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Updated: 18.12.2012 16:00
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Frankreich: Schikanen gegen Arbeitslose

Dringend gesucht werden über einhunderttausend Personen in Frankreich, die anscheinend spurlos verschollen sind. Von Juni 2005, bei einer damaligen Arbeitslosenquote von offiziell 10,1 Prozent, bis Ende September desselben Jahres - die offizielle Arbeitslosenrate betrug 9,8 Prozent - sind 108.000 Personen aus der Statistik verschwunden. Und scheinbar niemand kann genau sagen, wohin: Die Zahl geschaffener Arbeitsplätze hat parallel dazu nicht zu-, sondern abgenommen. So wurden in den ersten drei Jahresmonaten von 2005, wiederum offiziellen Angaben zufolge, 12.000 neue Arbeitsplätze frankreichweit geschaffen. Aber im zweiten Vierteljahr waren es demnach nur noch 5.000. Gleichzeitig soll aber der rätselhafte Rückgang der Erwerbslosenzahl eingesetzt haben.

"Auf den verwischten Spuren von 108.000 Arbeitslosen" übertitelt die Pariser Abendzeitung Le Monde dazu ihre wöchentliche Wirtschaftsbeilage vom 8. November. Im Blattinneren versuchen mehrere Autoren sich an mancherlei Erklärungen. Die Erwerbslosen könnten wieder in Lohn und Brot gekommen sein? Dem steht die spürbar abnehmende Zahl geschaffener Stellen entgegen. Sie könnten von der Arbeitslosen- in die Sozialhilfe abgerutscht sein? Zum Teil trifft dies zu: 20.000 zusätzliche Sozialhilfe-EmpfängerInnen, oder 1,6 Prozent mehr, wurden im zweiten gegenüber dem ersten Halbjahr 2005 verzeichnet. Im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum waren es gar + 6,6 Prozent. Aber als Erklärung für das mysteriöse Verschwinden von über 100.000 Personen reicht auch dieser Ansatz offenkundig nicht aus.

Ein weiteres Indiz liefert der Premierminister der konservativ-liberalen Regierung, Dominique de Villepin: "100.000 Neueinstellungsverträge" ( Contrats de nouvelle embauche, CNE ) seien "seit August dieses Jahres" unterzeichnet worden. Bei diesem Vertragstyp handelt es sich um eine Neuerfindung der französischen Rechtsregierung aus dem Hochsommer 2005: Es handelt sich um nichts anderes als das Angebot an die kleineren und mittleren Betriebe (bis zu 20 Beschäftigten), neue Mitarbeiter einzustellen, die während der ersten beiden Jahre ihres Arbeitsverhältnisses keinen Kündigungsschutz genie b en. Aber die Zahl der angeblichen 100.000 Neueinstellungen wird vielfach angezweifelt. Zum Einen handelt es sich bei den Daten, die durch die Sozialversicherungsagentur ACOSS gesammelt worden sind, nicht um definitive Neueinstellungen, sondern nur um die Erklärung von "Einstellungsabsichten". Vor allem im Monat August, während derer dieser neue Vertragstyp neu eingeführt worden war, aber noch nicht auf den vorgedruckten Meldeformularen für die Arbeitgeber - sondern nur im Internet - auftauchte, kam es ferner noch zu einer grö b eren Zahl von Falschregistrierungen. Alle elektronisch registrierten Meldeformulare, auf denen der Vertragstyp (befristeter oder unbefristeter Vertrag, ...) nicht präzisert war, wurden einige Wochen lang automatisch unter die Rubrik "Neueinstellungsvertrag" (CNE) verbucht. Allein im August 2005 wurden aber angeblich bereits 30.000 solcher neuartiger, prekärer Verträge abgeschlossen.

Andererseits aber, und dieses Argument wiegt noch weitaus schwerer, hat der tatsächliche oder vermeintliche Boom des Contrat de nouvelle embauche nicht wirklich dazu geführt, dass mehr abhängig Beschäftigte als sonst eingestellt worden wären. In Wirklichkeit hat die Zunahme der "Neueinstellungsverträge" vor allem die anderen prekären Vertragsformen (befristete Verträge, Zeitabeit) verdrängt, und die CNE sind in den Betrieben vielfach an deren Stelle getreten. Auch das zahlenmä b ige Wachstum dieser Form von Prekarisierung der Arbeitskräfte erklärt also für sich allein noch nicht die wundersame Abnahme der Arbeitslosen.

100 Tage Villepin  

Bereits in seiner "100-Tage-Bilanz" hatte Premierminister Dominique de Villepin sich am 7. September 2005 vor allem des "Erfolges" gerühmt, einen Rückgang der Arbeitslosenzahlen bewirkt. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits herumgesprochen, "warum" die Arbeitslosenkurve - dem Anschein zufolge - nach unten wies.

Der erste Monat, in dem die Kurve zu sinken anfing, ist der Monat Juni 2005, in dem die offizielle Arbeitslosenrate von offiziell 10,2 auf 10,1 Prozent sank und, in absoluten Zahlen, um 35.200 oder 1,4 Prozent der amtlich registrierten Erwerbslosen zurückging. Doch im Juni dieses Jahres ist gleichzeitig auch die Zahl der wieder in Lohn und Brot gekommenen Ex-Arbeitslosen gesunken und nicht angestiegen: Sie fiel von 86.545 (im Mai 2005) auf jetzt 81.838. Geklettert ist dagegen die Zahl der "administrativen Streichungen", also der Arbeitslosen, die aus der Statistik geworfen und denen die Unterstützung gestrichen worden sind. Ihr Anteil nahm von 37,8 Prozent der "Abgänge" aus der Arbeitslosenstatistik (im Mai 2005) auf, einen Monat später, 44,7 Prozent zu, oder in absoluten Zahlen: von 124.908 im Mai auf 163.642 im Juni. (Zahlenangaben zitiert nach Le Monde vom 30. und vom 31. Juli 2005) 

Denn seit dem Frühsommer hat sich der Druck der Ämter auf die Betroffenen stark erhöht: Zahlreiche Arbeitslose erhielten Briefe, in denen ihnen fiktive Vorwürfe gemacht wurden ("Sie haben einer Vorladung nicht Folge geleistet", "Sie haben seit einem Jahr keinen Gesprächstermin wahrgenommen"...). Wer nicht rechtzeitig antwortet oder auch den Brief auf dem Postweg nicht erhalten, hat Pech gehabt: Weg ist die Unterstützung. Bereits im Juni konnte man in Pariser Arbeitsämtern zahlreiche Betroffene Schlange stehen sehen, die gegen solche Entscheidungen protestieren wollten. Bereits in der vorherigen Phase war der Druck allmählich angewachsen: Die Zahl der "Abgänge" aus der Arbeitslosenstatistik durch administrative Streichung lag in den Monaten von Januar bis Mai 2005 "um 9 Prozent höher als im Vergleichszeitraum, den ersten fünf Jahresmonaten, von 2003 - als ob es darum gegangen wäre, die Statistik vor dem Referendum über die EU-Verfassung (vom 29. Mai) zu schönen" ( Le Canard enchaîné vom 27. Juli 2005). 

Seitdem die Regierung am 2. August 2005 neue Verordnungen über den Umgang mit den Erwerbslosen verabschiedete, ist nunmehr geplant, den Druck noch erheblich zu verstärken. Statt, wie bisher, alle sechs Monate sollen die Arbeitslosen nunmehr von "ihren" Ämtern ein bis zwei mal pro Monat vorgeladen werden, um sie in Atem zu halten. Dabei haben die Arbeitsämter gar nicht genügend Mittel und Personal, um diese Anordnung von Premierminister de Villepin in die Tat umzusetzen: In Paris etwa kommen 11.000 Arbeitslose auf einen Mitarbeiter der ANPE (ungefähres Pendant zur deutschen Arbeitsagentur). Aber erhöhen werden sich ohne Zweifel die Schikanen und Pressionen gegen die Betroffenen. Die Verordnungen vom 2. August haben ebenfalls das Arsenal der zur Verfügung stehenden Sanktionen erweitert: Bisher hatten die ANPE-Agenturen als Sanktionsmittel fast nur die administrative Streichung zur Folge, aufgrund derer ein/e Arbeitslose/r völlig aus der Unterstützung herausfliegt. Aufgrund der Konsequenzen, aber auch der drohenden (Rechts)Streitigkeiten zögerten die ANPE-MitarbeiterInnen bisher eher, dieses Instrument auch einzusetzen. Zukünftig aber haben sie ein abgestuftes Sanktionsinstrumentarium zur Verfügung, so können sie den Betroffenen beispielsweise aus einer Reihe von Gründen die Unterstützung für die Dauer von 2 Monaten streichen. Im Gegenzug sollen sie künftig aber ohne Zögern diese Druckmittel auch einsetzen. 

Die Demontage des Kündigungsschutzes

Die faktische Aufhebung des Kündigungsschutzes während der ersten beide Jahre des Arbeitsverhältnisses, (zur Zeit) in Betrieben mit höchstens 20 Beschäftigten, durch die Einführung des Contrat de nouvelle embauche wird ihrerseits erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Künftig weden zahlreiche Arbeitsverhältnisse dadurch destabilisiert und prekarisiert werden. Zur gleichen Zeit, in der die Situation der Arbeitslosen selbst verschlimmert wird, wird es für einen Erwebstätigen erheblich leichter, selbst aus einem bestehenden Arbeitslosenverhältnis heraus in ihren Reihen zu landen.

Bisher hatte der Arbeitgeber, der eine(n) Lohnabhängige(n) neu einstellte, die Auswahl zwischen zwei Vertragstypen. Er konnte einen unbefristeten Vertrag (CDI) abschließen, den er unter Angabe von Rechtfertigungsgründen ­ aus einem betrieblichen Motiv oder aus einem personenbezogenen (d.h. verhaltens- oder personenbedingten) Grund ­ aufkündigen kann. Falls der Rechtfertigungsgrund durch das Arbeitsgericht nicht akzeptiert wird, so schuldet der Arbeitgeber eine Abfindungszahlung, aber in der Regel keine Weiterbeschäftigung (außer wenn die Kündigung unter Verletzung eines Grundrechts erfolgte, d.h. etwa wegen legaler gewerkschaftlicher Betätigung oder Ausübung des Streikrechts ausgesprochen wurde). Und der Arbeitgeber konnte einen befristeten Vertrag (CDD) eingehen, wenn er voraussichtlich nur einen vorübergehenden Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften hat. Bei dem CDD hat der Arbeitgeber den Vorteil, dass er den Endpunkt des Arbeitsverhältnisses von vornherein kennt, aber er darf den Vertrag nur aus besonders wichtigem Grund (etwa einem schweren disziplinarrechtlichen Verstoß des Lohnabhängigen) vor Ablauf der vereinbarten Dauer kündigen. Ansonsten muss er, falls er den befristeten Vertrag gesetzeswidrig vor Ablauf der vereinbarten Dauer kündigt, den Lohn für die gesamte Laufzeit des CDD bezahlen.

Nunmehr kommt aber ein neuer Vertragstyp hinzu, den der Arbeitgeber wählen kann, der so genannte "Neueinstellungsvertrag" (contrat nouvelle embauche). Er erlaubt es dem ­ mittelständischen ­ Arbeitgeber, einen Lohnabhängigen einzustellen, aber ohne Angabe von Rechtfertigungsgründen innerhalb der ersten beiden Jahre des Beschäftigungsverhältnisses zu entlassen. Angeblich soll sich dies beschäftigungsfördernd auswirken, da ­ so führt die Regierung zur Begründung der neuen Regelung an ­ die mittelständischen Betriebe auch bei Arbeitskräftebedarf bisher keine Neueinstellungen vorgenommen hätten, "weil sie die Beschäftigten sonst nicht mehr loswerden konnten". Diese Behauptung ist jedoch insofern absolut unzutreffend, als auch bisher der unbefristete Arbeitsvertrag ­ bei Vorliegen von Rechtfertigungsgründen, etwa bei einer "Bedrohung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens" ­ aufgekündigt werden konnte.

Gérard Filoche, beruflich als Arbeitsinspektor tätig und dezidierter Parteilinker bei den französischen Sozialisten, hat zur Analyse der absehbaren Auswirkungen dieses neuen Regelwerks einen interessanten Text verfasst (vgl.
http://www.legrandsoir.info/article.php3?id_article=2473 externer Link). Er schildert die zu erwartenden Konsequenzen wie folgt: "Wenn ein abhängig Beschäftigter unbezahlte Überstunden verweigert, dann kann er 'gefeuert`werden. Wenn ein abhängig Beschäftigter sich vor Ablauf der zwei Jahre zur Wahl der betrieblichen Vertrauensleute (Anm.: "délégués du personnel", diese Vertrauensleute werden in den Betrieben mit mindestens 10 Beschäftigten durch das Personal gewählt) bewirbt, dann kann er ebenfalls 'gefeuert´ werden. Wenn er seinem Patron missfällt, dann kann er von heute auf morgen ´rausfliegen, ohne dagegen klagen zu können. Missfallen erregen, das kann aus allen möglichen Gründen erfolgen - aber in den meisten Fällen deswegen, weil jemand seine Rechte geltend macht, auf den Kollektivvertrag (Anm.: ungefähre Entsprechung zum deutschen Tarifvertrag) hinweist, auf den gesetzlichen Arbeitsbedingungen besteht, auf seine Würde besteht, nicht Gewehr bei Fuß steht. Was ist, wenn der Patron ihn seinen Kaffee kochen lässt, ihn um die Erledigung von Arbeiten bei ihm zu Hause bittet oder Arbeiten, für die er nicht ausgebildet ist, um Samstags- oder Sonntagsarbeit, ihn 12 Stunden am Stück am Arbeitsplatz bleiben lässt, ihn auffordert, Spesen nicht abzurechnen oder nicht in die Gewerkschaft einzutreten, keine Politik zu machen und nicht an der Wahl zum Arbeitsgericht teilzunehmen...? Wenn der Beschäftigte sich beschwert, ist er draußen. Keine schriftliche Angabe von Gründen ist erforderlich, also kann es auch keinen Prozess geben (...). Der Villepin-Vertrag eröffnet also eine <rechtsfreie Zone>, da der Beschäftigte während zwei Jahren, zwei mal 365 Tagen, jeden Abend beim Zu-Bett-Gehen nicht weiß, ob er am nächsten Abend noch eine Arbeit hat. Und am Vorabend des 730. Tages wird er erst recht zittern: Selbst wenn er sich zwei Jahre lang mächtig ins Zeug gelegt hat, kann der Arbeitgeber ihn feuern und einen anderen einstellen. "

Bernard Schmid


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