Home > Internationales > Frankreich > Soziales > schaum
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Protestbewegung im Bildungszwesen und Besetzungswelle gehen weiter

Auch ideologische Schaumschlägerei nach Zwischenfällen vom März dauert an

Die große "Arschtrittmaschine" fährt vorne weg. Der Dachverband der Lehrergewerkschaften, die FSU, hat auf der Ladefläche eines Lastwagens ein riesiges Transparent aufgespannt, das von Heißluftballons in die Höhe gezogen wird. Darauf sieht man einen stilisierten Bildungsminister François Fillon, der von einem Katapult mit der Aufschrift »Nein« einen mächtigen Tritt ins Hinterteil versetzt bekommt und durch die Luft fliegt.

Der Minister und die konservative Regierung unter Jean-Pierre Raffarin haben sich in den letzten Wochen unnachgiebig gezeigt. Der Gesetzentwurf Fillons, der unter anderem eine Einschränkung des Fächergebots auf am Arbeitsmarkt relevante "Schlüsselkompetenzen" ermöglicht, wurde am vorletzten Donnerstag verabschiedet.

Doch trotz seiner Annahme durch das Parlament zeigt die Protestbewegung in den Schulen kaum Anzeichen von Erlahmung. Zumindest nicht im Großraum Paris, wo am vorletzten Samstag über 20.000 Leute demonstrierten. Zu den Schülern am Anfang und den Lehrern am Ende des Demonstrationszuges gesellten sich einige Abordnungen von Studenten und jungen Wissenschaftlern, auch der mehr oder weniger linke Elternverband FCPE war vertreten. Es war die größte regionale Demonstration im Bildungsbereich seit Beginn der Proteste im Januar. Im übrigen Frankreich demonstrierten rund 50.000 Menschen. Dort waren die Zahlen allerdings rückläufig.

Besetzerbewegung

Durch die Schulbesetzungen, die vor drei Wochen begannen, hat die Bewegung neuen Schwung gewonnen. Nach Angaben der französischen Presse und der Polizei waren am Wochenende zwischen 150 und 180 Oberschulen besetzt, landesweit gibt es circa 2.300 solcher Schulen. Eine der Hochburgen lag in Paris, eine weitere im nördlich an die Hauptstadt angrenzenden
Trabantenstadtbezirk Seine-Saint-Denis. An beiden Orten haben sich auch Koordinationen der Besetzer gegründet. Es ist das erste Mal seit den späten siebziger Jahren, dass es zu solchen Aktionen kommt.

Die Bestzungen scheinen dem Aufbegehren der Oberschüler neue Aktionsmöglichkeiten zu verschaffen, nachdem in den letzten Wochen immer weniger Leute an den Demonstrationen teilgenommen hatten. Zu dem Abflauen der Bewegung ganz erheblich beigetragen hatte die Pariser Demonstration vom 8. März, die von Jugendbanden von Jugendbanden aus den Banlieues angegriffen worden war.

Demagogie über "antiweißen Rassismus"

Diese Vorfälle haben inzwischen auch eine heftige Debatte unter den Intellektuellen und in den Medien ausgelöst. Inzwischen kursiert eine Resolution "gegen die anti-weißen Rattenjagden". Dabei ist "Rattenjagd", ratonnade, ein Begriff, der für die oft tödlichen kollektiven Ausschreitungen gegen Araber während des französischen Algerienkriegs steht. Der Titel warnt damit vor einer Art "Pogrome gegen Weiße". Unterschrieben wurde er zuerst von dem Philosophen Alain Finkielkraut. Dieser ehemalige Linke aus den siebziger Jahre wandelte sich später zu einem der lautstarken
"antitotalitären" Mahner vor linken Ideen und sozialen Bewegungen - und ist im Allgemeinen ein unerträglicher Dummschwätzer. Auch die Proteste gegen den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen im Frühjahr 2002 kritisierte er als Ausdruck eines »kommunistisch inspirierten Antifaschismus«, der sich durch die Masche auszeichne, »die Politik in Gut und Böse einzuteilen«. Den Aufruf
unterschrieben haben auch der ehemalige sozialdemokratische Minister Bernard Kouchner sowie der Schriftsteller Pierre-André Taguieff, der bis in die neunziger Jahren zum antirassistischen Milieu gehörte und danach mit ihm brach.

Die Überlegung ist an sich nicht falsch, wonach man die perspektivlose Migrantenjugend in den Trabantenstädten nicht in sozialromantischer Weise verklären dürfe - vor allem nicht, wenn sich ihr Frust in einer ganz und gar nicht progressiven Weise entlädt. Bereits die These vom »antiweißen
Rassismus« aber, die in der liberalen Tageszeitung "Le Monde" ausführlich debattiert wurde, ist kritikwürdig. Unter den angegriffenen Demonstranten befinden sich ebenso »farbige« Jugendliche wie unter den Angreifern. Und die Mischung aus subjektivem Opfergefühl, Sozialneid,
mitunter vorhandenem kommunitaristischen Vorstellungen und dem schlichten Wunsch, Mobiltelefone und Markenklamotten zu rauben, lässt sich nicht auf einen einfachen ideologischen Nenner bringen. Von »Pogromen« zu sprechen, ist vollends abwegig. Die Bildung von Ordnerdiensten mit den Mitteln der Selbstorganisation hat sich längst als hilfreicheres Mittel gegen die gewalttätigen Banden erwiesen als das Abfassen von Resolutionen mit grotesken Vergleichen.

Denn der Fehler, der die Überfälle vom 8. März ermöglichte, bestand darin, über keinen halbwegs strukturierten Orderdienst zu verfügen, der eine Demonstration im Notfall schützen kann. Er wird seitdem nicht wiederholt. Bei den Demos Mitte März stellten die Lehrergewerkschaften, der
Gewerkschaftsbund CGT, die Kommunistische Partei und die undogmatischen Trotzkisten zusammen mit den Schülerverbänden einen Orderdienst von mehreren hundert Leuten. Am Samstag bildeten die Oberschüler einen eigenen Ordnerdienst. Aber inzwischen ist auch die Polizei am Rande der Demonstrationen wesentlich präsenter ­ ihr war durch die Parlamentsopposition Untätigkeit vorgeworfen worden.

Perspektiven des Protests: eine offene Frage

Die Besetzungen haben es der Protestbewegung in den letzten Wochen erlaubt, eine drohende Flaute bei der Mobilisierung offensiv zu überwinden. Doch inzwischen zeigt auch diese Protestform erste Abnutzungserscheinungen. Nach dem Beginn der Proteste hat die Regierung zwar die ursprünglich ebenfalls geplante Ersetzung des Zentralabiturs durch lokale Abschlüsse, von der eine
Verschärfung der Ungleichheiten befürchtet wird, verschoben. In allen anderen Punkten aber ist sie hart geblieben. Doch nach einer gewissen Zeit benötigt eine Bewegung ein paar Erfolge. Hinzu kommt, dass Anfang Juni im ganzen Land die Abiturprüfungen beginnen, so dass es an einigen Orten zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen den Besetzern und Schülern der Abschlussklasse kam. Deswegen wünschten linke Gruppen wie die Comités d¹action lycéens, die Aktionskomitees der Oberschüler, den Protest auf die Lehrerschaft und nach Möglichkeit auf andere Berufsgruppen auszuweiten.

Immerhin Anzeichen dafür gibt es. So hat der Gewerkschaftsdachverband der Lehrer, die FSU, sich zumindest zu einer halbherzigen Unterstützung der Schulbesetzungen durchringen können - im Gegensatz zu kleineren »moderaten« Gewerkschaften, die Kritik übten. Und die Lehrer waren am Samstag in großer Zahl auf der Straße. An einigen Stellen, etwa im 11. Pariser Bezirk, kam es
bereits zu Aktionen von Lehrern. Diese streikten gegen die drohende Streichung vieler Fächerangebote. Ferner sollen im kommenden Herbst im Oberstufenbereich landesweit 7.000 Lehrerstellen verschwinden.

Dass die Mobilisierung trotz aller Schwierigkeiten anhält, ist ungewöhnlich, nachdem die Protestbewegung bereits in ihrem dritten Monat ist. Bildungsminister Fillon will auch weiterhin hart bleiben und erklärte: »In einer Demokratie entscheidet das Parlament.« Die Sonntagszeitung JDD warnt jetzt davor, dass mit einer solchen Strategie des Aussitzens Unzufriedenheit
und Verbitterung langfristig anhielten.

DIE AKTUELLE ENTWICKLUNG:

Der Donnerstag und der Freitag voriger Woche waren vor allem von "Nadelstichaktionen", Besetzungen offizieller Gebäude und ziemlich massiver Polizeigewalt geprägt.

Die Mobilisierung blieb von Ungleichzeitigkeiten geprägt, da sich nunmehr aktive "harte Kerne" herausgebildet haben, aber gleichzeitig nicht an allen Orten eine breite Mobilisierung der gesamten Schülerschaft aufrecht erhalten blieb. Die neuen Aktionsformen bringen es mit sich, dass nunmehr eher die Stunde der AktivistInnen geschlagen hat. Polizei sorgt freilich für neue Solidarisierungseffekte, unter anderem auch in der auch in der Lehrerschaft.

Bildungsminister François Fillon stellt sich ausschließlich auf den Standpunkt des Hartbleibens und erklärte: "Ich werde nicht zulassen, dass eine winzigkleine Minderheit einige Wochen vor den Abiturprüfungen die Institutionen des Bildungswesens lahmlegt." Diese harte Haltung trägt ihm mit Sicherheit keine Sympathien ein. Als einzige "Kompromiss"-Maßnahme hat der Minister angekündigt, nunmehr 300 "pädagogische Hilfskräfte" in Schulen einzustellen, die in besonderen sozialen Brennpunkten liegen. Dabei soll es sich um Studierende handeln, die später in den Schuldienst gehen wollen und die nunmehr auf diese Weise als Teilzeitkräfte neben ihrem Studium her jobben sollen, natürlich zu (im Vergleich zu "richtigen" Lehrkräften) mieser Bezahlung. Diese Maßnahme kann nicht einmal als der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein gelten: Ab dem kommenden Schuljahr im Herbst sollen frankreichweit 7.000 Lehrerposten im Oberstufenbereich entfallen. Im Grundschulbereich sollen nur 700 neue entstehen, während die Zahl der eingeschulten Kinder um 55.000 wachsen wird.

Was ist konkret passiert?

Zu einigen Aktionen im Einzelnen: In Paris besetzten am Donnerstag vormittag 300 OberschülerInnen die Oberschulverwaltung der Hauptstadtregion (le rectorat) im 20. Pariser Bezirk. Es kam zu keinem "Dialog", die "Eindringlinge" wurden mit einem massiven Aufgebot von CRS-Bereitschaftspolizei abgeräumt. Die Räumung dauerte über eine Stunde, da die BesetzerInnen sich in Ketten untergehakt auf den Boden setzten. Dabei kam es zu zahlreichen körperlichen Misshandlungen in Gestalt umgebogener Knöchel; bisher nicht bestätigte Informationen (oder auch Gerüchte) sprachen einem Fall eines im Krankenhaus behandelten Knöchelbruchs. Auch die psychologischen Bedrohungen, in Gestalt des "Spielens" mit dem Gummiknüppel in der Hand unter konkretem Anvisieren einer Person, wurden zuhauf vermeldet. Einige (leicht) verletzte SchülerInnen wurden durch die ebenfalls angerückte Feuerwehr abtransportier. Einige weitere SchülerInnen blieben kurzzeitig im Polizeikommissariat des 20. Arrondissements an der Place Gambetta im polizeilichen Gewahrsam.

Am Donnerstag nachmittag versammelten sich rund 1.000 SchülerInnen in der Nähe des Bildungsministeriums im 7. Pariser Bezirk, konnten jedoch nicht bis zum Sitz des Ministers vordringen. Im Anschluss versammelten sie sich im benachbarten 6. Arrondissement vor den Toren der Sorbonne, wo die StudentInnen jedoch nicht spontan reagierten. (Die Sorbonne ist in den letzten Jahr auch eher zur Eliteuniversität für Sprösslinge der Bourgeoisie geworden, und das Klima dort ist anders als im Mai 1968...) Ein riesiges Polizeiaufgebot verhinderte weitere Bewegungen. Der Einsatzleiter der Polizei, der als einziger der eingesetzten Beamten keinen Helm trug, bekam einen gezielten Eiwurf mit ins Gesicht ab. Es kam zu keinen weiteren Verhaftungen.

Am Freitag kam es zum kurzzeitigen Versuch, den Parteisitz der Regierungspartei UMP im äußerst vornehmen 8. Pariser Bezirk zu besetzen. Das Vorhaben erwies sich als aussichtslos und war von einer Spontandemonstration quer durch den Nobelbezirk gefolgt. Dabei wurden wiederholt symbolische Barrikaden aus Müllcontainern und BaustellenMaterial errichtet, was für das 8. Arrondissement ein ungewöhnlicher Anblick sein dürfte. Verhaftungen konnten durch Zerstreuen auf der Höhe der Champs-Elysées, nach kurzfristigen Straßenblockaden, verhindert werden.

Dagegen blieb die Demonstration vom Freitag nachmittag, mit rund 1.000 motivierten SchülerInnen und sichtbar zahlreicheren Polizisten, ein Flop. In Paris blieben bis zum Wochenende ein halbes Dutzend Oberschulen von Blockaden durch streikende SchülerInnen betroffen, aber nur die beiden prestigereichen Etablissements "Lycée Montaigne" und "Lycée Charlemagne" blieben auf Entscheidung der Rektoren hin vollkommen geschlossen.

Weitere Bestzungsaktionen wurden aus dem übrigen Land, vom nordfranzösischen Lille bis zu Tarbes im äußersten Südwesten, vermeldet. Insbesondere in Lille kam es ebenfalls zu massiver Polizeigewalt u.a. vor der Präfektur (Sitz der juristischen Vertretung des Zentralstaats). Der psychologische Schock saß bei den dortigen SchülerInnen tief; am Freitag kursierten zeitweise landesweit Gerüchte über einen getöteten oder im Koma liegenden Schüler in Lilla, die sich jedoch als unbegründet herausstellten.

Die Lehrergewerkschaften verhielten sich unterschiedlich. So erklärte die Lehrergewerkschaft "FO Bildungswesen" im Raum Lille ihre Bereitschaft, "dabei zu helfen, Exzesse zu verhindern", verurteilte jedoch auch die Polizeigewalt. Die Rektoren-Gewerkschaft SNDPEN und der (halblinke bis sozialdemokratische) Elterverband FCPE verurteilten die Schulbesetzungen und ­blockaden. Dagegen solidarisierten sich Sektionen der FSU, des mit Abstand wichtigsten Dachverbands von Lehrergewerkschaften, vielerorts mehr oder weniger mit den aktiven SchülerInnen. Im Raum der Schulverwaltung von Créteil (südöstlicher Vorort von Paris) kam es jedoch auch dazu, dass zwei Dutzend Lehrer einer Oberschuler mit Aufklebern der FSU-Gewerkschaft der Oberstufenlehrer (SGEN) eine Gegenblockade veranstalteten, um "arbeitswilligen Schülern Zutritt zu verschaffen". In Reaktion darauf fiel der Unterricht jedoch erst recht aus, da sich nunmehr kaum SchülerInnen dafür bereit fanden. Im politischen Bereich verurteilten die KP und die (undogmatisch-trotzkistische) LCR klar die Polizeigewalt; die LCR ließ eine Vertreterin der Nationalen Oberschüler-Koordination am Freitag abend bei ihrem Meeting gegen den EU-Verfassungsvertrag vor 1.500 Personen sprechen. Auch Politiker der "Sozialistischen" Partei (PS) wie Julien Dray verurteilten, dass die Polizei eingesetzt werde, "statt einen Dialog mit den Sprechern der SchülerInnen zu suchen", und verlangten die Eröffnung von Verhandlungen mit den anerkannten Schülerverbänden (wie der PS-nahen FIDL...).

Am Montag vormittag eröffnete das Lycée Montaigne im Pariser Stadtzentrum seine Tor wieder, jedoch mit davor stationierten Polizisten in persönlicher Begleitung des Rektors, die eine Eingangskontrolle vornahmen. Daraufhin blockierten 100 bis 200 SchülerInnen den Zugang vollständig, unterstützt durch "eine Mehrheit der Lehrerschaft", wie es jedenfalls in Nachrichten auf einschlägigen Mailingslisten hieß.

Am Mittwoch nachmittag soll eine nationale Demonstration der OberschülerInnen in Paris stattfinden, ausgehend von der Place Denfert-Rocherau.

Von Bernhard Schmid, 11.4.05


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang