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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Widerstand gegen Abschiebungen am Ende des Schuljahres "Zum Ende des Schuljahres droh(t)en massive Abschiebungen von SchülerInnen “ohne Papiere”. Die Regierung wich ein Stück weit zurück. Protest gegen Abschiebepolitik und gegen das neue Einwanderungsgesetz geht weiter: über 145.000 Unterschriften gesammelt" - so beginnt der aktuelle Beitrag "Widerstände gegen Abschiebungen zahlen sich aus" von Bernard Schmid vom 23. Juni 2006. Widerstände gegen Abschiebungen zahlen sich aus Zum Ende des Schuljahres droh(t)en massive Abschiebungen von SchülerInnen “ohne Papiere”. Die Regierung wich ein Stück weit zurück. Protest gegen Abschiebepolitik und gegen das neue Einwanderungsgesetz geht weiter: Über 145.000 Unterschriften wurden inzwischen gegen die staatliche Einwanderungspolitik und zugunsten der Solidarität gesammelt: Während das Netzwerk RESF über 62.000 Unterstützenunterschriften sammelte, protestierten über 82.000 gegen das neue Ausländergesetz von Nicolas Sarkozy. Auf die gute Nachricht folgt ein dickes Aber. Die positive Information zuerst: Wie am Dienstag voriger Woche durch einen Bericht der Tageszeitung Le Parisien publik wurde, soll das “Zentrum für administrative Verwahrung” (CRA) – besser bekannt unter dem Titel “Ausländerdepot” – unter dem Pariser Justizpalast endlich geschlossen werden. Zumindest die Männerabteilung, für die Frauen wird es noch eine Weile dauern. Diese finstere Verwahrungsanstalt in einem Kellergeschoss ohne Fenster, in welcher unerwünschte Ausländer in groben “Käfigen” à 10 bis 13 Personen auf ihre Abschiebung warteten, war seit langem berüchtigt. Schon vor einem Jahrzehnt hatte eine Untersuchungskommission des Europarats von katastrophalen Hygiene- und Sicherheitsbedingungen gesprochen. Und ein Pariser Richter lieb daraufhin im April 1995 überraschend 22 Abschiebehäftlinge frei, denen diese Konditionen nicht zugemutet werden könnten; ein Marokkaner sie waren bei Reibereien zwischen den auf engem Raum zusammengepferchten Häftlingen verletzt worden. Anderthalb Jahre zuvor war (1993) ein Insasse tot aufgefunden worden. Doch die Zustände dauerten, unmerklich verbessert, fort. Jetzt kommt das Aber: Wenn das “Depot” endlich dicht macht, dann deshalb, weil eine neue Abschiebehaftanstalt mit gröberer Kapazität in der Nähe der Pferderennbahn im Pariser Stadtwald von Vincennes bereit steht. Dort sollen über 280 Abschiebehäftlinge auf einmal festgehalten werden können, wenn auch unter sauberen Bedingungen. In der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag (21. Juni) kam es in der neuen Abschiebehaftanstalt zu einem Rebellions- oder Ausbruchsversuch. Die genauen Hintergründe sind noch unklar. Die Abschiebehäftlinge wurden bis 3 Uhr früh mehrfach aufgerufen und durchgezählt. Ein Malier, der vom “Depot” unter dem Pariser Justizpalast in die neue Abschiebehaftanstalt verlegt worden war, berichtet, im alten “Depot” sei ein Landsmann zu Tode gekommen. Möglicherweise hat diese Information, die bisher nicht bestätigt werden konnte – es kann sich auch um ein Gerücht handeln – etwas mit den Ereignissen in der Nacht zu tun. Am Ende des Schuljahres: Eröffnung der Jagdsaison auf jugendliche “Sans papiers” Eine andere gute Botschaft zieht ebenfalls ihre Einschränkung sofort nach sich. Ab dem 30. Juni dieses Jahres – Ferienbeginn an allen Schulen Frankreichs – werden zwar die derzeit eingeschulten ausländischen Kinder ohne Aufenthaltstitel (mitsamt ihren Eltern) zu Abschiebekandidaten werden. Doch Innenminister Nicolas Sarkozy erklärte sich zunächst bereit, eine bestimmte Gruppe davon auszunehmen. Doch unter dem Druck massiver Proteste ist er inzwischen noch ein Stück weiter zurückgewichen. Dennoch bleiben nach wie vor Kinder und Jugendliche (sowie ihre Eltern) übrig, die dem Ende des Schuljahres mit Angst und Schrecken entgegen sehen. Bisher hatten die zuständigen Behörden das Ende des Schuljahres abgewartet, auf Anweisung von Innenminister Nicolas Sarkozy hin. Im Oktober 2005 hatte Sarkozy, unter dem Eindruck massiver Proteste und Solidaritätsaktionen von LehrerInnen und von Eltern anderer SchülerInnen, eine entsprechende Anweisung erteilt: Die eingeschulten ausländischen Kindern “ohne Aufenthaltstitel” sollten das begonnene Schuljahr zu Ende führen können. Bis dahin waren damit auch ihre Eltern vor einer erzwungenen Ausreise geschützt, da minderjährige Kindern und ihre Väter oder Mütter nicht auseinander gerissen und getrennt abgeschoben werden dürfen. Da seit zwei Jahren aber eine Welle von Versteckaktionen für eingeschulte Kinder und Jugendlichen stattfand, erwies sich ein solches Vorhaben der Abschiebung von SchülerInnen und Eltern aber als schwer durchführbar. Ab dem 30. Juni 2006 dagegen sollte ihr vorübergehender Schutz fallen. Das Alles hatte mit dem “Netzwerk Erziehung ohne Grenzen” (RESF) zu tun. Im RESF sind zahlreiche Lehrer, Eltern und andere Einzelpersonen sowie 80 landesweit strukturierte Gruppen (sowie 30 lokale Kollektive) zusammengeschlossen; in jüngster Zeit hat es binnen einiger Wochen mehrere Zehntausende Unterstützungsunterschriften gesammelt. Am heutigen Tag sind es genau 62.834, darunter rund 40.000 im Internet, während weitere 23.262 Unterschriften auf Papier gesammelt wurden (etwa während der Demonstrationen gegen den CPE...). Das RESF rief offen dazu auf und bekannte sich dazu, in Frankreich eingeschulte ausländische Kinder und Jugendliche zu verstecken – damit weder sie noch ihre Eltern abgeschoben werden konnten. Doch mit dem heran nahenden Ende des Schuljahres, und damit dem Wegfall des Schutzes bzw. Abschiebehindernisses ab dem 30. Juni, wuchs auf Seiten aller Beteiligten die Nervosität. Am 6. Juni 2006 machte der Innenminister und Präsidentschaftskandidat der französischen Konservativen dann ein neues, äuberst begrenztes Zugeständnis: Nicht abgeschoben werden sollen Kinder und Jugendlichen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die (erstens) in Frankreich geboren sind. Damit haben sie die Aussicht, im Alter von 18 französische Staatsbürger zu sein... und bis zum Inkrafttreten der verschärften Ausländergesetze von Sarkozys rechtem Amtsvorgänger Charles Pasqua (1993) hätten sie ohnehin nicht abgeschoben werden können. Hinzu kommen soll aber noch eine zweite Bedingung: Sarkozy sprach von solchen Kindern, die nur Französisch können und die Sprache des Herkunftslands ihrer Familie nicht beherrschen. Dies entspricht im Kern der Philosophie des ultrarechten “Untersuchungsberichts” über Kriminalitätsentwicklung und “abweichendes Verhalten” im Kindersalter, den der konservative Abgeordnete Jacques-Alain Benisti im November 2004 dem Innenminister vorlegte. In diesem vielerorts heftig kritisierten Bericht wurde behauptet, bei Kindern bereits ab dem Alter von zwei Jahren eine "Kurve abweichenden Verhaltens" aufzeigen zu können, die später zu Kriminalität und Straffälligkeit führe. Als besonders kriminogener (Kriminalität erzeugender) Faktor im frühkindlichen Alter wurde hervor gehoben, dass es zu solcherart das Straffälligkeitsrisiko steigerndem Verhalten führe, wenn im Elternhaus eine andere Sprache als Französisch gesprochen werde. Denn die Kids würden dadurch ja daran gewöhnt, dass sie im Kindergarten oder in der Schule, zusätzlich zur französischen Sprache, noch einen anderen und für die übrigen Kinder unverständlichen Geheimcode - nämlich ihre Muttersprache - zum Kommunizieren benutzen könnten. Dadurch aber erlernten sie es, dass sie vor ihren Altersgenossen und, oh Schreck, ihren Lehrerinnen und Lehrern etwas verbergen könnten. Dieser Rapport über die hoch gefährlichen Kids wurde vielfach von Sozialarbeitern, Erziehern, Justizmitarbeitern und anderen Beobachtern als pure Stigmatisierung von Immigranten und anderen gesellschaftlichen Gruppen angeprangert. Die extreme Rechte in Gestalt des Front National hatte dem Benisti-Untersuchungsbericht allerdings explizit und lautstark applaudiert, u.a. in ihrer Wochenzeitung National Hebdo vom 16. Februar 2005, die über den Rapport schrieb, er schlage "Maßnahmen im Sinne des gesunden Menschenverstands" vor. Der "Rapport Benisti" getaufte Untersuchungsbericht ist zwar nicht offizielle Regierungsdoktrin. Seine Philosophie floss aber unterschwellig sowohl in das neue Einwanderungsgesetz von Nicolas Sarkozy (siehe unten) ein, wo an manchen Stellen nebulöse Kriterien wie das der “republikanischen Integration” aufgestellt werden – als auch (mutmasslich) indirekt in das neue Gesetz zur Kriminalitätsbekämpfung, das am kommenden Mittwoch im Kabinett verabschiedet werden soll. Nicolas Sarkozy weicht zurück bzw. seine Bedingungen auf Schutz vor Abschiebung sollte also finden, wer im Elternhaus nur Französisch spricht, nicht aber die Sprache des familiären Herkunftslands. Preisfrage: Wer, zum Teufel, aber sollte das nun kontrollieren können? Eine schwer zu knackende Nuss. Der Minister selbst sprach in diesem Zusammenhang von 720 Familien, die von einer solchen Schutzmabnahme betroffen seien. Dagegen schätzt das RESF die Zahl der potenziell von Abschiebung bedrohten Jugendlichen auf “10.000 bis 50.000”. Übertrieben war es daher wohl, dass die spanische Tageszeitung El Pais daraufhin Sarkozy “einen Politiker mit Herz” taufte. Auch "Le Monde‘ vom 13. Juni 2006 griff den Ball auf (“Hat Nicolas Sarkozy ein Herz?”) und behauptete, der jüdische Rechtsanwalt und “Nazijäger” Serge Klarsfeld sowie sein Sohn Arno Klarsfeld – der in jüngster Zeit bei zwei Anlässen Beratertätigkeiten für Innenminister Sarkozy ausübte – hätten den Minister davon überzeugt, die Kindern “ohne Papiere” zu schützen. Am 13. Juni dann gab Nicolas Sarkozy seine "Circulaire ministérielle‘ (ministerielles Rundschreiben) heraus, also seine Dienstanweisung an die untergeordneten Behörden wie die Präfekturen in den einzelnen französischen Départements, die für die Anwendung der Ausländergesetze zuständig sind. Darin werden die o.g. Kriterien nunmehr nochmals “aufgeweicht”. Statt ausschlieblich auf in Frankreich geborene Kinder ist der Schutz vor Abschiebungen demnach auf “in Frankreich geborene ODER vor dem Alter von13 Jahren eingereiste” Kinder und Jugendliche anwendbar, die seit spätestens September 2005 in Frankreich eingeschult worden sind. Zum Zweiten wird nicht mehr verlangt, dass die Kinder zu Hause gar keine andere Sprache als das Französische praktizieren (was ohnehin schwer überprüfbar sein dürfte), sondern es wird “eine Beherrschung des Französischen” als “Integrations”kriterium gefordert. (Vgl. den Text der Circulaire: http://www.educationsansfrontieres.org/article.php3?id_article=362) Dadurch sind die Kriterien doch erheblich weiter gezogen als in der Ankündigung, die Sarkozy am 06. Juni im französischen Parlament machte. Sicherlich dabei handelt es sich um politische Signale an unterschiedliche Teile der Öffentlichkeit: Die öffentliche Ankündigung dient eher dem konservativen bis rassistischen Flügel der Öffentlichkeit. Dagegen bekommen vor allem der kritische Teil der Öffentlichkeit, die AktivistInnen wie jene des RESF und ihr Umfeld sowie die Hauptbetroffenen die – im Vergleich zu der Ankündigung nicht gar so restriktive – Praxis mit. Nicht zuletzt lässt sich feststellen, dass sich die Widerstände doch ein Stück weit “ausgezahlt” haben. Es bleibt bestehen, dass es auch nach der neuen Dienstanweisung noch Ausgeschlossene und Verlierer gibt. Insbesondere schliebt die Dienstanweisung definitiv jene Zuwanderer vom Abschiebeschutz aus, die bereits vor ihrem Eintritt nach Frankreich in ein anderes Land der Europäischen Union eingereist waren und nach dem Rücknahmeabkommen “Dublin 2” dorthin zurück kehren müssten. Auch dies kann menschliche Existenzen bedrohen oder zerstören: Das RESF berichtet u.a. konkret vom Falle einer Mutter (Sakinat) und ihrer sechsjährigen Tochter (Patimat), die vor vier Jahren aus Dagestan flohen. Also einer der Bürgerkriegszonen der ehemaligen Sowjetunion im Kaukasus, wo islamische Fundamentalisten und (ähnlich wie in Tschetschenien aktiv gewordene) wahhabitische Missionare die Scharia-Gesetze eingeführt haben – und wo Sakinat als allein erziehene und nicht verheiratete Mutter in akuter Lebensgefahr schwebt und, unter dem Druck der Fundamentalisten, von ihrer Familie verstoben werden musste. Mutter und Tochter kamen zunächst nach Deutschland, dessen Behörden sofort mit einer Ausreiseverfügung und Abschiebeandrohung reagierten. Daraufhin kamen Sakinat und Patimat jedoch ins westfranzösische Brest, und dort kümmerten sich Aktive des RESF um ihren “Fall”. Seit nunmehr rund 80 Tagen verstecken sie die Tochter und schaffen dadurch ein Abschiebehindernis. (Vgl. http://www.educationsansfrontieres.org/article.php3?id_article=135, mit Verweis auf einen lokalen Blog in Brest) Die beiden können jedoch nicht von der “Grobzügigkeit” der Sarkozy’schen Dienstanweisung profitieren, da sie über Deutschland eingereist sie, von dem sie lediglich den Rassismus der Behörden kennen lernen durften.Nach wie vor Widerstände gegen Abschiebungen Die ministeriellen Ankündigungen haben den Widerstand gegen drohende Abschiebungen ab dem 30. Juni eher bestärkt, denn dafür gesorgt, dass die Widerstände nachgelassen hätten. Das alljährlich seit 1982 stattfindende Spektakel “Fête de la Musique” wurde dieses Jahr in Paris den von Abschiebung bedrohten Kindern und Jugendlichen “gewidmet”. Dies hatte am 17. Juni der ehemalige Kulturminister am Hofstaat François Mitterrands (und aktuelle “Kandidat auf die Präsidentschaftskandidatur der Sozialistischen Partei”), Jack Lang, vorgeschlagen. Jack Lang ist niemand anders als der Erfinder der “Fête de la Musique”. (Sein Einsatz in diesem Falle darf nicht darüber hinweg täuschen, dass auch die Vorstellungen der Sozialistischen Partei zur Ausländerpolitik höchst kritikwürdig sind. In ihrer aktuellen Programmdiskussion schlägt sie in einigen Punkten “Aufweichungen” gegenüber Sarkozys Politik vor, aber versucht ihn in anderen Punkten noch rechts zu überhole. So wollen die Sozialisten Abschiebungen von Minderjährigen in einigen Fällen erleichtern, wie die ihnen nahe stehende Tageszeitung "Libération‘ Ende Mai dieses Jahres empört feststellte. Am selben Tag wurde bekannt, dass – pünktlich zur “Fête de la Musique” - ein Musiker namens Covaci, Rom aus Rumänien und Vater zweier schulpflichtiger Kinder, im westfranzösischen Nantes auf seine Abschiebung wartete. Am 13. Juni war er durch die Grenz- und Ausländerpolizei PAF festgenommen, und daraufhin in Abschiebehaft platziert worden. Das RESF mobilisierte für ihn. Tatsächlich konnte er in der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag dieser Woche (22. Juni) frei kommen. Neues Einwanderungsgesetz definitiv verabschiedet. Aber die Protestbewegung lässt nicht locker Unerwünschte Einwanderer haben unter Innenminister Sarkozy generell nicht viel zu lachen. Neu an seiner Politik gegenüber jener seiner konservativen Amtsvorgänger ist unterdessen, dass Nicolas Sarkozy erstmals positiv definiert, wer erwünscht ist – und wer nicht. Der frühere nationalkonservative Innenminister Charles Pasqua etwa hatte in einer martialischen Rhetorik von Zéro immigration (Null Zuwanderung) gesprochen. Aber zugleich konnte er nicht verhindern, dass Menschen das durch Gesetze und internationale Abkommen garantierte Recht auf Familienzusammenführung wahrnehmen, das es Familienangehörigen legal in Frankreich lebender Zuwanderer erlaubte, sich im Land niederzulassen. Die extreme Rechte verstand es, diesen Widerspruch zwischen dem offiziellen Anspruch und einer Praxis, die unter rechtsstaatlichen Bedingungen kaum eingeschränkt werden konnte, auszubeuten. Anders das Herangehen Sarkozys. L’immigration subie und l’immigration choisie (“erlittene” und “ausgewählte Zuwanderung”) lauten die beiden Schlüsselbegriffe seines neuen Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, das am 17. Mai in der Nationalversammlung und in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni auch im Senat – also der zweiten Kammer des französischen Parlaments – angenommen worden ist. Am Mittwoch, 21. Juni hat nunmehr auch der Vermittlungsausschuss beider Kammern dem Gesetzentwurf zugestimmt, nachdem es noch kleinere inhaltliche Unterschiede zwischen den von der ersten und der zweiten Kammern angenommenen Entwürfen gegeben hatte. Damit kann der Entwurf nunmehr alsbald Gesetz werden und in Kraft treten. “Erlitten”, das bedeutet, dass Frankreich die Anwesenheit unerwünschter oder “unnützer” Ausländer hinnehmen muss. “Ausgewählt” dagegen darf sich nennen, wer Frankreich in Zeiten des Arbeitskräftemangels in bestimmten Sektoren – wie dem Pflegebereich oder den extremen Niedriglohnbereichen – und der Neuzusammensetzung des Arbeitskräftereservoirs eine besondere Kapazität anzubieten hat. Die Philosophie ist exakt dieselbe wie jene des Entwurf für ein “Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer”, über den am 24. September dieses Jahres in der Schweiz abgestimmt wird, und in dessen Artikel 23 es heibt: “(...) Aufenthaltsbewilligungen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit können nur Führungskräften, Spezialistinnen und Spezialisten und anderen qualifizierten Arbeitskräften erteilt werden”. In Nicolas Sarkozys Gesetz, das mutmablich im Juli in Kraft treten kann, lautet die Zauberformel dafür Compétences et talents. Dem französischen Wahlvolk bietet Nicolas Sarkozy vor diesem Hintergrund einen Deal an. Dessen Geschäftsgrundlage lautet: Im oberen Bereich öffnen wir den Arbeitsmarkt - dafür machen wir ihn im unteren Feld, wo die Qualifikationen und Löhne gering ausfallen, noch dichter als bisher für ausländische Personen. Namentlich, indem wir die Zuwanderung von Familienangehörigen erschweren und Asylbewerber abschrecken. Die Bedingungen für ein Asylgesuch wurden schon vor einem halben Jahr drastisch verschärft: Untersucht werden nur noch Anträge, die binnen drei Wochen nach Einreise mit einer ausführlichen Begründung in Französisch formuliert werden. Die Fristen für den Familiennachzug werden verlängert, von einem auf anderthalb Jahre nach Begründung des legalen Aufenthalts eines Angehörigen. Vor allem wird die Familienzusammenführung unter zusätzliche verschärfte Bedingungen – Wohnraum, Integration in die Gesellschaft – gestellt, die durch den jeweils Bürgermeister ausgelegt werden können. Selbst mit französischen StaatsbürgerInnen verheirateten AusländerInnen wollte Minister Sarkozy kein Aufenthaltsrecht in Frankreich mehr garantieren: Nach Ablauf ihres Aufenthaltstitels sollten die verheirateten Personen wieder in ihr Herkunftsland zurückgehen und dort ein Langzeitvisum beantragen, welches das französische Konsulat ebenso gut verweigern wie gewähren kann. Das war dann aber dem Senat zu viel, wo ein Teil der Bürgerlichen – vor allem die christdemokratische UDF – sich mit den Linksparteien verbündete, um dies zu entschärfen. Nun wird von den Betroffenen “nur noch” verlangt, dass sie ursprünglich einmal legal nach Frankreich eingereist sind, und dass sie sechs Monate nach Eheschliebung warten, bevor sie eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Nach nunmehr drei Jahren – früher waren es einmal sechs Monate, danach hatten die Konservativen die Frist auf zuletzt zwei Jahre angehoben – sollen sie die französische Staatsbürgerschaft beantragen können. Gewährt wird ihnen die aber nur, wenn sie wiederum den famosen Integrationsnachweis erbringen. Früher war ihr Erwerb einmal automatisch gewesen. Selbstredend wird sich die Situation für Lohnempfänger auf dem Arbeitsmarkt nicht dadurch verbessern, dass dessen “unterer” Bereich noch mehr als bisher vor Zuwanderern abgeschirmt werden soll. Die meisten französischen Gewerkschaften – von denen einige noch in den 80er Jahren selbst die Abschottung des nationalen Arbeitsmarktes forderten – haben das längst begriffen. Als die konservative Regierung im März beschloss, ab dem 1. Mai den französischen Arbeitsmarkt nur selektiv für die Bürger der acht osteuropäischen EU-Beitrittsländer zu öffnen – nur in Sektoren, wo Arbeitskräftemangel herrscht – und ansonsten die “Ausnahmebedingungen” gegen die EU-Freizügigkeitsregel aufrecht zu erhalten, protestierten fast alle Gewerkschaften. Allein die christliche und eher rechte CFTC befürwortete die Haltung der Regierung. Alle anderen Organisationen stellten klar, nicht die Anwesenheit ausländischer Lohnempfänger sei das Problem, sondern das Verhalten der Unternehmen. Letztere müssten deshalb zur Einhaltung allgemeiner Mindestbedingungen für alle Arbeitenden, etwa bei den Löhnen, gezwungen werden. Proteste, ebenfalls mit gewerkschaftlicher Unterstützung sowie jener von Teilen der Linken, gibt es auch gegen das neue Ausländergesetz von Nicolas Sarkozy. Dem “Bündnis gegen eine Wegwerf-Zuwanderung” (Unis contre une immigration jetable) gehören über 600 Vereinigungen an. Am 13. Mai demonstrierten 20.000 bis 30.000 Menschen in Paris gegen den Entwurf. Das war die gröbte Protest- und Solidaritätsdemonstration zu einem Thema der “Ausländerpolitik” seit 1997 in Frankreich. Am vorigen Wochenende demonstrierten am Samstag erneut rund 5.000 Menschen in der französischen Hauptstadt, und am Sonntag nahmen mehrere hundert an einem “Protest-Picknick” in brütender Hitze teil. Am 1. Juli soll es erneut eine starke Mobilisierung zum Thema geben, mit einer Demonstration samt landesweiter Mobilisierung in Paris. Die grösste Oppositionspartei, die französischen Sozialisten, möchte sich hingegen nur ungern festlegen, um nicht unter Druck von rechts geraten zu können. Ihre Parlamentsfraktion stimmte zwar gegen die Verschärfungen in Sarkozys Entwurf. Aber ihre mutmabliche Präsidentschaftskandidatin im kommenden Jahr, Ségolène Royal, lieb sich mit einem dringenden Termin entschuldigen und blieb der Abstimmung fern. 14 weitere Parteikollegen fehlten, zwei stimmten gar zusammen mit der Rechten. B.Schmid, 23. Juni 2006 |