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Updated: 18.12.2012 16:00
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Villepin ist Millionär.

Eine Million auf erster Herbstdemonstration gegen Kahlschlagpolitik der Regierung

Der Gekreuzigte wird mit Fliegenwedeln gepeinigt, während ihm die Perücke ins Gesicht rutscht. "Testen Sie Ihre Flexibilität!" steht auf dem runden Balkengerüst, auf dem ein Clown mit ausgestreckten Armen und Beinen unter dem Namensschild der Zeitarbeitsfirma Manpower festgebunden ist. Es wird von mehreren Perückenträgern in schweren Ketten und mit roten Clownnasen gezogen. Diese Agitpropaktion haben sich junge Zeitarbeiter und Praktikanten ausgedacht, die für November zu einem erstmaligen landesweiten Praktikantenstreik aufrufen: Dieser Status werde hemmungslos missbraucht, um junge Arbeitssuchende zu kostenloser oder unterbezahlter Tätigkeit zu nötigen.

Es handelt sich nur um eine der witzigen Einlagen, die am Dienstag dieser Woche den Pariser Protestzug prägten, der nach unseren Beobachtungen rund 100.000 Menschen auf die Beine brachte. Die offenkundig zu niedrig angesetzten Angaben der Polizeipräfektur - sie beliefen sich zunächst auf 30.000 - mussten im Laufe des Abend noch auf 75.000 hoch korrigiert werden, während die Gewerkschaften und die Boulevardzeitung Le Parisien eine doppelt so hohe Teilnehmerzahl angeben. Landesweit gingen rund eine Million Menschen auf die Straße (Polizei: 470.000, Gewerkschaften: 1,2 Millionen). Zu den beliebtesten Motiven in den Protestmärschen gehörte die, aus dem bürgerlich-konservativen Regierungslager immer wieder angekündigte oder eingeforderte, "Reform des Arbeitsgesetzbuchs". Ein Zylinderhut tragender Demonstrant der Angestelltengewerkschaft CGC etwa trug ein zerfleddertes Exemplar des Code du travail vor sich her, aus dem er immer wieder Seiten heraus riss und vor sich her streute, solange er das rote Buch nicht mit einem Plastikhammer bearbeitete.

Über drei Viertel des Pariser Protestzuges stellte indes die "postkommunistische" CGT, während die eher auf Kompromisse mit Regierung und Arbeitgeberlager setzenden Gewerkschaften weitaus schwächer mobilisieren konnten. Bei der Gewerkschaft der höheren Angestellten, CGC, und dem "unpolitischen" Gewerkschaftszusammenschluss UNSA dominierten die Polizeigewerkschaften. Die rechtssozialdemokratische CFDT brachte kaum über 1.000 DemonstrantInnen auf. - Ein weiterer Schwerpunkt der Mobilisierungen lag in Marseille (30.000 Demonstranten laut der Polizei, 100.000 laut VeranstalterInnen), wo die drohende Privatisierung der Schifffahrtsgesellschaft SNCM - Betreiberin der Fährlinien nach Korsika und Algerien - und des Freihafens einen der größten Wirtschaftsfaktoren der Region trifft.

Die Protestzüge vom Dienstag in über 150 französischen Städten, zu denen ausnahmsweise sämtliche Gewerkschaften sowie eine Reihe von Bürgerinitiativen zusammen aufgerufen hatten, fielen auf den Tag der ersten Sitzung in der Nationalversammlung nach der parlamentarischen Sommerpause. Deswegen bündelten sie unterschiedliche Protestmotive und Gründe für Unzufriedenheit mit der neoliberalen Regierungspolitik: Kaufkraftverlust, Explosion der Mieten (im Durchschnitt plus 20 Prozent seit 2001), Massenentlassungen wie etwa derzeit bei Hewlett Packard, wo mehrere hundert Arbeitsplätze von Grenoble nach Indien verlagert werden. Es gab jedoch einen konkreten Auslöser, der dafür sorgte, dass sämtliche Organisationen der abhängig Beschäftigten sich Anfang September auf den gemeinsamen Termin einigen konnten.

Mitten im Hochsommer und während der Urlaubssaison hatte das Regierungskabinett unter Premierminister Dominique de Villepin eine Reihe besonders umstrittener "Reformen" verabschiedet, um den zu erwartenden Widerständen zuvor zu kommen. Dazu gehört die Abschaffung des Kündigungsschutzes während der ersten zwei Jahre des Arbeitsverhältnisses, die in Gestalt des "Neueinstellungsvertrages" zunächst für die kleineren und mittleren Betriebe eingeführt wurde. Der neue Vertragstyp, der angeblich die Beschäftigung in mittelständischen Betrieben ankurbeln soll, führt nach Ansicht von Kritikern dazu, dass alle verbrieften Rechte der Betroffenen nur noch Makulatur sind. Der abhängig Beschäftigte hat das Recht, unbezahlte Überstunden oder Sonntagsarbeit zu verweigern? Sicherlich - aber wenn er zwei Jahre lang ohne jede Angabe von Gründen gefeuert werden kann, dürfte er seine Rechte kaum geltend machen... Premier Villepin überlegt nach eigenen Angaben derzeit, ähnliche - wenngleich nicht identische - Bestimmungen auch für die größeren Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten zu kreieren. Eine weitere "Reform" sorgt dafür, dass die unter 26jährigen zukünftig bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl, welche etwa über die Möglichkeit der Einrichtung eines Betriebsrats oder einer Gewerkschaftsvertretung entscheidet, nicht mehr einbezogen werden. In vielen Fastfoodrestaurants oder Dienstleistungsbetrieben, die vorwiegend junge oder studentische Arbeitskräfte beschäftigen, dürfte damit künftig die Interessenvertretung sehr schwer werden. Nicht zuletzt wurde, ebenfalls im August, der Umgang mit den Arbeitslosen drastisch verschärft: Finanzielle Sanktionen wie die Kürzung oder Streichung der Stütze werden erleichtert, der Zwang zur Annahme von Arbeitsangeboten auch zu ungünstigen Bedingungen wird erhöht.

Allgemein lässt sich eine große Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Gesellschaft, die mit dem mehrheitlichen Nein-Votum beim Referendum über den neoliberalen Verfassungsvertrag im Mai deutlich wurden, und der seitdem verfolgten Regierungspolitik feststellen. Die vorherige Regierung unter dem extrem unpopulären Premier Jean-Pierre Raffarin musste zwar nach dem Misserfolg der Regierung beim EU-Referendum vom 29. Mai abtreten. Doch nachdem Raffarin in die Wüste geschickt war, hat das neue Kabinett unter Villepin den bisherigen antisozialen Kurs nur noch verschärft, im Namen des angeblichen "Krieges gegen die Arbeitslosigkeit". Villepin steht dabei im Wettlauf mit seinem radikal wirtschaftsliberalen Herausforderer und Innenminister Nicolas Sarkozy, der sich längst auf die Präsidentschaftskandidatur im Frühjahr 2007 vorbereitet und von seinem Regierungsamt aus Töne spuckt, als sei er der Oppositionsführer von rechts.

Bernard Schmid, Paris am 5. Oktober 2005


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