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Updated: 18.12.2012 15:51
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Präsidentschaftswahl: Polarisierung zwischen Mitte und Rechts

"Wer wird gewinnen: Schneewittchen oder der Giftzwerg? Und was steht für Lohnabhängige und Gewerkschaften dabei auf dem Spiel?" - fragt Bernard Schmid einleitend in seinem aktuellen Beitrag "Frankreich vor der entscheidenden Runde der Präsidentschaftswahl" vom 4. Mai 2007.

FRANKREICH VOR DER ENTSCHEIDENDEN RUNDE DER PRÄSIDENTSCHAFTSWAHL: POLARISIERUNG ZWISCHEN MITTE UND RECHTS

Wer wird gewinnen: Schneewittchen oder der Giftzwerg? Und was steht für Lohnabhängige und Gewerkschaften dabei auf dem Spiel?

Es ist in vielfacher Hinsicht eine Weichenstellung, die an diesem Sonntag stattfindet. Und dennoch tun sich sehr viele Leute, darunter auch Lohnabhängige und Linke ebenso wie Gewerkschafter/innen, nicht leicht mit ihrer Entscheidung. Bleibt es doch letztendlich bei der Auswahl des "kleineren" bzw. (in erster Linie) der Bestimmung des "größeren Übels", ohne dass echter Enthuasismus aufkommen könnte.

Unter den führenden Gewerkschaftern des Landes hat bislang allein Bernard Thibault (Generalsekretär der CGT, dieser "postkommunistische" Gewerkschaftsdachverband bleibt der zahlenmäßig mit Abstand stärkste) eine erkennbare Wahlempfehlung abgegeben. Er rief am 1. Mai zur Wahl der (rechts)sozialdemokratischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal auf, da die Wahl Nicolas Sarkozys mit seinem "ultraliberalen" Gesellschaftsmodell zu gravierende Folgen hätte.

Die übrigen Gewerkschaftsverbände haben ihren Mitgliedern die Wahl zwischen den beiden Kandidaten grundsätzlich offengelassen, doch ihre Spitzen tendieren überwiegend eher zu Royal. Der Generalsekretär von Force Ouvrière (FO, "unpolitisch"-populistisch, drittstärkster Gewerkschaftsbund) hat unterdessen den der rechtssozialdemokratisch-neoliberalen CFDT (zweitstärkster Gewerkschaftsbund), François Chérèque, öffentlich einer verdeckten Unterstützung für den konservativen Kandidaten Nicolas Sarkozy beschuldigt. Das ist unrichtig, und in vielen Punkten dürfte auch Chérèque zweifellos Royal vorziehen, die in wesentlichen Fragen so gut wie gar keine politische Aussage trifft, sondern auf eine "Diskussion mit den Sozialpartnern" verweist - Wasser auf die Mühlen der CFDT, die sich just die Einführung einer "Sozialpartnerschaft" und einer Art Tarifautonomie nach bundesdeutschem Vorbild als Zielsetzung gewählt hat. Die von Sarkozy geplante autoritäre Einschränkung des Streikrechts, zunächst durch Einführung einer Dienstverpflichtung (Service minimum) im Streikfalle in den öffentlichen Diensten "noch vor der Sommerpause 2007", dürfte dabei nicht so sehr auf Wohlwollen bei der CFDT stoßen.

Allerdings stimmt es, dass François Chérèque im Namen der CFDT-Spitze im Laufe des Wahlkampfs Ségolène Royal auch von Rechts her kritisiert hat. In"Libération" vom 21. März 2007 wird der Generalsekretär der CFDT jedenfalls mit den Worten zitiert, Royals Ankündigung einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC) sei "unverantwortlich". Und überhaupt sei dieser Gegenstand "Sache der Sozialpartner". Dabei hätte es gar keinen Grund zur Aufregung gegeben: Die Festlegung des gesetzlichen Mindestlohns ist in Frankreich nun mal - seit 1950 per Gesetze festgeschrieben - Aufgabe des Staates, der damit keineswegs ungebeten in die Angelegenheiten der so genannten "Sozialpartner" aufgreift, sondern nur seine Rolle ausübt. Und wenn letztere bessere Löhne (im Tieflohnbereich) aushandeln könnten und wollen würden als der vom Staat fixierte SMIC, "dann wüsste man das aber": Bisher jedenfalls liegt die Mehrzahl der untersten Branchenlöhne (zum Teil deutlich) unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns, so dass man froh sein muss, dass es den SMIC überhaupt gibt. Und Royals Ankündigung, den SMIC (derzeit 1.200 Euro brutto, 980 Euro netto im Monat, wovon man in Paris de facto so gut wie nicht leben kann) auf künftig 1.500 Euro anzuheben, hätte Chérèques Blut ebenfalls nicht in Wallung zu versetzen brauchen: Die Ankündigung bezieht sich bloß auf den Brutto-, nicht auf den Netto-Mindestlohn, und auf diese Summe anheben will Royal den SMIC lediglich bis zum Ende der Legislaturperiode (im Jahr 2012). Bis dahin wäre der SMIC allerdings, rein unter Anwendung der gesetzlichen Vorschriften (die die jährliche Anhebung des Mindestlohns um die Inflationsrate plus die Hälfte der durchschnittlichen Lohn- und Gehalts-Steigerung in Frankreich der Regierung zur Pflicht machen), ohnehin von allein in ähnlicher Höhe angekommen. Die automatische Steigerung, einen gegenüber den letzten Jahren gleich bleibenden Rhythmus vorausgesetzt, hätte den SMIC bis 2012 ohnehin zwischen 1.400 und 1.500 Euro ankommen lassen.

Insofern hat Royals Versprechen also gar keinen Inhalt. Als sich dies herumzusprechen begann, stellte Royal daraufhin eine entsprechende Erhöhung des SMIC "so schnell wie möglich im Laufe der Legislaturperiode" in Aussicht. Womit sie, einmal mehr und wie bei ihr üblich, aus heißer Luft nichts versprochen. Bei Royal wundert das nicht, ist sie doch die Meisterin der Versprechen auf "große Debatten" und "umfassende Konsultationen", um in der Sache so vage wie möglich bleiben zu können. Das Ganze heibt bei ihr"partizipative Demokratie". Dass dies aber auch bedeuten würde, dass die Teilnehmer an den ständig beschworenen "Debatten" hinterher auch die realen Entscheidungen treffen, hat sie freilich ganz klar dementiert. Auf die Nachfrage im Interview mit ’Libération1, ob sie mit ihrer Beschwörung der "partizipativen Demokratie" nicht das Risiko einer Beliebigkeit in ihren politischen Entscheidungen eingehe, antwortete Royal jedenfalls: "Ich habe ja nie gesagt, dass ich nicht hinterher, nach der Phase der Debatte, selbst die Entscheidungen treffen werde." Das rechtssozialdemokratische Geschwätz hat sich also, einmal mehr, als Luftblase herausgestellt.

Royal bietet als politisches und soziales Modell vor allem heiße Luft feil. Dagegen hat Nicolas Sarkozy ein klares, in sich stimmiges Projekt: die Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit. Verkauft wird sie unter dem Motto "Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen". Was im Umkehrschluss auch bedeutet, dass Lohnerhöhungen nicht in die Tüte kommen. Denn die von Sarkozy mit viel Rührung beschworenen Geringverdiener sollen künftig dadurch am Monatsende über die Runden kommen, dass sie ordentlich Überstunden kloppen. Dumm nur, dass das Kapital dann auch insgesamt weniger Arbeitskräfte benötigen wird...

Werfen wir noch einen kurzen Rückblick auf den bisherigen Verlauf der Wahlen, bevor das Rennen an diesem Sonntag entschieden wird - und wir dann zu Wochenanfang die entscheidenden wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen des Wahlsiegers oder aber der Wahlsiegern darlegenwerden.

Rückblick auf den ersten Wahlgang

Wollte man den Ausgang der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl vom 22. April auf einen Schlüsselbegriff bringen, so würde er lauten: Le vote utile. Der Begriff (wörtlich übersetzt "Nützlich stimmen") beinhaltet im französischen Kontext der letzten fünf Jahre vor allem die Vorstellung, dass man besser nicht so sehr seinen Überzeugungen entsprechend abstimmen soll, da man sonst mit unvorgesehenen Übeln gestraft werden könne. Eine Vernunftehe, im übertragenen Sinne auf einen Kandidaten bezogen, könne deshalb einer politischen Liebesheirat vorzuziehen sein. So hatte bei der letzten Präsidentenwahl vor fünf Jahren die Enthaltung der klassischen Wählerschaft der Linksparteien, die von der Regierungspolitik des sozialdemokratischen Premiers Lionel Jospin zum Teil bitter enttäuscht war, überraschend den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen zusammen mit Amtsinhaber Jacques Chirac in die Stichwahl befördert. Es war, wie sich jetzt zeigt, ein historischer "Wahlunfall", der nur deshalb zustande kam, weil niemand mit ihm gerechnet hatte. Entgegen vielen Unkereien und Vorhersagen blieb "der neue Ausrutscher", die - in Wirklichkeit von vielen erwartete - "völlig unerwartete Überraschung" in diesem Jahr aus.

Zugleich hat eine starke Konzentration auf die beiden großen politischen Blöcke, also auf einen sozialdemokratischen und einen konservativen Block zuzüglich eines erstarkten Zentrums rund um François Bayrou, stattgefunden. Links und Rechts davon stehende Kräfte sehen ihre Stimmenanteile zurückgehen. Dieser politische Konzentrationsprozess geht mit einem starken Anstieg der Wahlbeteiligung einher. Letztere liegt bei 84,6 Prozent (alle Ergebnisse für das europäische Frankreich ohne Überseegebiete) und damit weit höher als bei allen anderen Präsidentschaftswahlen der letzten 30 Jahre.

Spürbar geklettert ist die Teilnahme vor allem in jenen Schichten, die in den letzten Jahrzehnten dem politischen Geschehen, nicht allein in Form von Wahlen, eher fern standen. Also bei den sozial marginalisierten Bewohnern von Trabantenstädten, den abhängig Beschäftigten oder den Armen. Hier hatte man sich seit Jahren nichts von der Politik erhofft, sich nicht angesprochen gefühlt, sich selbst keinerlei Einfluss zugesprochen. Die große Wende kam nach den Unruhen in den französischen Trabantenstädten vom November 2005. Seitdem hat hier ein zuvor ungeahnter politischer Mobilisierungsschub stattgefunden, da vor allem die jüngeren Generationen nun mehrheitlich nicht mehr der Auffassung sind, dass all das Politikspektakel sie überhaupt nichts angehe. Die Figur des konservativen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy, der bis zum 26. März dieses Jahres als Innenministers im Amt blieb, personifiziert in ihren Augen in sehr hohem Maße das abweisende, reiche und repressive Frankreich, das man abzustrafen wünscht.

Die Mobilisierung zu den Urnen trägt also in diesem Jahr Züge einer starken Polarisierung, die sich aber in diesem Jahr nicht an kleineren Parteien (links von der Sozialdemokratie oder rechts von den Konservativen) festmacht, sondern sich in einem Votum für die größeren politischen Kräfte selbst ausdrückt. Ein Gutteil der zusätzlich mobilisierten Wähler ging vor allem abstimmen, um Nicolas Sarkozy (und, nebenbei, Jean-Marie Le Pen) zu verhindern. So wie umgekehrt ein Teil der besserverdienenden und/oder innenstädtischen Wähler dezidiert für einen der rechts stehenden Kandidaten votierte, "um uns den Abschaum vom Hals zu halten", und sich dabei in Sarkozys Ausspruch von 2005 über La racaille (den Abschaum, das Gesocks) wiedererkannte. Das Votum ist somit also auch Spiegelbild einer sozial auseinander driftenden Gesellschaft - wobei noch selten ein Vertreter der bürgerlichen Rechten so "komplexfrei" (décomplexé), nach eigener Begrifflichkeit, auftrat wie Nicolas Sarkozy.

Frankreichweit haben sich 1,8 Millionen erwachsene Bürgerinnen und Bürger vor dem Anmeldeschluss, der am 31. Dezember vergangenen Jahres lag, zusätzlich auf den Wählerlisten registrieren lassen. Das entsprach einem Zuwachs in den Wählerverzeichnissen um 4 Prozent. Aber im Département Seine-Saint-Denis oder "93", dem (am Pro-Kopf-Einkommen gemessen) ärmsten Bezirk der Hauptstadtregion, der die nördlichen und östlichen Pariser Trabantenstädte umfasst, beträgt er doppelt so viel, über 8 Prozent.

Längerfristige Perspektiven

Die französische politische Landschaft nimmt eine Entwicklung, die in großen Zügen mit jener in Italien während der letzten Jahre vergleichbar ist. Dabei schälen sich, längerfristig, zwei große politische Blöcke heraus. Auf der einen Seite steht ein "Mitte-Links-Pol", innerhalb dessen klassische Sozial- und Christdemokraten sich derart annähern, dass sie kaum noch voneinander unterscheidbar werden. Den anderen Pol könnte man als erneuerte, "harte Rechte" bezeichnen.

Die erstere Variante verbindet sich derzeit mit den Namen Ségolène Royal und François Bayrou, die zweite mit dem des mehrjährigen Innenministers Nicolas Sarkozy. In den zwei Wochen zwischen den beiden Durchgängen der französischen Präsidentschaftswahl haben sich die beiden erstgenannten Protagonisten einander spürbar angenähert. Am vergangenen Samstag debattierten Royal und Bayrou, der Wahlverlierer in der ersten Runde, im Fernsehsender BFM TV miteinander und unterstrichen Gemeinsamkeiten, aber auch ein paar inhaltliche Unterschiede - darauf kam es nicht an, vor allem das Symbol zählt. Eine offene Wahlempfehlung für die Kandidatin Royal sprach der christdemokratische Politiker Bayrou zwar nicht aus, denn das würde seine Partei, die UDF, zur Explosion bringen: Ihre Mitglieder stehen historisch klar eher rechts als links, aber ein bedeutender Teil von Bayrous Wählern bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl kam von der moderaten Linken. Es handelte sich überwiegend um sozialdemokratische Wähler, die taktisch wählten, da sie Royal nicht zutrauten, in der Stichwahl gegen Sarkozy zu siegen - dem Mitte-Rechts-Politiker dagegen schon eher. Diese Wähler umwirbt Royal nun vorrangig, wobei sie sichzu Wochenanfang in "Le Monde" aber auch bereit erklärte, Bayrou im Falle eines Wahlsiegs eventuell zu ihrem Premierminister zu machen. Eine ähnliche Annäherung zwischen Royals Parti Socialiste (PS) und der UDF hatten im Wahlkampf bereits führende Protagonisten des wirtschaftsliberalen PS-Flügels gefordert, darunter Ex-Premier Michel Rocard, Ex-Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn und der ehrgeizige Streber Bernard Kouchner. Akzidentell und nur der Konjunktur der Wahlprognosen geschuldet ist das auf keinen Fall. Rocard hatte von 1988 bis 91 unter Präsident François Mitterrand bereits mit UDF-Ministern regiert, in einem "Kabinett der Öffnung". Nur hatte das damals noch nicht dieselbe Bedeutung, da der bis dahin bestehende Sozialstaat noch nicht annähernd in vergleichbarem Ausmab durch neoliberale "Reformen" aufgebrochen worden war. Die zweite Amtszeit Mitterrands, ab 1988, markierte in dieser Hinsicht sogar eher eine "Reformpause" nach der rechten Sturm-und-Drang-Phase des Kabinetts von Premierminister Chirac in den zwei Jahren zuvor. Heute hingegen besteht ein völlig anderer Kontext.

Auf dem rechten Pol wiederum ist es gelungen, einige ehemalige Neofaschisten ins bürgerliche politische Spiel zu integrieren. Im französischen Falle geht es dabei eher um die Wähler denn um die Kader, im Unterschied zu Italien: Rund "0 Prozent der bisherigen Wähler Jean-Marie Le Pens hat der stramme Kandidat der Konservativen, Nicolas Sarkozy, bereits im ersten Wahlgang direkt für sich gewonnen. In vielen Regionen, wie dem Elsass und der Côte dAzur, lässt sich der Aufschwung für die Konservativen unmittelbar mit dem Rückgang der Nationalen Front (FN) zahlenmäßig verknüpfen. Auch rechts versteht man eben mitunter, für das "kleinere Übel" zu stimmen. Der harte Kern der extremen Rechten möchte dagegen dem Sog hin zu Sarkozy widerstehen: Le Pen selbst rief am 1. Mai zur Wahlenthaltung in der Stichwahl auf. Eine Hintertür für spätere Annäherungen hielt er sich allerdings offen, da er sein Angebot von Anfang April erneuerte, im Falle einer tieferen Krise in ein "Kabinett der nationalen Rettung" unter konservativer Führung einzutreten. Und zwei Drittel seiner Wähler aus der ersten Runde wollen trotz allem im zweiten Durchgang für Sarkozy votieren.

Die Unterscheidung zwischen den beiden Blöcken markiert dabei vor allem die Geschwindigkeit beim "Umbau des Sozialstaats", also bei der Abtragung bisheriger gesellschaftlicher Errungenschaften sowie ihrer Anpassung an die Bedürfnisse eines modernisierten und von vielen früheren Fesseln befreiten Kapitalismus. "Links" - aber dieser Begriff hat in dem Zusammenhang kaum noch einen Sinn - versucht man dabei, noch einiges von den Trümmern des historischen Sozialstaats zu bewahren und dem nationalen Standortstaat seine "Wettbewerbsfähigkeit" im internationalen Wirtschaftskrieg vor allem durch erhöhte Bildungsausgaben zu garantieren. Letztere bildeten etwa eines der herausragenden und ernsthaftetesten Wahlkampfversprechen der Kandidatin Ségolène Royal. Also, kurz und knapp, es geht darum, ins "Humankapital" zu investieren, soweit die Menschen sich als solches verhalten wollen - wenn nicht, soll aber mit der "sozialen Hängematte" auch rasch Schluss sein, wie Royal mit ihrem Lob der "valeur travail" (Arbeit als Werthaltung) ebenfalls verdeutlichte. Rechts, und diesen Begriff kann man getrost ohne Anführungszeichen verwenden, rückt man den bestehenden sozialen Garantien schneller und brutaler zu Leibe. Zum Ausgleich gibt es Brot und Spiele. Also konkret: das Versprechen auf Erfüllung von Bestrafungswünschen, und ab und zu spektakuläre Polizeieinsätze, die den zum Mitmachen Bereiten stets aufs Neue vorführen sollen, dass gegen die Anderen - "das Gesindel", die Bewohner von Sozialghettos und Trabantenstädten - hart vorgegangen wird, damit sie selbst sich "dazugehörig" fühlen dürfen. Ach ja, das Brot: "Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen" verspricht Sarkozy denen, die bereit sind, dieÜberstunden zu vervielfachen, "früher aufzustehen" oder am Wochenende zu schuften. Das bedeutet im Klartext: Lohnerhöhungen kommen nicht in die Tüte, aber wer das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit als gegeben hinnimmt und das Rückgrat beugt, für den oder die soll - dank Mehrarbeit - am Ende auch zusätzlich etwas abfallen. Dumm nur, dass das Kapital mit diesem Programm zugleich weniger Arbeitskräfte benötigen wird.Ausblick und Bewertung Zwischen den beiden Blöcken gibt es, ja, tatsächlich ein "gröberes Übel".

Man darf auf gar keinen Fall darauf hoffen, dass sich im Falle eines Wahlsiegs Ségolène Royals am 6. Mai irgend etwas verbessern würde. Aber man kann getrost sicher sein, dass sich mit Nicolas Sarkozy als Präsident vieles in einem rasanteren Tempo und auf brutalere Art und Weise verschlechtern würde. Insofern ist zu hoffen, dass die Wähler am 6. Mai eine Richtungsentscheidung treffen zwischen den Trümmern des Sozialstaats und einem Parfoceritt in einen autoritaristischen Wirtschaftsliberalismus. Viele ihrer Wähler auch schon im ersten Wahlgang kneifen sich über Ségolène Royal die Nase zu, betonen ihre Inkompetenz, Arroganz und ihre Appelle an reaktionäre "Werte". Zu Recht. Aber das ist gut und nicht schlecht: Je illusions- und hoffnungsloser sie - so ist zu hoffen - am 6. Mai für Royal votieren, desto weniger lassen sich diese Stimmen als Unterstützung für die nächste Regierung werten. Diese wird, möglicherweise in verlangsamtem Tempo als in den letzten fünf Jahren, ebenfalls an der Verschärfung der kapitalistischen Realitäten arbeiten. Je weniger reale Zustimmung es dafür gibt und je eher die Stimmen für Royal nur ein vote anti-Sarkozy darstellen, desto bessere Aussichten bietet das für künftige gesellschaftliche Kämpfe.

Es böte eventuell auch neue Perspektiven für die Linke, diesseits der neuen Achse Royal/Bayrou - falls diese es denn schafft, zum Ausdruck der künftigen sozialen Bewegungen und Kämpfe zu werden.

Nicht unmöglich ist, im (derzeit sehr wahrscheinlichen) Falle eines Wahlsiegs Nicolas Sarkozys, aber auch ein Szenario, in dem ein allgemeiner Ruck des Widerstands ausbleibt und auf breiter Front eher Resignation vorherrscht, es aber gleichzeitig zu zahlreichen "Mikrorevolten" und Phänomenen (perspektivlosen, örtlich begrenzten) Aufruhrs kommt. Lokale"trouble spots" könnten natürlich vor allem in den banlieues, in den Sozialghettos der Trabantenstädte rund um Paris und Lyon, erneut entstehen.

Aber gleichzeitig bestünde das Risiko, dass das Aufflammen solcher lokaler Revolten oder Riots zugleich den Rest der Gesellschaft (oder einen Gutteil davon) gegen die Bewohner dieser Zonen aufbringt, und dass die Gräben quer durch die Gesellschaft nur noch tiefer werden. Keine angenehme, aber kurzfristig durchaus eine realistische Perspektive.

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UND DIE LINKE?

Die Linkskräfte außerhalb der Sozialdemokratie wurden durch den massiven Trend zum "Sarkozy-Verhindern" mittels der Wahl Royals oder Bayrous relativ stark dezimiert. Der Rückgang betrifft einerseits die Regierungspartner der Sozialisten aus der Vergangenheit, die KP (mit 1,9 Prozent für ihre ehemalige Jugend- und Sportministerin und Parteichefin Marie-George Buffet, gegenüber ","5 Prozent für ihren Kandidaten Robert Hue vor fünf Jahren) und die Grünen mit 1,5 Prozent für Ex-Umweltministerin Dominique Voynet (zu vergleichen mit den 5,3 Prozent für ihren damaligen Kandidaten Noël Mamère im Jahr 2002). Er betrifft andererseits auch die marxistische radikale Linke. Unter letzterer erlebte die Alttrotzkistin Arlette Laguiller, mit 1,3 Prozent (gegenüber 5,7 Prozent im Jahr 2002) den stärksten Rückgang. Bei ihrer sechsten und letzten Präsidentschaftskandidatur hat sie den Preis dafür bezahlt, dass ihre Partei Lutte Ouvrière (LO) sich sowohl aus den Mobilisierungen gegen Le Pen zwischen den bei-den Wahlgängen 2002, als auch aus dem Abstimmungskampf der Linken gegen den EU-Verfassungsvertrag von 2005weitgehend herausgehalten hat.

Die revolutionäre Linke

Die radikale, marxistisch geprägte Linke, die in den achtziger und neunziger Jahren bei Wahlen vorwiegend durch Arlette Laguiller vertreten wurde, hat eine Umgruppierung erfahren. Denn mit Olivier Besancenot von der undogmatischen Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), die aus der Revolte des Mai 1968 heraus entstand, hat sich nur ein Kandidat links von Ségolène Royal relativ erfolgreich halten können. Er erhielt mit 4,1 Prozent proze-nentual fast dasselbe Resultat wie 2002 (4,3 Prozent), aber in absoluten Zahlen rund 300.000 Stimmen mehr: 1,5 gegenüber damals 1,2 Millionen . Dagegen konnte der parteilose Linkspopulist, Globalisierungskritiker und frü-here "Bauernrebell" José Bové offenkundig nicht überzeugen. Nach einem von vielen als orientierungslos und konfus erlebten Wahlkampf erhielt er nur 1,3 Prozent.

Neu ist, dass alle wichtigen Linkskandidaten sehr schnell Stimmabgabe im zweiten Wahlgang aufriefen. Ungewohnt ist dies bei Arlette Laguiller, da ihre Partei LO seit 1988 (unter François Mitterrand) aufgehört hatte, Wahlempfehlungen zugunsten der etablierten Linksparteien für die Stichwahl abzugeben. Die LCR Olivier Besancenots hatte dies hingegen noch bis 2001 regelmäßig getan, war aber dann unter der Jospin-Regierung von dieser Praxis abgerückt. Aber am ersten Wahlsonntag (22. April) abends verkündete Arlette Laguiller ihren Aufruf für die zweite Runde -- zugunsten von Ségolèje Royal -- gegen 20.40 Uhr und damit noch vor ihrem undogmatischeren Pendant Olivier Besancenot. Dessen Ansprache war zwar schon für 20.15 Uhr angesetzt, fand aber erst kurz vor 21 Uhr statt. Wohl, weil hinter den Kulissen die Fetzen flogen, einen Wahlaufruf für die Tony Blair nahe stehende sozialdemokratische Kandidatin betreffend. Manche der Anhänger des linksradikalen Kandidaten favorisierten ähnlich wie bei früheren Anlässen einen deutlichen Stimmaufruf, andere dagegen einen Aufforderung an Royal, sich die entsprechenden Voten durch eine Schärfung der eigenen sozialen Forderungen "selbst zu verdienen". Letzlich kam eine Kompromissforderung heraus: Man rede keinem zustimmenden Votum "für Ségolène Royal" das Wort, wohl aber einer Stimmabgabe "gegen Nicolas Sarkozy".

José Bové opportunistisch

Auch Bové, die KP- und die Grünen-Kandidatin riefen zur Stimmabgabe für Royal in der zweiten Runde auf. Im Gegensatz zu Laguiller und Besancenot stünden die letzteren im Prinzip für Gespräche über die Bildung einer neuen Regierung im Falle eines linken Wahlsiegs auch bei den Parlamentswahlen im Juni zur Verfügung. José Bové hat inzwischen eine "Mission" von Ségolène Royal akzeptiert, und wird für die rechtssozialdemokratische Kandidatin einen Bericht über "Ernährungssouveränität und Globalisierung" verfassen. Am vergangenen Wochenende flogen deswegen auch bei einem Treffen der"anti-neoliberalen Kollektive", bzw. jenes Teils unter ihnen, der die Kandidatur Bovés unterstützt hatte, vernehmlich die Fetzen. Dass der Mann derart schnell der rechtssozialdemokratischen Kandidatin in die Arme sinken würde, rief denn doch Enttäuschung hervor.

Post scriptum:

Bewusst ausgeklammert bleiben wurde bislang noch ein weiterer Kandidat, der durch die bürgerlichen Medien ebenfalls unter die Rubrik "links" subsumiert wurden und der 0,3 Prozent der Stimmen erhielt (und damit immer noch 0,3 Prozent zu viel). Unter ferner liefen rangiert Gérard Schivardi, der Kandidat einer gruselig-autoritären Politsekte namens Parti des travailleurs (PT, Partei der Werktätigen), die zu den Grufties unter den Marxisten zählt, völlig intransparent ist und in ihren Wahlparolen faktisch "Früher war alles besser" verkündet. Schivardi, der die supranationale Einbindung Frankreichs für alle sozialen Übel verantwortlich macht, die Rückkehr zur vollen nationalen Souveränität fordert und den sofortigen Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union propagiert, blieb mit seinen 0,3 Prozent (gegenüber 0,47 Prozent für den PT-Kandidat Daniel Gluckstein im April 2002) der bedeutungsloseste unter allen Kandidaten. Und das war redlich verdient. Aufgrund demagogischer Formulierungen, die zur Täuschung der Wähler geeignet schienen, wurden seine Wahlplakate und Wahlzettel im Übrigen im Vorfeld durch das Verfassungsgericht beanstandet. In Frankreich zeichnen die Wähler keine Kreuzchen, sondern werfen eines von mehreren bereit liegenden Bulletins in einem Umschlag in die Wahlurne, die anderen in einen Papierkorb, der in der Wahlkabine bereit steht. Alle Kandidaten und Parteien müssen ihre jeweiligen Wahlscheine selbst drucken, die sie dafür frei beschriften können, sondern sie keine irreführenden Angaben beinhalten. Nach der Beanstandung durch das Verfassungsgericht musste die Politsekte, die den Kandidaten Schivardi unterstützt, nun über 20 Millionen Zettel neu drucken. Auf den PT-Wahlzetteln war Gérard Schivardi, der als Bürgermeister eines kleinen Kaffs in der Nähe von Montpellier amtiert, zunächst als "der Kandidat der Bürgermeister" (candidat des maires) präsentiert worden. Was wiederum der Vereinigung der Bürgermeister Frankreichs (Association des maires de France) missfiel, deren Mitglieder überwiegend nicht mit dem Sektenkandidaten in Verbindung gebracht werden mochten. Daraufhin mussten die Wahlzettel umgedruckt werden: Schivardi firmierte nun noch als "Kandidat von Bürgermeistern" oder "candidat DE maires" (sic) auf den Stimmbulletins. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen...

B. Schmid (Paris)


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