letzte Änderung am 7. Oktober 2003

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Zum Stand der sozialen Bewegungen in Frankreich

  1. Neue Austrittswelle aus der CFDT
  2. Die Bewegung der Kulturschaffenden hält an
  3. Öffentliche Dienste : Bewegung im " Wellental "
  4. Und die Privatindustrie?
  5. Drastische Einschränkungen für Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger
  6. Arbeitslose wehren sich - AKTUELL
  7. Neue Offensive der Regierung; derzeit im Visier: 35-Stunden-Woche, Streikrecht und Arbeitsgesetzbuch (ODER: Das Massaker-Spiel)

Die gute Nachricht zuerst, oder zumindest eine der guten Nachrichten: Der sozialliberale Gewerkschaftsbund CFDT (Französischer demokratischer Arbeiterverband), der anlässlich der Streikwelle gegen die so genannte Rentenreform im Frühjahr die konservative Regierung von Jean-Pierre Raffarin unterstützte, scheint vor einer stärkeren Austrittswelle zu stehen. Damit deutet sich für die nahe Zukunft eine Umgruppierung der französischen Gewerkschaftslandschaft an.

Austrittswelle aus der CFDT

 Eine außerordentliche Delegiertenkonferenz der CFDT-Branchengewerkschaft bei den Eisenbahnern und Transportarbeitern (CFDT-FGTE) am Mittwoch und Donnerstag vorletzter Woche wurde zum Anlass, um Bilanz zu ziehen. Für die Mehrheit der Linksopposition innerhalb der CFDT ist es jetzt Zeit zu gehen. Denn die Führung des Dachverbands, die sich am Vorbild der deutschen Gewerkschaften und der "Sozialpartnerschaft" orientiert, hatte sowohl beim Streik der öffentlichen Dienste im Herbst 1995 als auch in diesem Jahr jeweils konservative Regierungen gegen soziale Bewegungen unterstützt. Die FGTE bildete bisher eine der Hochburgen der innergewerkschaftlichen Opposition; anders als der Dachverband nahm sie jeweils an den Streikbewegungen teil.

Da die Satzung eine Drei-Viertel-Mehrheit für den kollektiven Austritt des Branchenverbands aus dem Gewerkschaftsbund erfordert, entschieden sich die Transportgewerkschafter anders. Jede der 118 Einzelgewerkschaften, die die FGTE zusammensetzen, soll für sich über einen Abgang entscheiden. Aber viele Mitglieder kehren dem Verband auch bereits inviduell den Rücken. So haben 14 von insgesamt 25 Vorstandsmitgliedern der FGTE ihren Austritt erklärt.

Für die kommenden Monate wird mit dem Abgang eines Drittels der insgesamt 60.000 Angehörigen des Branchenverbands gerechnet. Hervé Alexandre von der nationalen Gewerkschaft der Wettervorhersage, die aus historischen Gründen der FGTE angegliedert ist, ein bisheriges Führungsmitglied des Branchenverbands, schildert die derzeitige Unübersichtlichkeit: "Vor allem die Eisenbahner werden zum großen Teil zur CGT gehen, nachdem schon seit dem Frühsommer mit dem ehemals KP-nahen Gewerkschaftbund verhandelt worden ist ­ das ist teilweise mit Illusionen über dessen k¨ämpferischen Charakter verbundenŠ Eine Minderheit wird zur linksradikalen Basisgewerkschaft SUD gehen. Andere wiederum, wie unsere Gewerkschaft, gehen eher zum Verband der Lehrergewerkschaften FSU, der sich in naher Zukunft vom Bildungswesen auf den gesamten öffentlichen Dienst ausweiten wird. Und wieder andere, wie die Lastwagenfahrer, wollen vorerst als Linksopposition innerhalb des alten Dachverbands bleiben ­ mal sehen, wie lange sie das durchhalten werden."

Der Gewerkschafter rechnet mit insgesamt an die 100.000 Austritten aus der CFDT, die derzeit real um die 600.000 Mitglieder zählt ­ die offiziellen Angaben sind um ein Drittel höher, aber aufgebauscht. "Alle CFDT-Verbände der Region Auvergne sind bereits geschlossen zur CGT übergetreten", sagt Alexandre, "und die Gewerkschaften der Kommunalbediensteten in Paris und im Pariser Umland sind teilweise schon im Juni ausgetreten."

Die führenden Medien veranschlagten die Zahl der zu erwartenden Austritte unmittelbar nach der FGTE-Tagung zunächst mit 10.000 bis 15.000 (Libération) oder "bis 20.000" (Le Monde). Doch Hervé Alexandre hält diese Zahlen für untertrieben und meint, sie rührten daher, "dass die Journalisten die gewerkschaftlichen Milieus an der Basis der CFDT kaum kennen". Seitens des Dachverbands gibt man sich selbstverständlich alle Mühe, das Phänomen kleinzureden und herunterzuspielen; von hier aus wird gar (in Pressegesprächen) verlautbart, die CFDT erleide gar keine Verluste, sondern nur den Abgang von Leuten, "die ohnehin seit längerem gehen wollten, und deren Gehen uns die gewerkschaftliche Arbeit erleichtern wird". Das Pfeifen im dunklen Walde?

Am vorigen Freitag wurden neue Austritte bekannt. So hat die Hälfte der CFDT-Sektion unter den Beamten und Angestellten des nationalen Arbeits- und Sozialministeriums (rund 700 Mitglieder) dem Dachverband den Rücken gekehrt.

Die soziale Bewegung macht Pause

Diese Umgruppierung der gewerkschaftlichen Landschaft, die dessen "sozialpartnerschaftlich" orientierten Flügel ­ der die Ergebnisse aus der Eigendynamik des kapitalistischen Entwicklungsprozesses lediglich verwalten will ­ schwächt, geht aber derzeit nicht mit einem Anwachsen sozialer Kämpfe und Konflikte einher. Vielmehr erfolgt sie im "Wellental", das auf die starken sozialen Bewegungen vom Frühsommer dieses Jahres folgt.

Zwar hält die Protestbewegung der prekären Kulturschaffenden (intermittents), deren Unterstützung aus der Arbeitslosenkasse in naher Zukunft drastisch reduziert werden wird, nach wie vor an. Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern, wie es sie etwa in Paris zuletzt am vergangenen Donnerstag gab ­ an deren Rande aber eine geplante Störungsaktion bei Dreharbeiten des Privatsenders M6 durch die Poliei verhindert werden konnte -, wechseln sich ab mit örtlichen Interventionen bei Aufführungen, die das Theater- oder Konzertpublikum einbeziehen sollen.

Die Bewegung der Kulturschaffenden hält an

Auch fantasievolle Aktionsformen kommen nicht zu kurz. So, als Mitte September einige Kulturschaffende als Fassadenkletterer den neuen Hauptsitz des Arbeitgeberverbands MEDEF, der seit dem Hochsommer im teuren 7. Pariser Bezirk ansässig ist, bestiegen. Die Hausherren hatten alle Mühe, die mit Transparenten ausgestatten ungebetenen Gäste wieder loszuwerden.

Durch die halbwegs spektakuläre Besetzung des Pariser Stadttheaters an der zentralen Place du Châtelet, die kurz stattfand, verfügen die streikenden Kulturschaffenden der Hauptstadt nun auch über ein zentral gelegenes und Aufmerksamkeit schaffendes "Hauptquartier". Bis dahin waren sie zwei Wochen lang in einem ehemaligen Polizeikommissariat unweit des Zentrums untergebracht, das außer Betrieb war und sich für die Bedürfnisse der Streikkoordination rasch als zu eng erwies. Das ehemalige Kommissariat war ihnen durch die Stadt Paris zur Verfügung gestellt worden, nachdem die Koordination der intermittents und Prekären aus der während der Sommermonate Juli und August genutzten Salle Olympe de Gouge im 11. Bezirk ausgezogen war. Dem zugrunde lag eine Absprache mit der Stadt Paris: Diese hatte die Besetzung den ganzen Sommer über geduldet, im Gegenzug hatten die intermittents versprochen, den Saal Anfang September für dort stattfindende Kulturveranstaltungen zu räumen. Das hatten sie dann auch getan.

Am Mittwoch voriger Woche, dem 1. Oktober, gelang es einer Handvoll von Kulturschaffenden, sich in Toulouse ­ zunächst unerkannt - zu einem Kolloquium mit dem MEDEF-Vorsitzenden, Baron Antoine-Erneste de Seillière, einzuladen. Thema waren "Jugendliche im Unternehmen". Nach einer über anderthalbstündigen Rede "des Barons", wie der MEDEF-Kapitän oft kurz genannt wird, gelang es einer jungen Frau, die unschuldige Frage zu stellen, ob der MEDEF nicht "eine Gesellschaft ohne jede Solidarität, mit einem Höchstmaß an Prekarität" anstrebe. Das darauf folgende brutale Eingreifen des Ordnerdienst sorgte für - unerwartete ­ Solidarisierungseffekte im jungen Teil des Publikum. Gleichzeitig gelang es einigen intermittents, mehrere elektrische und ISDN-Kabel des Kongresszentrums lahmzulegen. Einige Meter weiter demonstrierten rund 200 Kulturschaffende gegen den MEDEF.

Am 9., 10. und 11. Oktober wird erneut ein landesweites Treffen der knapp 30 regionalen und Städte-Koordinationen der Kulturschaffenden und Prekären stattfinden, dieses Mal in Marseille.

Dennoch bleibt der Ausstand der intermittents derzeit gesamtgesellschaftlich eher isoliert, während eine seiner Stärken während des Sommers noch die Verbindung zu den sozialen Bewegungen in vielen anderen Sektoren ­ etwa gegen die am 24. Juli vom Parlament verabschiedete Rentenreform - gewesen war. Dadurch sollte eine korporatistische Verengung auf reine Berufsgruppeninteressen vermieden, und eine Debatte sowohl um die Prekarität, welche die intermittents mit anderen sozialen Gruppen teilen, als auch um den gesellschaftlichen Stellenwert von Kultur eröffnet werden. Doch eine verschiedene gesellschaftliche Bereiche übergreifende Bewegung (etwa zum Generalstreik) ist momentan nicht in Sicht.

Öffentliche Dienste : Bewegung im " Wellental "

Einer der Gründe dafür ist, dass die im Frühsommer besonders stark in der Streikbewegung engagierten Lehrer und Lehrerinnen derzeit durch die Verwaltung in den finanziellen Würgegriff genommen werden. Da es in Frankreich in der Regel keine Streikkassen gibt ­ was im Gegenzug den immensen Vorteil hat, dass die Gewerkschaftsapparate die Entwicklung einer Streikbewegung nur sehr bedingt kontrollieren können -, bedeutet eine Arbeitsniederlegung für die Beschäftigten meist den Verlust von Lohn oder Gehalt. Für viele Lehrer beläuft sich diese Einbuße für das vergangene Frühjahr auf bis zu zwei Monatsgehälter. Von der französischen Post wird Ähnliche berichtet, was den "harten Kern"der Streikbewegung rund um die dort einflussreiche Basisgewerkschaft SUD-PTT betrifft. (Nur eine Minderheit der Postbeschäftigten hatte das gesamte Streikfrühjahr hindurch die Arbeit niedergelegt, während eine Mehrheit nicht so richtig an den Erfolg glauben wollte und nur während der landesweit durch die CGT ausgerufenen "Aktionstage" periodisch in den Ausstand trat.) So rechnet das Gründungsmitglied von SUD-PTT, Guy Freche, in Paris mit dem Verlust von zwei Monatsgehälter: "Noch nie in meinem Leben war ich wirklich abgebrannt, aber im Moment bin ich deswegen total pleite!"

Für Lohn-Zurückbehaltungen im öffentlichen Dienst erreichen nach Angaben des französischen Finanzministeriums ingesamt 800 Millionen Euro. Die linksliberale Tageszeitung "Libération" (vom 3. Oktober) meinte deswegen bereits ironisch, die Streiks seien"für den Staat rentabel" (Artikelüberschrift) und Gewinn bringend. Angesichts der genannten Summe von fast einer Milliarde und der Reaktionen sah sich das Wirtschafts- und Finanzministerium am Freitag veranlasst, in öffentlichen Erklärungen zu dementieren, die Lohn-Einbehaltungen seien bereits als struktureller Baustein der Sparpolitik in das Regierungskalkül eingegangen...

Im öffentlichen Dienst war bisher Tradition, dass die Gehaltsabzüge während der nachfolgenden Monate über einen längeren Zeitraum gestreckt wurden, wobei die Modalitäten Verhandlungsgegenstand waren. Die jetzige Regierung aber hat sich im Lauf des Sommers (per Anordnung des Bildungsministers vom 4. August) darauf festgelegt, keinerlei Konzessionen zu machen und "das Gesetz in seinem Worlaut anzuwenden".  Seit Juli oder August sind viele Lehrer daher mit Abzügen bis zu 1.500 Euro konfrontiert, und zumindest wer eine Familie ernähren muss, hat oft ziemlich daran zu schlucken.

Für vermehrte Wut an der Basis sorgte die Tatsache, dass die Abzüge in der Praxis oft von Region zu Region, ja von Schule zu Schule sehr unterschiedlich gehandhabt wurden. Einige sehen darin ein macciavellistisches Spaltungskalkül der Regierung. Der wirkliche Grund ist wahrscheinlich ein anderer: In einigen Fällen deckten Schuldirektoren - ihre Gewerkschaft rief zur Solidarität mit den Betroffenen auf ­ und Verwaltungsangestellte die Streikenden vom Frühjahr, indem sie nur eine geringe Zahl von Streiktagen für die Gehaltsbemessung in Rechnung stellten. In anderen Fällen dagegen kam die Regierungslinie in ihrer vollen Härte zur Geltung. Diese Ungleichheiten steigern zwar den Unmut, sorgen andererseits aber auch für eine Zersplitterung, auf deren Grundlage sich schwer eine breite Protestbewegung aufbauen lässt.

Und die Privatindustrie ?

Ein anderer wichtiger Grund ist in der Situation der Beschäftigten des privaten Wirtschaftssektors zu suchen. Ihnen galten im Frühjahr zahllose Appel der streikenden öffentlichen Bediensteten, die den Eintritt der Privatwirtschaft in den Ausstand und dessen Ausweitung zum Generalstreik forderten. Tatsächlich hatten sich einige harte Kerne von Streikbereiten in der Privatindustrie heraus gebildet. So waren etwa in Paris auch Abordnungen aus den Automobilwerken von Renault, Peugeot oder Citroen auf den Demonstrationen vertreten. Beim Reifenhersteller Michelin in Clermont-Ferrand verließen im Juni 400 Arbeiter während der laufenden Schicht aus eigenem Antrieb ihre Arbeitsplätze und formierten sich zu einer eigenen Demonstration. Angesichts der besonders harten Repressionspraxis in dem paternalistisch geführten Unternehmen, das insgesamt 15.000 Beschäftigte zählt, war das bereits ein großer Schritt.

Doch gerade in der Privatindustrie hat der Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Zahl von "Sozialplänen" seit Juli für einen bleischweren Druck gesorgt. Die Vernichtung von Zehntausenden Arbeitsplätzen folgte auf die Pleite einiger Unternehmen ­ wie der Fluggesellschaft Air Lib -, aber erreichte auch gut gehende Unternehmen, beispielsweise infolge von Fusionen. (Ähnliches wird derzeit nach der Mega-Fusion der Fluggesellschaft Air France mit dem niederländischen Unternehmen KLM zur weltweiten "Nummer Eins" ihrer Branche befürchtet).

Für Ende des Jahres wird erwartet, dass die Erwerbslosenrate erneut die Zehn-Prozent-Marke überschreiten wird, wo sie zuletzt 1999 stand. Zumal Premierminister Jean-Pierre Raffarin am gestrigen Montag zum ersten Mal öffentlich eingestanden hat, dass Frankreich sich derzeit "in der wirtschaftlichen Rezession" befinde, nachdem das Wachstum im ersten Halbjahr 2003 negativ war ­ allerdings nur, um eine beschleunigte Marschrichtung beim Angriff auf bisherige soziale Errungenschaften anzukündigen (siehe unten).

Drastische Einschränkungen für Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger

Hinzu kommt der Umgang mit den Erwerbslosen, der sich in den letzten Monaten drastisch verschärft hat. So werden 800.000 bis 850.000 Arbeitslose in den nächsten Monaten aus der Entschädigung durch die Arbeitslosenkasse UNEDIC herausfallen. Der Grund: Am 20. Dezember 2002 unterzeichnete, durch die Öffentlichkeit damals kaum wahrgenommen, ein Teil der Gewerkschaften ­ deren wichtigste die sozialliberale CFDT war, die seit einem Jahrzehnt die paritätisch getragene UNEDIC verwaltet ­ ein Abkommen mit den Arbeitgeberverbänden. Um Geld bei der UNEDIC zu sparen, und damit auch die Beiträge der Arbeitgeber zu senken, wurden die Ansprüche auf die Arbeitslosenhilfe reduziert. Ab diesem Herbst verlieren viele arbeitslos gewordene dadurch 7 bis 12 Monate Bezugsanspruch. Und sehr viele Betroffene wussten das bisher gar nicht, sondern entdeckten in den letzten Tagen, dass sie plötzlich aufıs Trockene gesetzt wurden.

 Normalerweise werden die damit von der Arbeitslosenhilfe, die sich am letzten Lohn orientiert und durch die UNEDIC ausgeschüttet wird, Ausgeschlossenen an die vom Staat bezahlte Stütze ASS (Spezifische Solidaritätsleistung) mit fester Bezugshöhe weiterverwiesen. Doch die Regierung entschied im Spätsommer, dass sie für die erwarteten zusätzlichen Anspruchsberechtigten nicht aufkommen wolle. "Man kann nicht ewig die Arbeitslosigkeit bezahlen", meinte Sozialminister François Fillon im Interview mit der Sonntagszeitung JDD vom 21. September trocken. Daher wurde die Stütze auf nur noch zwei Jahre Bezugsanspruch (oder drei Jahre für die bereits bisher von der ASS Lebenden) begrenzt, während sie bis dahin nicht zeitlich limitiert war.

Für Hunderttausende wird damit nach einiger Zeit nur noch der Fall in die Sozialhilfe (RMI) bleiben. Doch auch die ist nicht mehr, was sie einmal war. Denn ab Anfang kommenden Jahres heißt sie nicht mehr RMI (Mindest-Eingliederungsbezug), sondern RMA, für "Mindest-Aktivitätsbezug". Das bedeutet, dass die Bezieher der Sozialhilfe ­ gut 400 Euro im Monat ­ gezwungen werden sollen, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Der Verdienst, zwei Euro Stundenlohn sind vorgesehen, soll mit der Sozialhilfe kumuliert werden können.

In dieser Entwicklung suchen die Aktivisten der Streikkoordination der intermittents den Grund, warum viele prekär Beschäftigte sich derzeit kaum trauen, den Kopf zu heben. Denn gerade die prekär Arbeitenden wollen die Kulturschaffenden, die selbst in prekären Verhältnissen (die allerdings in ihrem Falle teilweise selbst gewählt sind, im Sinne künstlerischer Unabhängigkeit von den Zwängen eines "Normal-Arbeitsheitsverhältnisses") überleben, für gemeinsame Aktionen gewinnen.

Arbeitslose wehren sich - AKTUELL

Ein Hoffnungsschimmer rührt immerhin daher, dass manche Arbeitslosen sich selbst zu wehren begonnen haben. Ihre Aktionen werde von einer kleinen selbstorganisierten Minderheiten getragen, aber auch war auch während der breiten Welle von Arbeitslosenprotesten im Winter 1997/98 (siehe ausführlich: Jungle World 05 /1998, kostenlos im Internet konsultierbar) nicht anders.

Ähnlich wie damals begann eine Reihe von Besetzungen der örtlichen Arbeitslosengeld-Stellen (ASSEDIC), die von der zentralen Arbeitslosengeldkasse UNEDIC abhängen. So besetzten am vorletzten Donnerstag (25. September) über 70 Erwerbslose für einige Stunden die zentrale Arbeitslosengeldstelle von Paris. Am vorigen Freitag, dem 3. Oktober, besetzten erneut mehrere Dutzend Protestierende eine UNEDIC-Außenstelle im 14. Pariser Bezirk. Die Proteste versprechen, sich auszuweiten.

Am gestrigen Montag wurde erneut die ganztägige Besetzung einer Arbeitslosengeld-Kasse im westfranzösischen Nantes gemeldet, durchgeführt von einer eifrigen Truppe aus Erwerbslosen, LehrerInnen, Kultur-intermittents sowie Anarchos (Nantes ist eine alte anarchosyndikalistische Hochburg). Als ihre Ziele gaben die Besetzer an, gegen die Einführung des RMA (also des Quasi-Arbeitszwangs für SozialhilfeempfängerInnen), den Hinauswurf von Erwerbslosen aus der Arbeitslosenkasse und die zeitliche Beschränkung der Stütze ASS kämpfen zu wollen.

Am morgigen Mittwoch, 8. Oktober wird in einer Reihe französischer Städte (so etwa in Paris, Lyon, Clermont-Ferrand , Bordeaux, Nantes oder im bretonischen Vannes) ein Aktionstag zu denselben Themen stattfinden. Zu ihm rufen die Arbeitlosen-Selbstorganisationen und ihre Verbündeten (je nach Örtlichkeit: Gewerkschaften wie SUD und die Lehrergewerkschaft FSU, die trotzkistische LCR, Alternative, Anarchosyndikalisten) auf.

In Paris beispielsweise soll um 14 Uhr eine Kundgebung vor dem neuen Hauptsitz des Arbeitgeberverbands MEDEF im 7. Pariser Bezirk stattfinden. Im Anschluss ist für 17 Uhr im Gewerkschaftshaus ­ der Bourse du travail ­ in der Nähe der Gare de lıEst eine Vollversammlung von Arbeitslosen, Prekären, kämpferischen LeherInnen und intermittents geplant.

Ein weiterer Aktionstag ist auf den 30. Oktober angesetzt, der als "europaweiter Tag für das (Grund-)Einkommen" definiert wurde.

Neue Offensive der Regierung; derzeit im Visier: 35-Stunden-Woche, Streikrecht und Arbeitsgesetzbuch ODER: Das Massaker-Spiel

Angesichts der derzeitigen, relativen Ruhe an der innenpolitischen und sozialen Front sieht die neokonservative Regierung sich geradezu Flügel wachsen. In diesem Kontext hat sie sich gleich mehrere Ziele ausgewählt, unabhängig von der "Reform" der Krankenversicherung - deren Kernstück (nach den 14.500 Hitzetoten, die es im August, nunmehr offiziellen Zahlen zufolge, in Krankenhäusern und Altenheimen gegeben hat) um ein Jahr auf Herbst 2004 verschoben worden ist.

Seit Ende vorige Woche nehmen die Presseberichte schlagartig zu, die ­ liest man zwischen den Zeilen ­ auf eine Abschaffung der durch die Jospin-Regierung in den Jahren 1998 bis 2000 eingeführten Arbeitszeitverkürzung hindeuten. Bereits die Reform, die zur Einführung einer Regelarbeitszeit von 35 Stunden wöchentlich oder aber 1.600 Stunden im Jahr (im Zuge zunehmender Flexibilisierung der Arbeitszeiten, welche durch die Reform erleichtert wurde) führen sollte, war kritikwürdig. Zumal sie mit einer "Balkanisierung" der Arbeitszeitpolitik einherging, da die Reform durch ein Rahmengesetz nur eine sehr grobe politische Vorgabe setzte, deren konkrete Umsetzung aber über einzelbetriebliche Abkommen ­ im notwendigen Konsens mit dem Kapital ­ erfolgen sollte.

Immerhin aber hat die Reform von Arbeitsministerin Martine Aubry (1997 ­ 2001), neben ihren negativen Effekten ­ verstärkte Variabilität der Arbeitszeiten und deutliche Reduzierung der Sozialabgaben der Unternehmen, da durch sie jene Arbeitgeber großzügig subventioniert wurden, die das Spiel mitspielten ­ auch mehr Freizeit für die Beschäftigten mit sich gebracht. Vor allem die Angestellten und höheren Lohngruppen, die zudem den Freizeitausgleich oftmals in Form ganzer Urlaubstage erhielten (statt in Form täglicher Minuten, die oft schnell durch die Arbeitsroutine aufgefressen werden) und diese dann für Kurzreisen nutzen können. Die Arbeiter und unteren Lohngruppen dagegen ging die Reform oftmals - nicht in allen Fällen, da die Situationen örtlich sehr unterschiedlich ausfallen ­ vor allem mit mehr Leistungsverdichtung und erhöhter Flexibilisierung der Arbeitszeit einher, die mitunter deutlich die Verbesserungen überwogen. Aber es kann kein einheitliches Bild gezeichnet werden, aufgrund des genannten "Balkanisierungs"effekts, der durch die konkreten Modalitäten der Aubry-Reform bedingt wurde.

Die regierende Rechte möchte jetzt die negativen Aspekte der Reform behalten, aber zugleich ihre positiven Auswirkungen wieder in Frage stellen. Die Reduzierung der Sozialabgaben für Unternehmen, die vor allem bei den Niedriglohngruppen drastisch ausfiel, war durch die Aubry-Reform für 5 Jahre vorgesehen worden. Die Abgaben-Nachlässe sollten demnach jenen Unternehmen 5 Jahre lang zugute kommen, die mindestens 2 Jahre lang (infolge der Reform) mehr Personal beschäftigten. (Konkrete Voraussetzungen waren: Zehn Prozent weniger Arbeitszeit und sechs Prozent mehr Personal, was bereits eine Leistungsverdichtung voraussetzt.) Aber im Herbst 2002 hat die Raffarin-Regierung die Nachlässe bei den Sozialabgaben in die Zukunft fortgeschrieben ­ aber ohne sie an Arbeitszeitverkürzung oder Beschäftigung zu koppeln.  

Auch die einzelbetriebliche Organisationsform der Arbeitszeitpolitik, die durch die Reform  der sozialdemokratischen Vorgängerregierung stark forciert worden war, will die Raffarin-Regierung im Wesentlichen beibehalten. Denn ihre erklärte Absicht ist es, die Auswirkungen der Aubry-Reform durch einzelbetriebliche Verhandlungen ­ dort, wo es möglich ist ­ auszuhebeln, und nicht durch ein Gesetz. Arbeitsminister François Fillon hat das als Versprechen formuliert: Es werde keinen "großen Umsturz" gegen die 35-Stunden-Woche geben, sondern es würden nur den so genanntenSozialpartnern einige Lockerungsübungen ermöglicht.

Ein zentrales Gesetz, mit dem die beiden Rahmengesetze der Aubry-Reform wieder abgeschafft würden, hätte aus rechter Sicht den Nachteil, zu viele Widerstände gegen das Regierungsvorhaben zu bündeln. Ferner muss sie damit rechnen, dass im Falle eines brachialen Vorgehens per Gesetz alle größeren Gewerkschaftsorganisationen (zur Abwechslung) an einem Strang ziehen würden ­ die CGT, FO und auch die sozialliberale CFDT haben bereits erklärt, dass sie ein Anti-35-Stunden-Gesetz deutlich ablehnen. Dagegen hat ein Vorgehen auf dem Wege "dezentralisierter" Verhandlungen den Vorteil, die "Balkanisierung" der örtlichen Arbeitszeit-Politiken ­ welche die Bündelung von Widerstand erschwert ­ noch zu verstärken.

Das zu erkennen, bedeutet aber nicht, dass die Strategie, geschweige denn die Propaganda der Kapitalverbände das auch so darstellen würde. Der MEDEF, obwohl neoliberal und im Prinzip stark auf "Dezentralisierung" und Vertragspolitik statt Gesetz und statt allgemein verbindlicher Regeln schwörend, hat bereits im Herbst 2002 gefordert, die 35-Stunden-Reform "notfalls per Gesetz" auszuhebeln. Es trifft zu, dass der Kampf gegen dieses Symbol (obwohl die Reform auch ein Geschenk zumindest für den "modernen" Flügel des Kapitals war) zu Anfang des Jahrzehnts zum zentralen Mobilisierungselement für die MEDEF-Propaganda geworden war. Aus Sicht des ideologisch handelnden Teils der Kapitalverbände enthielt die Aubry-Reform immer noch zu viele politischen Vorgaben, und zu viel Gunst wurde den Beschäftigten erwiesen.

Regierungschef Raffarin schwankt daher, betrachtet man seine Erklärungen näher, derzeit zwischen einer Strategie der "Lockerung" der Reform durch das Erleichtern einzelbetrieblicher Verhandlungen, und der Drohung einer umfassenden gesetzlichen Aushebelung des 35-Stunden-Symbols ­ auch wenn Ersterer noch der Vorrang eingeräumt wird. Von Moskau aus, wo Raffarin derzeit weilt, erklärte er am Montag früh in die Mikrophone französischer Medien: "Man muss dafür Sorge tragen, dass in Sachen 35-Stunden-Woche, wie zu jedem anderen Thema, der soziale Dialog der gesetzgeberischen Initiative voraus geht. (...) Der soziale Dialog eröffnet die Gesetzes-Debatte in Bezug auf die Arbeitsgesetzgebung und die Arbeitsorganisation." Das kann durchaus so verstanden werden, als sei für später ein Gesetzesvorhaben eingeplant.

Ansonsten versprach Raffarin den abhängig Beschäftigten von Moskau ausŠ noch kein Blut, wohl aber Schweiß und Tränen: "In Sachen geleisteter Arbeitsstunden ist Frankreich weit davon entfernt, die Goldmedaille zu verdienen. (...) Wenn ich sage, dass in Frankreich mehr gearbeitet werden muss, dann bedeutet dass, die Anzahl der gearbeiteten Stunden zu erhöhen ­ das heißt die Zahl der Arbeitslosen zu reduzieren oder den Arbeitnehmern zu erlauben, länger zu arbeiten." In der Praxis wohl eher Zweiteres...

Weitere wichtige Angriffsziele stehen bereits auf dem Programm der regierenden Rechten, oder jedenfalls ihres ­ derzeit das Marschtempo vorgebenden und voran treibenden ­ radikal wirtschaftsliberalen Flügels. So nimmt am heutigen Dienstagvormittag eine Kommission unter Vorsitz von Michel de Virville ­ des Personaldirektors beim Automobilhersteller Renault ­ ihre Arbeit auf, um "das Arbeitsgesetzbuch zu vereinfachen". In welche Richtung das gehen soll, lässt sich ausmalen. (Vgl. "La Tribune" vom 7. Oktober)

Und der neue Abgeordnete Christian Blanc (der frühere Air France-Direktor rückte im Dezember 2002 inıs Parlament nach), der zwar parteilos ist, aber der christdemokratisch-liberalen und die Regierung unterstützenden UDF-Fraktion angehört, legte am selben Dienstag einen Gesetzentwuf vor. Er sieht die Vepflichtung zur Einhaltung eines "service minimum", also einer Mindestbelegschaft, in den öffentlichen Diensten ­ namentlich den Transportbetrieben ­ im Fall einer Streikbewegung vor. Damit wäre die, durch einen Teil der Rechten seit langem ersehnte, Bresche in das Streikrecht geöffnet.

BERNHARD SCHMID, PARIS   

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