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Die 35-Stundenwoche in Frankreich oder: Wie man’s nicht machen soll

Die Diskussion über Arbeitszeitverkürzung scheint auf der Stelle zu treten. Immer mal wieder wird sie zwar in verschiedensten Varianten von den Gewerkschaften ins Gespräch gebracht, derzeit vor allem unter der Prämisse der Beschäftigungspolitik als Mittel zur Arbeitsumverteilung in Form des Überstundenabbaus. Doch unklar scheint, wie der Ansatz einer kollektiven, allgemeinen Arbeitszeitverkürzung mit der real existierenden Arbeitszeitflexibilisierung, geschweige weitergehenden Flexibilisierungsbedürfnissen, wie sie nicht nur von den Unternehmensverbänden geäußert werden, vermittelt werden kann, ohne dass die Flexibilisierung zu Lasten der Beschäftigten geht. Ein Blick nach Frankreich kann aufschlussreich sein, denn dort wurde auf gesetzlichem Wege versucht beide Momente zu verbinden – und, wie die European Trade Union Confederation (ETUC) meint, ein Modell für ganz Europa geschaffen: Seit Anfang des letzten Jahres gilt für mittlere und größere Betriebe eine »Regelarbeitszeit« von durchschnittlich 35 Wochenstunden, mit Beginn dieses Jahres müssen nun auch Betriebe mit weniger als 20 Beschäftigten Vereinbarungen zur Realisierung der 35-Stundenwoche abschließen. In beiden Phasen sollten staatliche Subventionen einerseits helfen, die Umsetzungsphase zu beschleunigen, andererseits aber vor allem Anreize für die erhoffte Beschäftigungswirksamkeit der Arbeitszeitverkürzung schaffen – und damit indirekt einer absehbaren Arbeitsverdichtung vorbeugen. Denn eines war schon unter Wirtschaftsminister Strauss-Kahn, der zunächst die Federführung hatte, dann aber auch unter Arbeits- und Sozialministerin Martine Aubry klar: Das kurz RTT (»Réduction du temps de travail«) genannte Gesetz sieht eine weitgehende Flexibilisierung der Arbeitszeit vor und verlangt von den Beschäftigten Gegenleistungen für die Arbeitszeitverkürzung. Eine Auswertung zur Frage, inwieweit die Subventionen zu dauerhaften Neueinstellungen geführt haben, ist derzeit noch schwierig: Bei einer zehnprozentigen Arbeitszeitverkürzung und sechs Prozent Neueinstellungen gab es rund 1600 Euro pro neuem Beschäftigtem und Jahr, wobei die Subventionen fünf Jahre gezahlt werden, die Beschäftigten jedoch theoretisch bereits nach zwei Jahren wieder entlassen werden können. Eindeutige Kritik gibt es jedoch an der Form der Flexibilisierung selbst. Wir dokumentieren den leicht gekürzten Beitrag von Denis Langlet, der für Genossen in England eine Zusammenfassung des Gesetzes geschrieben hat, die er auch im Rahmen der »Internationalen Konferenz gegen Deregulierung & für ArbeitnehmerInnenrechte« vom 22.-24. Februar in Berlin vortragen will.[1] Langlet ist Mitglied des internationalen Vorbereitungskreises der Konferenz und Gewerkschaftssekretär in Frankreich.

Am 19. Januar 2001 hatte das französische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den Titel »Reduzierung und Neuorganisation der Arbeitszeit« trägt. Wenig überraschend konstatierte die Arbeitsministerin, Martine Aubry, sowie der Rest der Regierung, dieses Gesetz stelle einen Fortschritt für die ArbeiterInnen in Bezug auf die Beschäftigungslage und die Arbeitsrechte dar. Was genau enthält dieses Gesetz? Warum traten so viele Beschäftigte bzw. deren Gewerkschaften in Streik, als das Gesetz in Kraft treten sollte? Noch heute, im Januar 2002, streiken Beschäftigte des Öffentlichen Sektors in verschiedenen Städten wegen des Angriffs auf ihre Sozialleistungen, den das Gesetz enthält. Die Antwort ist einfach: Bei dem Gesetz geht es gar nicht um eine Reduzierung der Arbeitszeit. Das Gesetz ermöglicht vielmehr deren Flexibilisierung und erlaubt unbezahlte Überstunden.

1. Mit Artikel 2 des Gesetzes wurde eine Neudefinition des Begriffs Arbeitszeit vorgenommen. Als Arbeitszeit gilt nach dieser Definition die Zeit, während der der einzelne Beschäftigte dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und den Direktiven des Unternehmens unterliegt, nicht jedoch Zeiten, die persönliche Angelegenheiten betreffen. Mit dieser Definition werden folgende Tätigkeiten bzw. Zeiten aus dem Begriff der Arbeitszeit ausgeschlossen: An- und Abfahrtszeiten, nicht durch das Gesetz oder einen Tarifvertrag als zur Arbeitszeit gehörig definierte Pausen (z.B. Umkleidezeiten, Dienstreisen).

Aufgrund dieser Neudefinition wird der Arbeitgeber in die Lage gesetzt, die Arbeitszeit formell reduzieren zu können, ohne dass sich die Zeit, die am Arbeitsplatz verbracht wird, reduziert. Auf diesem Wege lässt sich auch die Produktivität steigern.

2. Vor dieser Umstellung wurde die Arbeitszeit wöchentlich gemessen, wobei als Standard-Arbeitszeit eine Fünf-Tagewoche galt, jeweils gefolgt von zwei freien Tagen. Dies war eine der wichtigsten Errungenschaften der 1936er Generalstreiks in Frankreich. Die Neudefinition der Arbeitszeit mit der Einführung der 35-Stundenwoche hat die damit verbundenen Standards verändert. Die Arbeitszeit kann jetzt auf jährlicher Basis berechnet werden. In diesem Fall hat der Beschäftigte nach Artikel 8 jährlich 1600 Stunden zu arbeiten. Die wöchentliche Arbeitszeit kann demnach variieren: von null Stunden bis 48 Stunden pro Woche oder bis zu 44 Stunden pro Woche über einen Zeitraum von maximal zwölf Wochen. Lediglich die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit pro Jahr bzw. für die verbleibende Periode muss bei 35 Stunden liegen (Artikel 6). Doch seit den Generalstreiks 1936 lag das Limit der täglichen Höchstarbeitszeit bei zehn Stunden, und es mussten zwei freie Tage genommen werden. Nach der neuen Definition kann der Beschäftigte nun bis zu 13 Stunden täglich (24 minus 11) an sechs Tagen pro Woche eingesetzt werden (Artikel 7).

Diese neuen Standards erfüllen die Kriterien einer Europäischen Richtlinie von 1993. Demnach gilt als erste zu bezahlende Überstunde diejenige, die über der jeweils festgelegten wöchentlichen Durchschnittszeit pro Jahr bzw. pro vereinbartem Zeitraum liegt. So könnte ein Beschäftigter beispielsweise 44 Stunden pro Woche arbeiten, ohne dass Überstunden anfallen würden, wenn seine Arbeitszeit in der darauf folgenden Woche bei 26 Stunden bzw. in den nächsten drei Wochen bei 32 Stunden pro Woche läge. Die Möglichkeit, die Arbeitszeit wöchentlich variabel zu gestalten, ist für die Arbeitgeber sehr attraktiv. Es erlaubt ihnen, auf ein steigendes Auftragsvolumen mit einer Erhöhung der Arbeitszeit zu reagieren, die Lagerhaltung zu reduzieren und, da die Überstundenzuschläge entfallen, die Personalkosten erheblich zu senken.

Das Gesetz definiert drei Gruppen von Managern, von denen zwei ausgenommen sind von den Bestimmungen zur 35-Stundenwoche. In anderen Worten: Die Arbeitszeitbestimmungen gelten für die Mehrheit der Beschäftigten, die unter jene zwei Kategorien fallen, nicht – sie können bis zu 13 Stunden täglich eingesetzt werden und müssen 217 Tage pro Jahr arbeiten. Dies stellt insofern einen bedeutenden Umstand dar, als in Frankreich alle Ingenieurstätigkeiten als Managementaufgaben gelten und die Arbeitgeber diese Beschäftigten nun jährlich 2821 Stunden (13 mal 217) arbeiten lassen können – das ist mehr, als vor Einführung des Gesetzes möglich war. (...)

Beschäftigte hatten gefordert, dass ihre monatlichen Bezüge unter dem neuen Gesetz stabil bleiben sollten. Doch es gibt in diesem Gesetz nichts, dass dieser Forderung entgegenkommen würde. Die Unternehmer können eine Senkung des Monatslohns durchsetzen, solange die Stundenlöhne gleich bleiben. (...)

3. Das Gesetz erlaubt eine von Werk zu Werk, Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und sogar von Beschäftigtem zu Beschäftigtem differierende Ausgestaltung der Arbeitszeit. Mit ihm wurde die Individualisierung der Arbeitsverträge gegen die Standards der Tarifverträge eingeführt. Das Gesetz gestattet Vereinbarungen auf Konzernebene neben abgestuften Vereinbarungen auf sektoralem oder nationalem Level. Umgesetzt wird das Gesetz auf Ebene der Einzelunternehmen bzw. Konzerne, und diese Unternehmensvereinbarungen gelten dann neben anderen Vereinbarungen auf nationaler Ebene. Klar ist, dass die Vereinbarungen auf Unternehmensebene flexiblere Regelungen enthalten können als diejenigen auf nationaler Ebene. Aufgrund dieses Spielraums können unternehmensbezogene Vereinbarungen von tarifvertraglichen Regelungen abweichen. Insofern stellt das Gesetz eine ernsthafte Bedrohung für jeden einzelnen Tarifvertrag dar.

Dabei handelt es sich nicht um den ersten Angriff gegen Tarifverträge. Die nationale Ebene ist seit dem Generalstreik 1936 diejenige, auf der die Rechte und Ansprüche der ArbeiterInnen hauptsächlich entschieden werden. Vor 1980 hatten Unternehmensvereinbarungen lediglich ergänzenden Charakter, insofern auf dieser Ebene höhere Abschlüsse vereinbart werden konnten. Trotz des geringen Organisationsgrades ist der

Geltungsbereich von Tarifverträgen in Frankreich daher vergleichsweise umfassend: Jede Branche bzw. jeder Sektor unterliegt einem Tarifvertrag auf nationaler Ebene. Das Management will dagegen die Tarifverträge dezentralisieren, so wie die Unternehmensleitungen auch ihre Produktionsorganisation durch Outsourcing dezentralisieren wollen. Auf diese Weise versuchen sie die Gewerkschaften zu schwächen. (...)

4. Das 35-Stundengesetz wurde eingeführt unter der Prämisse einer Umsetzung Europäischer Richtlinien, insbesondere der Richtlinie zur Arbeitsorganisation von 1993. Seit der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages muss jedes Land der EU auf Kompatibilität der nationalen Regelungen mit den Richtlinien bzw. Verordnungen der Europäischen Kommission achten. Die Kommission ist das Zentrum der Deregulierung in Europa. So hat sie beispielsweise die Möglichkeit der Nachtarbeit für Frauen und der bezahlten Kinderarbeit für Kinder zwischen 13 und 16 Jahren eingeführt. Die Kommission war es, die eine Richtlinie zur Möglichkeit der Neuberechnung der Arbeitszeit auf Jahresbasis absegnete. Auf EU-Ebene wird faktisch versucht, die Beschäftigten korporatistisch in die Managementaufgaben einzubinden, um die Produktivität zu steigern und Kosten zu senken. (...)

Übersetzung: Kirsten Huckenbeck

erschienen in express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit - Ausgabe 2/2002

(Quelle: Labournet Germany): Der Originaltext war: New French "35-Hour Work Week" - An Example of Deregulation. Report from Denis Langlet, French metalworker unionist, on the new French "35-hour workweek (with an introduction by the British Support Committee of the Berlin Conference). Englischer Bericht eines französischen Metallarbeiters über die Erfahrungen mit der 35-Stunden-Woche

Anmerkung

1) Kontakt zum deutschen Trägerkreis über: HBV in ver.di, Am Köllnischen Park 2, 10179 Berlin, Tel. (030) 27 87 73 45, email: IkgD-@t-online.de

Weitere Informationen zur Umsetzung der RTT sowie Hinweise auf aktuelle Studien finden sich auch in dem Beitrag von Bernhard Schmid: »35-Stunden-Woche in Frankreich, zwischen sozialer und neoliberaler Reform«, Januar 2002, in: www.labournet.de
Insbesondere wird dort auch eine Studie genannt, in der auf Gründe für die von obigem Kommentar abweichenden Einschätzungen der »Cadres«, der Ingenieure, zur Jahresarbeitszeit eingegangen wird.


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