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Die Einführung der 35-Stunden-Woche stellt in Frankreich bereits eine
ältere Forderung dar. In den Jahren zwischen 1997 und 2002 hat die, sozialdemokratisch
geführte, Jospin-Regierung nunmehr eine Durchschnitts-Arbeitszeit von 35
Stunden wöchentlich - oder 1.600 Stunden im Jahr - zur gesetzlichen Norm
erhoben. Seit dem 1. Februar 2000 gilt diese gesetzliche "Regelarbeitszeit"
für die mittleren und größeren Betriebe. Nunmehr gilt sie, seit
dem 1. Januar dieses Jahres, auch für die kleineren Unternehmen - jene
mit weniger als 20 Beschäftigten waren bis dahin noch von der Reform ausgeklammert
gewesen.
Doch zunächst ein kurzer Rückblick auf die Geschichte dieser Idee.
Die französischen Gewerkschaften, vor allem die beiden größten
Gewerkschaftsbünde - die (bis vor wenigen Jahren kommunistisch orientierte)
CGT und die (in den Siebzigern linksalternative, heute sozialdemokratische)
CFDT -, hatten die 35 heures seit Ende der 60er Jahre gefordert. Die
"Linksunion" aus Sozialistischer und Kommunistischer Partei, die 1972
geschlossen wurde, nahm sie damals in ihr "Gemeinsames Programm" auf. Zu jener
Zeit war die Arbeitszeitverkürzung vor allem als Maßnahme zur Verbesserung
der Lebensqualität sowie zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze
gedacht. Im Mai/ Juni 1981 kamen die beiden Linksparteien, unter der Führung
von François Mitterrand - dem frisch gewählten sozialistischen Staatspräsidenten
- und Georges Marchais, dann an die Regierung. Sie stellten die Einführung
der 35-Stunden-Woche damals bis zum Jahr 1985 in Aussicht. Doch es blieb bei
einer einmaligen Herabsetzung der Arbeitswoche von 40 auf 39 Stunden im Jahre
1982. Und diese blieb oft ohne Auswirkungen, da die Unternehmen häufig
einfach die Wochenarbeitszeit neu berechneten, indem sie die Pausen ausklammerten.
In den kommenden Jahren wurde das Versprechen dann - zusammen mit anderen Reformideen
aus der Anfangsphase der Linksregierung - in die Mottenkiste geräumt. Die
internationalen wirtschaftlichen Realitäten, der Konkurrenzdruck und die
notwendige Wettbewerbsfähigkeit ließen es leider nicht zu, so hieß
es. Zuvor war die Regierung durch Kapitalflucht und Zwang zur Abwertung der
französischen Wertung unter erheblichen Druck geraten - daher riss sie
das wirtschaftspolitische Ruder ab dem Jahreswechsel 1982/83 herum. Und die
KP verließ 1984 dann die Regierung.
Die Koalition der "pluralen Linken" unter Lionel Jospin - obwohl mit deutlich
weniger Versprechen einer tiefgreifenden Gesellschaftsveränderung angetreten
als ihre Vorgänger 1981 - versprach nunmehr, mit der 35-Stunden-Reform
Ernst zu machen. Nachdem sie im Juni 1997 die Regierung übernommen hatte,
berief sie für den 10. Oktober 1997 eine "Nationale Konferenz über
die Löhne, die Arbeitszeit und die Beschäftigung" am Amtssitz des
neuen Premierministers ein. An ihr sollten Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber-Verbände
teilnehmen. Doch die Reformidee hatte mittlerweile eine andere Natur angenommen.
Ursprünglich war an eine rein beschäftigtenfreundliche, soziale Maßnahme
gedacht gewesen. Vordenker der "neuen Version" der 35-Stunden-Woche war nun
der sozialliberal orientierte Wirtschaftsminister der Jahre 1997 bis 1999, Dominique
Strauss-Kahn - der ansonsten nicht unbedingt als Vorkämpfer antikapitalistischer
Ideen, sondern eher als "Freund der Bosse" gilt. (Er hatte 1993 einen Lobbyclub
der französischen Arbeitgeber bei der EU in Brüssel ins Leben gerufen,
den Cercle de l¹industrie.) Strauss-Kahn hatte die 35 Stunden vor der
Wahl in das Programm der Sozialisten aufnehmen lassen. Dagegen war die spätere
Arbeits- und Sozialministerin Martine Aubry - ihren Namen tragen die beide Gesetze
zur Reform heute - eher dagegen gewesen, weil sie die Reformidee für unrealistisch
hielt.
Strauss-Kahn hingegen plädierte für eine neue Methode. Ein Deal sollte
zwischen den modernisierungsfreundlichen Teilen der Arbeitgeber und den kompromisswilligen
Gewerkschaften geschlossen werden. Dessen Kernpunkt sollte lauten : Arbeitszeitverkürzung
ja - aber im Gegenzug müssen die Beschäftigten mehr "Flexibilität"
akzeptieren, etwa in Gestalt variabler Arbeitszeiten, die je nach den Bedürfnissen
des Betriebs von Woche zu Woche schwanken.
Entsprechend verkündete Regierungschef Lionel Jospin auf der Konferenz
im Oktober 1997 zwei Dinge. Einerseits, dass die regierende Koalition einen
gesetzlichen Rahmen für die Festschreibung der 35-Stunden-Woche als "Regelarbeitszeit"
fest schreiben werde. Aber andererseits fügte er wörtlich hinzu :
"Die Beschäftigten müssen Gegenleistungen für diesen sozialen
Fortschritt akzeptieren, sowohl was die künftige Entwicklung der Löhne
betrifft, als auch die Organisationsformen der Arbeitszeit". Zweiter Punkt spielt
klar auf die Möglichkeit flexibler Arbeitszeiten, etwa in Form jährlicher
Arbeitszeitkonten, an. Das hinderte einen Teil des Arbeitgeberlagers nicht daran,
dennoch Zeter und Mordio zu schreien. In seinen Augen ist jegliche "Einmischung
der Politik", wie sie in diesem Fall erfolgte, ein verwerflicher Eingriff in
die Freiheit der Wirtschaft.
Die Einführung der RTT (réduction du temps de travail, also
Arbeitszeit-Verkürzung), wie die Reform allgemein genannt wird, erfolgte
dann durch zwei Gesetze, die den Namen der damaligen Arbeits- und Sozialministerin
tragen. Man kann von einer Art Sandwich-Technik sprechen. Die erste Loi Aubry
vom 13. Juni 1998 - gewissermaßen die untere Scheibe des Sandwichs - legt
selbst noch keine Regeln fest, sondern erteilt Arbeitgebern und Gewerkschaftern
den Auftrag, auf dezentralisierter Ebene - in den einzelnen Betrieben - zu verhandeln.
Dies unter der Vorgabe, sich auf eine Arbeitszeit von maximal 1.600 Stunden
im Jahr (das entspricht einem Durchschnitt von 35 Stunden wöchentlich)
zu einigen. Die Auflage des Sandwichs, die ihm dann den Geschmack verleihen
soll, besteht aus den "sozialpartnershaftlich" geschlossenen Kollektivverträgen,
die dann dabei herauskommen. Und die zweite Loi Aubry - die im Dezember
1999 vom französischen Parlament verabschiedet wurde und, nach einer teilweisen
Zensur durch das Verfassungsgericht, am 19. Januar 2000 im Gesetzblatt erschien
- sollte dann ausgearbeitet werden, indem man eine Bilanz der vorher angenommenen
kollektivvertraglichen Regelungen zog. Sie bildet dann sozusagen die obere Hälfte
des Sandwichs. Nur, was zwischen Arbeitgeberlager und Gewerkschaften konsensfähig
war, konnte so im Prinzip in das zweite Gesetz einfließen. Diese Technik
des Gesetzgebers bricht mit den ansonsten in Frankreich üblichen politischen
Methoden, in denen das - auf politischer Ebene verabschiedete - Gesetz eine
zentrale Rolle in der Sozial- und Wirtschaftspolitik spielt, nämlich als
Mimimalsockel, auf dem die Kollektivverträge dann aufbauen. Unter dem Druck
des Neoliberalismus ist dies nun aber zunehmend vorbei.
Die Rolle des Gesetzgebers bestand dabei im Wesentlichen darin, den Betrieben
Subventionen zufließen zu lassen. Das erste Gesetz vom 13. Juni 1998 stellte
so den Arbeitgebern Zuschüsse (2.500 Schweizerfranken pro Beschäftigten
und pro Jahr) in Aussicht, für den Fall, dass sie Kollektivverträge
zur 35-Stunden-Wochen abschlössen. Unter der Bedingung, bei 10 Prozent
Verkürzung der Arbeitszeit 6 Prozent zusätzliche Beschäftigte
einzustellen - und die zusätzlichen Arbeitnehmer für mindestens zwei
Jahre zu behalten. In diesem Falle flossen die Subventionen 5 Jahre lang, wobei
nichts betriebsbedingte Entlassungen ab dem dritten Jahr ausschloss. Das zweite
Aubry-Gesetz sieht erneute, kräftige Subventionen für die Betriebe
vor - aber dieses Mal unter einer anderen Bedingung.
Um an die neuen Zuschüsse gelangen zu können, muss der Arbeitgeber
seinen Kollektivvertrag mit einer oder mehreren Gewerkschaften abgeschlossen
haben, die - nach den Ergebnissen der Betriebsratswahlen - die Mehrheit der
Beschäftigten vertreten. (Oder aber die Beschäftigten sollen dem Kollektivabkommen,
per Urabstimmung, zustimmen.) Damit soll eines der größten Probleme,
die die französische Arbeitsgesetzgebung aufwirft, gelöst werden.
Nach geltendem Gesetz kann nämlich jede einzelne Gewerkschaft, die an einen
der großen Gewerkschaftsbünde angegliedert (und damit représentatif)
ist - auf nationaler Ebene existieren fünf Dachverbände parallel zueinander
- einen Kollektivvertrag abschließen. Und dieser ist dann für alle
Beschäftigten rechtsverbindlich - auch wenn die Gewerkschaft selbst
noch so wenige Beschäftigte repräsentiert. In der Vergangenheit warf
dies kaum Probleme auf, weil das Gesetz ein Minimum an Garantien vorgab und
die Kollektivverhandlungen nur dazu dienten, von diesem Sockel aus die Lage
der Beschäftigten noch zu verbessern. Die Gewerkschaften konnten ruhig
um diese Verbesserungen wetteifern. Doch die Lage stellt sich heute anders dar,
wenn das Gesetz selbst keine Garantien mehr gibt, sondern die Tür dafür
öffnet, dass "Gegenleistungen" der Lohnabhängigen erbracht werden
müssen. Etwa in Form verstärkt "flexibler" Arbeitszeiten. Das zweite
Aubry-Gesetz wollte daher allzu krassen Missbräuchen einen Riegel vorschieben,
die daraus entstehen könnten, dass Arbeitgeber mit kaum repräsentativen
(also kaum die Beschäftigten vertretenden), kleinen Gewerkschaften - die
etwa einem der eher rechten Dachverbände angegliedert sind - Vereinbarungen
schließen.
Doch in der Realität trifft man heute auf eine doppelte Praxis : Große
Betriebe, die es sich leisten können, auf die Aubry-Subventionen zu verzichten,
schließen dennoch Kollektivverträge mit weniger repräsentativen,
kleinen Gewerkschaften. Diese sehen dann sehr weitgehende Zwänge für
die abhängig Beschäftigte vor, etwa in Gestalt variabler Arbeitszeiten
und über mehrere Jahre hinweg gebremster Lohnentwicklung als "Ausgleich"
für die RTT. Hingegen streben kleinere Betriebe häufig danach, doch
noch an die Subventionen heran zu kommen, und machen mitunter einige Zugeständnisse
an die Beschäftigten ; hier gibt es aber auch weniger Gewerkschaften...
Ein Sonderproblem bilden die öffentlichen Unternehmen : Hier darf die Regierung
keine Subventionen geben, da sie befürchtet, andernfalls durch die EU aus
Brüssel bestraft zu werden. Und das wegen Vertoßes gegen EU-Bestimmungen
zum Konkurrenzrecht. Diese verbieten die Subventionierung öffentlicher
Betriebe. Daher muss die RTT hier meistens ohne zusätzliche Mittel auskommen,
und daher oft auch ohne Einstellungen zusätzlichen Personals. Bei der Post
bspw. hat dies zu gewissen Engpässen in der Versorgung der Bevölkerung
geführt, zeitweise auch zu schweren Konflikten zwischen Direktion und Beschäftigten.
Im Januar 2000, auf dem Höhepunkt, wurden 200 Streikbewegungen in einem
Monat gezählt. Doch nur in einigen Fällen konnte die Einstellung zusätzlichen
Personals erreicht werden.
Im Jahr 2001 wurden mehrere Studien veröffentlicht, die es erlauben, eine
allererste Bilanz der Aubry-Reform aus Sicht der abhängig Beschäftigten
zu ziehen. Diese Bilanz ist demnach ausgesprochen ambivalent. Einerseits erklärt
in der Regel die Mehrheit der Beschäftigten, mit der RTT an sich zufrieden
zu sein und nicht dahinter zurückkehren zu wollen. Andererseits erklärt
aber auch ein bedeutender Prozentsatz der Beschäftigten, dass sich ihre
konkreten Arbeitsbedingungen durch die 35-Stunden-Reform nicht verbessert oder
gar verschlechtert habe. Dies ist die Folge von "flexibleren" Arbeitszeiten
und / oder Arbeitsverdichtung - dort, wo pro Beschäftigten die gleiche
Arbeitsleistung in kürzerer Zeit zu erbringen ist. Denn oft wurden, wenn
überhaupt, Arbeitsplätze im Zusammenhang mit dem Aubry-Gesetz in Wachstumssektoren
- etwa den Marketing-Abteilungen - solcher Unternehmen geschaffen, die ohnehin
vom seit 1997 anhaltenden Wirtschaftswachstum profitierten. (Nach Angaben des
staatlichen Commissariat au Plan wurden seit 1997 insgesamt 1,375 Milionen Arbeitsplätze
geschaffen. Davon führt diese offizielle Stelle nur 240.000 auf die RTT
zurück. Und selbst dabei vermischt sie die Effekte des von der konservativen
Vorgängerregierung verabschiedeten "Robien-Gesetzes" - das Arbeitszeitverkürzungen
und Einstellung zusätzlichen Personals auf freiwilliger Basis vorsieht
und subventioniert - in ihrer Statistik mit denen des Aubry-Gesetzes.)
Dennoch erklären sich die Beschäftigten in ihrer Mehrheit mit der
RTT im Kern zufrieden. Allem Anschein nach deswegen, weil diese ihnen zumindest
ermöglicht, einen halben Tag in der Woche oder ein paar Tage im Jahr (dort,
wo die RTT aufs Jahr umgerechnet wird und in Form zusätzlicher Urlaubstage
anfällt) aus dem Arbeitsleben zu entfliehen und sich ihrer Familie oder
sich selbst zu widmen. Das ist verständlich. Aber das genauso notwendige
Ziel einer Verbesserung der kollektiven Situation innerhalb der Arbeitswelt
scheint dabei immer mehr aus dem Blickfeld zu geraten.
Am 15. Mai 2001 fasst die Tageszeitung France Soir eine soeben erschienene
Studie aus dem Arbeitsministerium folgendermaßen zusammen : "Je nachdem,
ob man cadre (Führungskraft oder leitender Angestellter) oder aber
Arbeiter ist, fallen die Auswirkungen der 35-Stunden-Woche unterschiedlich aus.
Und es sind vor allem die cadres, die sich am zufriedensten mit der RTT
zeigen". Nämlich weil sie davon in Form ganzer Urlaubstage, über das
Jahr verteilt, profitieren. Das Frohlocken der Tourismusindustrie über
die gestiegene Zahl von Kurzurlauben und Wochenend-Reisen geht vor allem auf
diese Schichten der Beschäftigten zurück, die aber oft einen hohen
Preis dafür bezahlen : Die Aubry-Gesetz sehen ausdrücklich vor, dass
für die cadres nur mehr die Zahl der Arbeitstage pro Jahr, aber
nicht mehr die Länge der Arbeitszeit am Tag gemessen wird. Andere Beschäftigte
hingegen sehen sich die RTT in Form halber Stunden pro Tag oder eines Nachmittags
pro Woche angerechnet, was wesentlich geringere Veränderungen des Lebensrhytmus
nach sich zieht. - Und weiter im Text : "Bei den einfachen Angestellten
oder Arbeitern klingt das anders. So zeigt eine Studie des Gewerkschaftsbunds
CFDT im Bausektor von Anfang des Jahres, dass sich die Bedingungen im Arbeitsleben
verschlechtern. (...) Die Beschäftigten des Sektors legen einen markanten
Pessimismus an den Tag, was die Entwicklung der Arbeitsbedingungen, des Rhythmus
und der Intensivität der Arbeit betrifft, aber auch die Entwicklung der
Löhne."
Eine andere Studie, die dieses Mal vom Commissariat au Plan stammt und durch
die Wirtschaftszeitung La Tribune vom 19. Juni 01 präsentiert wird,
sieht aber auch für die leitenden Angestellte Nachteile - "Stress und Müdigkeit
für die cadres", lautet bereits die Überschrift. Der Untersuchung
zufolge zeigt sich die Mehrheit der Befragten global mit der RTT einverstanden
: 58 Prozent der Befragten betrachten sie als Verbesserung des täglichen
Lebens, 29 Prozent sehen keine Veränderung darin, und für 13 Prozent
stellt sie eine Verschlechterung dar. Doch befragt nach den konkreten Arbeitsbedingungen,
sieht die Verteilung von Zufriedenheit und Unzufriedenheit anders aus. Für
46 Prozent stellt die RTT unter diesem Gesichtspunkt weder Verbesserung noch
Verschlechterung dar, 29 Prozent konstatieren eine Verschlechterung und 25 Prozent
eine Verbesserung.
LabourNet Germany: http://www.labournet.de/
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