten Mindestbezüge für PensionsempfängerInnen. Für die nahe Zukunft deutet sich bereits  eine weitere Verschärfung an, denn für das Jahr 2008 ist im Rahmen der Loi Fillon eine "Bilanzierung" durch die Regierung vorgesehen, also eine Zwischenetappe, die zur partiellen Überarbeitung der damaligen ,Reform' führen kann (und soll, so deutet sich   derzeit an). Aber sage niemand, es werde nicht an die armen Rentner/innen gedacht, die im Alter nichts mehr zu Beißen haben. Zum Glückwunsch an ihre Adresse wird voraussichtlich noch im Juli 2007 eine Bestimmung  verabschiedet werden, die es erlaubt, nach dem Eintritt des Rentenalters, neben dem Beziehen einer Pension, nebenher auch weiterhin lohnabhängig  zu arbeiten. Nun, falls man nicht über die Runden kommt... 

Gesetz vom 04. Mai 2004 "über den sozialen Dialog", ebenfalls ,Loi Fillon (sur le dialogue social)", François Fillon amtiert noch immer als Arbeits- und Sozialminister: Es hebt den bisherigen Vorrang für den Flächentarifvertrag (convention de branche) vor dem betrieblichen Abkommen (accord d'entreprise) auf. Damit fällt faktisch das so genannte "Günstigkeitsprinzip" (principe de faveur): Bis dahin galt  grundsätzlich vorrangig der Flächentarifvertrag - AUSSER, wenn das  Betriebskommen günstigere Bestimmungen aus Sicht der Lohnabhängigen enthielt. Und im letzteren Falle galten die Bestimmungen  zu jenen Punkten, in denen das Betriebsabkommen günstiger ausfiel. Diese Verknüpfung zwischen Flächen- und Firmentarifvertrag diente dazu, gewisse Mindeststandards (die durch den Branchentarifvertrag ausgewiesen werden) zu garantieren. Und zu   verhindern, dass diese durch einen Unterbietungswettbewerb zwischen Personalvertretern in Firmen, die im Namen der "bedrohten Arbeitsplätze" ihrer Kollegen agieren und deswegen "Opfer" in Kauf nehmen, unterlaufen werden. Die ,Loi Fillon' vom 04. Mai  2004 dreht die bisherigen Prioritäten um und stellte die Hierarchie auf  den Kopf:  Grundsätzlich hat demnach das Betriebsabkommen den Vorrang,  es  sei denn, dass das Thema eine einheitliche Regelung per Flächentaifvertrag erforderlich macht. Dem befürchteten Unterbietungswettbewerb zwischen Unternehmen und Firmen, die  gewerkschaftlich ausgehandelten  Arbeits-  und Sozialstandards   betreffend, wird dadurch Tür und Tor geöffnet. Es ist noch  zu früh,  um die genauen Konsequenzen dieser neuen Gesetzgebung näher zu  analysieren. 

März 2005, Fillon amtiert (in der Periode 2004/05) als Bildungsminister: Artikel für Artikel wird, begleitet von heftigen Protesten, sein Gesetz zur Reform der Oberschulen verabschiedet. Es dient der Umsetzung der Beschlüsse der EU von ihrem Lissabon-Gipfel betreffend "Bildungswesen und Wettbewerbsfähigkeit der EU-Ökonomien". Insbesondere sollen so genannte Schlüsselkompetenzen, die auf dem neuen Arbeitsmarkt relevant und für die Bedürfnisse der sich modernisierenden Ökonomie interessant sind, auf- und andere Bildungsinhalte und z.T. ganze Fächer abgewertet werden. Unter dem Druck einer teilweise militanten Bewegung der Oberschüler/innen kann diese "Reform" jedoch (vorläufig?) zum Großteil verhindert werden. Das Gesetz wird zwar vom Parlament angenommen, obwohl die Welle von Schul- und Rektoratsbesetzungen gleichzeitig nicht abreißt. Aber die Regierung hat in der Folgzeit davon abgesehen, die erforderlichen Dekrete mit den konkretisierenden Ausführungsbestimmungen zu erlassen. So der bisherige Stand der Dinge....

Geil: "Nationale Identität" nunmehr mit eigenem Ministerium ausgestattet 

In der französischen Innenpolitik hat Nicolas Sarkozy in der Anfangsphase erhebliche Anstrengungen darauf gesetzt, unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Symbole zu besetzen  und  sich dadurch als obersten Garanten des nationalen Zusammenhalts  zu profilieren. Im Wahlkampf hatte Sarkozy lautstark die "nationale Identität" beschworen - im März tauchte sie in einer Rede des damaligen  Kandidaten gleich 28 mal auf. Nunmehr wurde in der Sache  ein eigenes Ministerium  geschaffen, das für "Zuwanderung, Integration, nationale Identität" und Beziehungen zu den Herkunftsländern von Migranten - vornehm co-développement genannt - sowie für  Staatsbürgerschaftsfragen zuständig sein wird. Unter dem dafür ernannten Minister Brice Hortefeux (UMP) wird es in  naher Zukunft vor allem eine Verschärfung der Regeln für den Familiennachzug von Einwandern geben. Auch soll eine feste Quotenregelung für Zuwanderung eingeführt werden, durch die auch der Zuzug von Asylsuchenden nach der Genfer Konvention jährlich vorab kontingentiert wird.  

Aufgrund der Benennung des neuen Ministeriums sprachen manche Kritiker - Historiker wie Gérard Noiriel oder Juristinnen wie Danièle  Lochak - davon,  erstmals seit Vichy mache es sich der Staat zur Aufgabe, "nationale Identität" amtlich zu definieren. Als erste Amtshandlung hat Präsident Sarkozy zugleich an die Résistance angeknüpft, indem er anordnete, in allen Oberschulen zu Schuljahresbeginn den Abschiedsbrief des jungen Résistants Guy  Môquet an seine  Eltern zu verlesen. Der 17jährige Kommunist war 1941im Rahmen einer Geiselerschießung durch die nazideutsche Besatzungsmacht hingerichtet worden. Sarkozy bezeichnete Guy Môquet als Symbol der Verweigerung von "Fatalität (Schicksalhaftigkeit) und  Ehrlosigkeit", ging aber nicht näher auf die politischen Ideale des jungen Mannes ein. Kritiker sprechen davon, dass  Sarkozy vor allem die Emotion, die mit den Abschiedsworten des 17jährigen an seine Mutter verbunden sind, ausnutzen und zugleich die  Geschichte entpolitisieren wolle.  

Und versteht Sarkozy sich nicht auch selbst gern als Symbolfigur der Ablehnung von Fatalität, wenn er "soziale Besitzstände endlich antasten" und Frankreich gründlich durchreformieren möchte? Der neue Präsident behauptet, sein Aktivisismus sei die Garantie für "die  Rehabilitierung der Politik", indem er beweise, dass man mit Voluntarismus etwas erreiche und der  Staat auch in Zeiten der Globalisierung "nicht machtlos geworden" sei. Als ideologische  Grundlage für dieses Vorhaben spannt Sarkozy immer wieder gern  auch die französische Geschichte ein, als Symbol- und Emotionsquelle. Neben der Résistance knüpfte er im Wahlkampf auch wiederholt an Jeanne d'Arc an, die in den letzten Jahrzehnten auf der politischen Bühne nur durch die extreme Rechte als "Nationalheilige" beschworen und gefeiert worden war. Die "Jungfrau von Orléans" hatte im 15. Jahrhundert in der Normandie gegen die Engländer gekämpft, es war   gerade Hundertjähriger Krieg, und ist in Rouen verbrannt worden. Sarkozy zitierte sie etwa in seiner Kandidatenrede im normannischen  Caen mit glühenden Worten. Auch sie ist ihm ein Symbol für die Ablehnung von Fatalismus und für historischen Voluntarismus.     

Gleichzeitig wurde erstmals ein Schlüsselministerium mit einer Tochter von Einwanderern besetzt,  mit der 42jährigen Rachida Dati als Justizministerin. Die Tochter eines marokkanisch-algerischen Paares soll die Aufstiegschancen für  Einwandererkinder symbolisieren. Die ersten Maßnahmen, für die die ehemalige Staatsanwältin zuständig sein wird, sind im Sommer dieses Jahres die Abschaffung des Jugendstrafrechts für 16- und 17jährige und die Einführung  von Mindeststrafen - bislang legte das Gesetz nur  Höchststrafen fest und überließ ansonsten das Strafmaß dem Richter - bei mehrfach straffällig Gewordenen. Die Quotenregelung und das Erwachsenenstrafrecht ab 16 sind zwei alte Projekte Sarkozys, mit denen er unter seinem Amtsvorgänger Chirac nicht durchkam, da  seine   damaligen Regierungskollegen noch einen Bruch mit republikanischen Prinzipien befürchteten. 

Neobonapartismus? 

Eine Reihe von bürgerlichen und auch linken, v.a. libertären Kommentaren vergleichen Sarkozy gern mit den beiden Napoléons, dem Ersten und dem Dritten. (Vgl. bspw. liberterrien.blogspot.com/2007/05/noconservatisme-nobonapartisme-ou.html) Und er selbst  operiert mitunter mit ähnlichen Anspielungen, so wurde ein Ausspruch von ihm kolportiert, demzufolge er sich wünschte, dass die Medien angestellte Parallele zwischen seiner Kür zum Präsidentschaftskandidaten bei einer Zeremonie in Paris am 14. Januar 2007 und der Krönung Napoléons I. (identifikationsstiftend) in den Gedächtnissen haften bleibe. Aber der Vergleich hinkt, wie so oft.  

Der historische Bonapartismus setzte sich  in der Folge schwerer Klassenkonflikte, die aufgrund einer Pattsituation  nicht aufgelöst werden konnten, mittels der  Figur des "Einigers  der Nation" durch. Letztere Dimension nutzt Sarkozy zwar ebenfalls  zu  seinen Gunsten. Doch die historische  Parallele geht nicht völlig auf, denn wo der Bonapartismus - zumindest im Schein - eine starke Staatsmacht schuf, die "über den Klassen"  stehen sollte, verkörpert Sarkozy  längerfristig  eher eine aggressive Regierungsform des Kapitals.   

 In den letzten 15 Jahren kam es in Frankreich  zu starken sozialen Abwehrkämpfen, die jedoch bislang keine auf Dauer  durchsetzungsfähige politische Alternative hervorbrachten und nicht erlaubten, die Defensivposition  der Linken und der Lohnabhängigenklasse  zu überwinden. Die bürgerliche Rechte ihrerseits  konnte die Schalthebel  der politischen  Macht nicht dazu nutzen, um in einer größeren Offensive die angestrebten "neoliberalen  Reformen" brachial  durchzusetzen. Jacques Chirac war nicht die politische Figur, die dazu in der Lage gewesen wäre - weil er kein "historisches  Projekt" und nicht einmal ein Minimum  an  Glaubwürdigkeit  hatte, sondern offenkundig nur gewählt werden wollte  und dabei die ideologischen Moden häufiger wechselten als  die Hemden (oder Unterhosen). Sarkozy verspricht,  die Blockade aufzubrechen und - als neuer Einiger der Nation, der "das Vertrauen  auf die Politik, die  etwas bewirken kann, rehabilitiert"  und den Voluntarismus  verkörpert - die Veränderungen "von oben" durchzusetzen. Er bietet dabei aber zugleich auch an, Wünsche auf Veränderung "von unten" zu bedienen: Wenn er die "Leistungsträger"  anspricht - um Sozialneid  gegen die "Faulen in  der sozialen Hängematte" oder die "privilegierten  und ewig streikenden  Staatsbediensteten" zu schüren  -  sowie das  "Frankreich, das früh aufsteht" mitsamt seinem Leistungssinn  und Arbeitsstolz  lobt, soll sich  auch  der Prolet angesprochen fühlen. Ihm wird versprochen, "mehr zu verdienen", wenn er sich  willig  erweist, "mehr zu arbeiten" und längere Wochen- und Lebensarbeitszeiten hinzunehmen. 

Da Sarkozy im Wahlkampf weitaus mehr Dynamik ausstrahlte als Sozial-  und Christdemokraten, die mit Ségolène Royal und François Bayrou für ein "Irgendwie weiter so"  mit ein  bisschen  vager sozialer Abfederung stritten,  konnte er diese  Synthese tatsächlich  schaffen. Vorübergehend? Werden die Widersprüche, die aus den unterschiedlichen  und teilweise  gegensätzlichen  Erwartungen resultieren,  aufbrechen? Dies wird die nähere Zukunft  erweisen  müssen.    

FORTSETZUNG FOLGT IN BÄLDE.

Bernard Schmid, Paris, 12.06.2007


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