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Updated: 18.12.2012 15:51
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Frankreich: Generalstreik oder Bluff?

Jacques Chiracs Präsidentschaft endet, wie sie 1995 begann: Auch in ihrer Schlussphase wird sie von massiven sozialen Protesten überschattet. 13 Monate vor der Wahl seines Amtsnachfolgers - nur ein Prozent der befragten Franzosen wünschten jüngst eine Wiederkandidatur Chiracs - ist es wieder so weit. Erneut muss das Staatsoberhaupt versuchen, einen massiven sozialen Konflikt zu entschärfen. Die massiven Demonstrationen vom Samstag unterstrichen das Ausmaß der Widerstände gegen das Vorhaben, den Kündigungsschutz auszuhebeln. Erstmals nehmen auch die großen Gewerkschaftsbünde jetzt, seit dem Wochenende, das Wort vom «Generalstreik» in den Mund

Sie rufen «Villepin, Du bist futsch, die Jugend ist auf der Straße». Oder, einen (in unterschiedlichen Abwandlungen) seit Generationen von Demonstranten besonders beliebten Slogan varrierend: «Oh Villepin, wenn Du wüsstest, wo wir uns Deine Reform hinstecken. In den A - in den Ah - Ah ah ah! Kein Zögern und kein Zaudern: weg mit dem CPE!» Auf Französisch klingt das ziemlich rund. Hunderttausende sind unterwegs. Am Samstag waren es etwa in Paris mindestens 200.000 Menschen. Die Polizei beziffert im Nachhinein die Demonstrantenzahl mit 80.000, aber sie rechnet grundsätzlich die erst im Laufe eines Protestzugs von verschiedenen Seiten Eingetroffenen und die Sympathisanten auf den Trottoirs nicht mit; und die Veranstalter sprechen von 350.000. Landesweit dürften eine bis anderthalb Millionen Demonstranten an diesem sonnigen, aber kühlen Wochenendtag zusammenkommen.

Schon zwei Tage vorher waren frankreichweit 300.000 bis 500.000 Menschen auf die Straße gegangen. Obwohl am Donnerstag ausschließlich die Studierenden- und Oberschülergewerkschaften wie die UNEF (Nationale Union der Studenten Frankreichs) und die FIDL (Demokratischer unabhängiger Verband der Oberschüler) und studentische Streikkomitees, die aus Vollversammlungen hervorgingen, dazu aufgerufen hatten. Am Samstag kamen jetzt auch die Gewerkschaftsverbände von Arbeitern und Angestellten hinzu. Tatsächlich waren alle Generationen auf dem Pariser Asphalt und dem anderer französischer Städte vertreten. Die streikenden Oberschüler vorne, die «Eltern gegen Prekarität (soziale Unsicherheit)» von der FCPE - dem Zusammenschluss von Elternverbänden in Schulen - weiter hinten, zahlreiche ältere Beschäftigte überall dazwischen verstreut. Beim ersten Studentenblock ertönt Rapmusik aus den Lautsprecherwagen, in der Mitte der Demo scharen Gruppen von Trommlern zahlreiche tänzelnde Demonstranten um sich. Auch die CGT - der postkommunistische größte Gewerkschaftsbund - will sich nicht nachsagen lassen, dass es bei ihr dröge zuginge, und legt Scheiben des politisch engagierten afrikanischen Reaggeastars Tiken Jah Fakoly auf. Von «Motivés», der rockig-fetzigen Neufassung des «Partisanenlieds» aus der französischen Résistance, die vor zehn Jahren durch die Toulouser Rockband ' Zebda' vorgestellt wurde, braucht man gar nicht erst zu reden. Sie gehört ohnehin zu den Kultsongs in allen französischen Demonstrationen. Alles in allem schwingt ein Hauch von Karneval mit, einige Demonstranten führen auch rote Clownnasen oder Perücken mit.

Schätzungsweise 2.000 Sans papiers, die sich zunächst zu einer eigenen Demonstration aus Anlass des zehnten Jahrestags der Besetzung der Pariser Kirche Saint-Ambroise (Auslöser der neuen Bewegung «illegaler» Immigranten im Frühjahr 1996) gesammelt hatten,  haben sich in zwei größeren Blöcken in die Mitte der Demonstration eingegliedert. Auch bei ihnen herrscht außergewöhnlich gute Stimmung. Bei den Sans papiers war die Mobilisierung offensichtlich überregional, denn es laufen auch Sans papiers-Kollektive aus dem westfranzösischen Angouleme und aus Lille im Norden bei ihnen mit.

Zahlreiche junge Demonstranten haben sich in blaue oder schwarze Müllsäcke eingehüllt, etwa diese Gruppe von Studentinnen aus einer Hochschule in Orsay südlich von Paris. Auf Nachfrage bekunden sie, dieses Symbol sei mit Absicht gewählt, um die «Wegwerfbarkeit» der jüngeren Leute zu kennzeichnen, die nach den Plänen der Regierung zukünftig einen Contrat première embauche (CPE) oder «Ersteinstellungsvertrag» unterzeichnen würden. CPE, dieses Kürzel kehrt in abgewandelter Form unzählige Male wieder: Cadeau Pour Exploiteur (Geschenk für Ausbeuter) hatte etwa eine Studentin am Donnerstag auf ihr Schild geschrieben. Am Samstag durfte man weitere Wortschöpfungen kennenlernen: Citrons Pressurés Essorés (Ausgequetschte und ausgepresste Zitronen) etwa, als Allegorie für das drohende Schicksal der betroffenen Lohnabhängigen, oder Champagne Pour l'Elite - Cacahuètes Pour Etudiants (Champagner für die Elite, Erdnüsschen für Studenten).

Zusammenstöße nach den Demonstrationen

Im Anschluss an die Demonstrationen kam es jeweils zu Reibereien mit den staatlichen Ordnungskräften, die Tränengas und pfefferhaltiges Reizgas einsetzten, um die an den Abschlussorten verbliebene Menge zu zerstreuen. Dabei ließen sich jeweils kleinere Gruppen, die größerenteils aus Anarchisten bestanden und die teilweise Banlieuejugendliche - die den Beamten ganz gern die täglichen Erfahrungen mit Polizeischikanen «zurückzahlen» würden - mitziehen konnten, auf Konfrontationen mit den Uniformierten ein. Dies geschah am Donnerstag und Sonntag kurz nach Auflösung der Demonstrationen, aber in beiden Fällen blieben jeweils noch hunderte anderer Protestteilnehmer auf den Plätzen, die weder an Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften teilnahmen noch sich einfach auf Befehl hin zerstreuen wollten.

Ein bis zwei Stunden später kam es jeweils im Quartier Latin, dem Stadtviertel rund um die Sorbonne - die historisch älteste Hochschule im Stadtkern von Paris - zu Auseinandersetzungen. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um Aktionen jener Gruppen, die bis zur erfolgten Räumung der Abschlussorte der Demonstrationen durch die Polizei am längsten auf den Plätzen verharrt waren. Die Sorbonne, deren Hauptgebäude seit einer Woche auf adminstrativen Beschluss hin geschlossen ist, wirkt dabei wie ein magischer Anziehungspunkt. Denn die symbolische Parallele zum Pariser Mai 1968 zeigt dabei auf manche Akteure ebenso starke Wirkung wie auf die bürgerlichen Medien, die in hohem Maße auf diese Symbolik fokussierst sind. In Wirklichkeit wird dabei der Stellenwert der Stellenwert der Sorbonnne fast myhtisch überhöht. Denn ihr Hauptgebäude im Pariser Stadtzentrum ist beileibe nicht der Ort, wo die stundentische Protestbewegung am stärksten wäre, die dort auch mit am spätesten eingesetzt hat. Im Rahmen der Universität Paris-1, zu der die historische Sorbonne gehört, ist der studentische Selbstorganisationsprozess auch in Tolbiac - einer in zwei Hochhäuser im Pariser Süden ausgelagerte Außenstelle der Sorbonne für Studierende der Geisteswissenschaften - weitaus stärker als im historischen Hauptgebäude. An eine Wiederholung des Pariser Mai 1968 an den Originalschauplätzen und in identischen Formen ist nicht zu denken: Damals geriet auch das gesamte Stadtviertel des Quartier Latin in Aufruhr. Aber dieses wurde damals auch noch, zum Teil zumindest, von Studenten und von Leuten mit «normalem Geldbeutel» bewohnt. Dies ist in der Pariser Innenstadt seit längerem vorbei, und die Leute aus sozialen Unter- oder Mittelschichten wurden an die Stadtränder und  in die Banlieues abgedrängt. Deshalb wirkt die historische Paralle zu '68 teilweise mystifizierend. Andererseits aber kann man von einer starken Symbolkraft der Riots rund um die Sorbonne sprechen, die -  über die bürgerlichen Medien vermittelt - sicherlich ihre eigene Wirkung entfaltet. Außerdem kann man sie als eine Art «Rückforderung des öffentlichen Raums» in der nahezu unbezahlbar gewordenen Innenstadt durch die Akteure betrachten.

Sarkozys Amalgam

Innenminister Sarkozy verkündete am Donnerstag abend in einer martialisch ausgerichteten Pressekonferenz, es habe frankreichweit 300 Festnahmen und darunter 180 in Paris gegeben. Bei den Verhafteten handele es sich bei den Verhafteten um «Linksradikale, Rechtsradikale und Rodwys», letztere stammten aus den Banlieues.

Dabei rührte der konservative Innenminister jedoch ein Amalgam an. Denn die Linksradikalen, von denen er sprach, waren gekommen, um in welcher Form auch immer zu protestieren oder vielleicht auch, um sich mit der Staatsmacht anzulegen. Die ebenfalls festgenommenen Rechtsextremisten aber verfolgten ein völlig anderes Ziel, denn ihnen ging es ausschließlich darum, Demonstranten oder Protestierer zu schlagen.

Am Sonntag abend kam es frankreichweit wiederum zu rund 170 Festnahmen. Nicht nur im Stadtzentrum von Paris, sondern auch in Rennes Nantes und anderen Städten kam es zu Zusammenstößen mit den Ordnungskräften.

Die Position der Gewerkschaften, und der Streikkoordination der Studierenden/ jungen Arbeitenden/ Prekären

Die Repräsentanten der Gewerkschaftsorganisationen von Arbeitern und Angestellten haben sich am Samstag abend im Anschluss an die Demonstrationen versammelt, um eine erste Bilanz daraus zu ziehen und um über weitere Schritte zu beraten. Dabei beschlossen die versammelten Gewerkschaftsvertreter, der Regierung ein Ultimatum zu setzen: Diese hat bis Montag abend Zeit, um über einen eventuellen Rückzug des CPE-Projekts zu entscheiden. Danach, so sieht es ihr Beschluss ( http://www.cfdt.fr/actualite/emploi/emploi_insertion/emploi_0165.htm externer Link) vor, wollen die Gewerkschaftsorganisationen ab Montag abend um 20 Uhr erneut über die daraus folgenden Maßnahmen beraten.

Gleichzeitig tagte am Wochenende in Dijon die «Nationale Koordination der Studierenden/ jungen Arbeitenden/ Prekären gegen den CPE». Daran nahmen 450 Delegierte teil, die jeweils ein Mandat von stundentischen Vollversammlungen in 66 Universitäten (von insgesamt 84) sowie einem halben Dutzend Grandes Ecoles (Elitehochschulen) hatten. Nach 17stündiger Diskussion im Marathonstil beschloss die Koordination, für die heute anlaufende Woche zu zwei erneuten Aktionstagen aufzurufen: einem am Dienstag und einem weiteren am Donnerstag. Dazu sollen am Donnerstag alle Protestierenden, «die die Möglichkeit/Mittel dazu haben», zu einer einheitlichen frankreichweiten Mammutdemonstration in Paris anreisen. 

Bereits seit längerem, über einer Woche vorher, hatte die Koordination den kommenden Donnerstag (23. März) als Termin für einen landesweiten Ausstand, mit Arbeitsniederlegung auch durch die Arbeiter und Angestellten, vorgeschlagen. Darauf gingen die Gewerkschaftsorganisationen der abhängig Beschäftigten (bzw. ihre Führungen) aber bisher, nach wie vor, nicht klar und definitiv ein. 

Zu den Beschlüssen der Gewerkschaftsbünde im Einzelnen

Zum ersten Mal nahmen führende Gewerkschaftsvertreter am Samstag in mehreren mündlichen Stellungnahmen in den Medien dabei auch das Wort «Generalstreik» in den Mund. Während des großen Konflikts um die «Rentenreform» im Frühsommer 2003, der auch annäherend zwei Millionen Demonstranten auf die Straße brachte, hatten die führenden Repräsentanten sowohl der sozialliberalen CFDT als auch der postkommunistischen CGT diesen Begriff vermieden wie der Teufel das Weihwasser. Damals zeichneten sie sich durch eine überaus vorsichtige Taktik aus, die Kritikern zufolge die Ausbreitung der damaligen Streikbewegung - insbesondere auf den neuralgischen Transportsektor - eingedämmt hat. Auf den Straßen war damals vielfach ein Aufruf zum Generalstreik gefordert worden, aber die Großorganisationen hielten ihn nicht für realistisch. Oder sie hatten (im Falle der CFDT) bereits hinter den Kulissen mit der Regierung ihre eigenen Bedingungen ausgehandelt... und nur 48 Stunden nach den ersten Demonstrationen vom 13. Mai 03 schloss denn auch die CFDT-Führung ein öffentliches Abkommen mit der Regierung ab, und fiel den Protesten in den Rücken.

Jetzt aber taucht der Begriff «Generalstreik» dagegen in ihrem aktiven Sprachschatz auf. Am Samstag drohte CGT-Generalsekretär Bernard Thibault der Regierung in einem Radioauftritt einen solchen allgemeinen Ausstand an. Auch anlässlich der Pressekonferenz der Gewerkschaftsverbände, die sie im Anschluss an ihr Gipfeltreffen am Samstag gegen 23 Uhr am Sitz der CFDT abhielten, fiel das Wort von der « grève générale », und wurde prompt in den Berichten des öffentlichen Rundfunksender Radio France Info übernommen. In der gemeinsamen Abschlusserklärung der Gewerkschaften taucht es dagegen nicht schwarz auf weißauf. Vor allem die CFDT soll sich, ohne ihre Haltung öffentlich zu machen, dagegen gesperrt haben.

Aber auch die CGT-Spitze durch innergewerkschaftliche Kritiker noch «verdächtigt», eher abwartend auf Zeit spielen zu wollen. Am kommenden Donnerstag (23. März) finden bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF die wichtigen Personalratswahlen statt, und derzeit hat also das Eigeninteresse des Apparats im Zusammenhang mit den Wahlen Vorrang vor der allgemeinen sozialen Dynamik. Ferner fängt am Donnerstag beim Energieversorgungsunternehmen Gaz de France (GdF) der Streik, zu dem unter anderem die CGT aufruft, gegen die jetzt drohende Vollprivatisierung an. Der CGT-Apparat möchte aber bestimmt nicht, dass es durch die Konvergenz zeitgleich stattfindender Kämpfe zu einer Dynamik kommt, die er nicht kontrollieren oder kanalisieren zu können befürchtet.

Hinzu kommt das Problem, dass in Frankreich zwar (anders als in Deutschland) das Streikrecht zu jedem Zeitpunkt durch die abhängig Beschäftigten - auch ohne Unterstützung oder Aufruf durch eine Gewerkschaft - ausgeübt werden kann. Denn das Streikrecht ist in Frankreich als eigenes Individualrecht der Arbeitnehmer (das aber kollektiv auszuüben ist, nach geltender Rechtsprechung genügen dafür zwei Lohnabhängige, die ihre Arbeit niederlegen), und nicht nur als Organisationsrecht des Verbands, anerkannt. Aber im Unterschied zum Privatsektor sind Arbeitsniederlegungen in den öffentlichen Diensten, nach geltendem Recht (seit 1963), vorab anmeldungspflichtig. Eine Vorwarnung muss 5 Tage vor Anfang der Streikbewegung bei der zuständigen Stelle hinterlegt werden.

Bei einer Entscheidung zugunsten eines Streiks am Montag abend wäre es demnach, rein rechtlich, für den Donnerstag zu spät - also den 23. März, den die «Nationale Streikkoordination der Studierenden, jungen Arbeitenden und Prekären» seit mindestens einer Woche als Streikdatum vorschlägt.

Ohnehin favorisiert die CGT-Führung dem Vernehmen nach eher einen Streiktermin mindestens eine Woche später (zwischen dem 28. und 30. März). Aber viele Kritiker in den eigenen Reihen haben Angst, dass die Dynamik zwischenzeitlich verpufft sei. Denn man kann eine solche Mobilisierung nicht permanent aufrecht erhalten, und binnen 10 Tagen nach dem Erfolg vom Samstag droht sie in mehreren Sektoren wieder abzusacken. Aber vorsorglich haben viele Gewerkschaftsstrukturen, etwa bei den linken Basisgewerkschaften SUD-Solidaires und der größten Lehrergewerkschaft FSU, schon vorab «präventiv» Streikankündigungen für den Donnerstag der beginnenden Woche hinterlegt. Abzuwarten bleibt also noch, welche Dynamik sich tatsächlich entwickeln wird.

Dennoch ist kein (schnelles, offenes) Einknicken zu erwarten

Und doch stehen die Zeichen, so die Regierung nicht nachgibt, auf eine stürmische Auseinandersetzung. Darin liegt auch ein wesentlicher Unterschied zum Kampf um die «Rentenreform» im Mai/Juni 2003. Damals bremsten die Führungen der großen Gewerkschaftsverbände, was das Zeug hielt. Ihre Befürchtung: Die Regierung, damals unter Jean-Pierre Raffarin, könnte kippen, ohne dass die eigenen Ansprechpartner - in Gestalt der sozialdemokratischen Parlamentsopposition und vielleicht noch der KP - für eine Regierungsübernahme gut aufgestellt wären. Auch jetzt spukt in den Köpfen vieler Führungsmitglieder der Gewerkschaftsbünde die Vorstellung umher, dass es doch das Wichigste sei, im kommenden Jahr zu einem Regierungswechsel zu kommen, denn unter den Sozialdemokraten werde alles so viel besser.

Nur: Die französische Sozialdemokratie selbst rät den Gewerkschaftsführungen von allzu viel Bremsertum im Augenblick ab. Denn während jene gern auf eine Regierungsübernahme durch die Sozialistische Partei warten würden, zeigt diese sich überzeugt, dass sie dafür erst noch die Wahlen gewinnen muss. Und das erweist sich also um schwieriger, als die konservative Regierung fest im Sattel sitzt, die in den letzten drei Jahren fast ihre sämtlichen «Reformen» auf Biegen und Brechen durchsetzen konnte.

Selbst der sozialliberale frühere Wirtschaftsminister Dominique Strauss-Kahn, vom rechten Flügel des Parti Socialiste (PS), rief am vorletzten Sonntag von den Fernsehbildschirmen aus zum Demonstrieren auf. Ansonsten versucht die französische Sozialdemokratie, die Mobilisierungen zu nutzen, um sich geradezu als ihre Verkörperung auf politischer Ebene darzustellen und sich ein aufgefrischtes Oppositionsimage zuzulegen. Auf den Sonntagsmärkten verteilen ihre Mitglieder vierseitige Faltblätter, die gar nicht schlecht aufgemacht sind: Auf dem Titel sieht man eine geknebelte Jugendliche oder junge Frau, darüber steht der eingängige Titel (den der PS auch in Form von Aufklebern massiv zu verbreiten sucht): «Das Arbeitsrecht verboten für alle unter 26. Und morgen... für Alle.» Und die erklärte Tony Blair-Anhängerin und aussichtsreiche Anwärterin auf die sozialistische Präsidentschaftskandidatur, Sègolène Royal, unterstützte die Mobilisierung gegen den CPE auf ihre Weise. In Poitiers, wo sie Regionalpräsidentin ist, regte sie schon vor 14 Tagen an, dass alle Unternehmen, die durch den Abschluss von CPE- oder CNE-Verträgen aktiv bei der Prekarisierung der Arbeitskräfte mitwirken, keine Subventionen im Namen der «Beschäftigungsförderung» von der Region erhalten dürfen. Auch von öffentlichen Aufträgen sollen sie u.U. ausgeschlossen bleiben. In der Sache ein vollkommen legitimer Beschluss - aber gleichzeitig auch schon Vorwahlkampf. Zwei weitere sozialdemokratisch geführte Regionalregierungen, in Toulouse und Nantes, haben nun Ende voriger Woche angekündigt, dass sie den Beschluss übernehmen wollen.

Deswegen ist - muss man sagen: ausnahmsweise? - in den kommenden Tagen und Wochen nicht damit zu rechnen, dass die Gewerkschaftsführungen so schnell einknicken, wie sie dies im Frühsommer 2003 bei der «Rentenreform» taten. Im Übrigen haben die beiden größten Gewerkschaftsbünde demnächst Kongresse auf der Tagesordnung stehen: Die CGT hält ihren vom 24. bis 28. April 06 in Lille ab, und der Kongress der CFDT steht im Juni dieses Jahres an. In beiden Fällen möchten die Gewerkschaftsführungen, unter Bernard Thibault respektive François Chérèque, wiedergewählt werden. Deswegen ist nicht damit zu rechnen, dass sie sich dieses Mal vor der konservativen Regierung flach auf den Bauch legen (wie die CFDT am 15. 05. 2003). Aber gleichzeitig wollen sie natürlich auch nicht, dass ihnen die Eigendynamik der Mobilisierung «aus dem Ruder läuft». Im Spannungsfeld zwischen beiden wird sich zumindest zum Teil entscheiden, ob die Protestbewegung zum Ziel kommt   oder ob ihre Dynamik doch noch erstickt wird.

Und die Regierung... ?

Ansonsten hängt die Entscheidung darüber, ob die Anti-CPE-Bewegung mit einem Erfolg oder aber mit einer schweren Niederlage enden wird, natürlich auch noch mit von anderen Faktoren ab - nämlich der Position der Regierung und jener des Verfassungsgerichts. Die jetzige Regierung zeigt sich auf jeden Fall entschlossen, dem Druck nicht nachzugeben, und wird also wohl dazu gezwungen werden müssen. Dabei bewies die seit 2002 regierende konservative Rechte aber in den letzten 4 Jahren größere Standfestigkeit und Durchsetzungsvermögen als ihre Vorgängerkabinette.

Am gestrigen Sonntag erklärte Premierminister Dominique de Villepin erneut, ein Nachgeben in Gestalt eines Rückzugs der Regelung über die Einführung des CPE komme für ich nicht in Frage. Ähnlich wie schon in seiner Fernsehansprache vom Sonntag der vorangegangenen Woche (die von 11,5 Millionen FernsehzuschauerInnen beobachtet wurde, aber nach einer Formulierung von Radio France Info vom folgenden Tag «einen Dopingeffekt auf die Proteste hatte») wollte er lediglich Verhandlungen über «Verbesserungen» an dem Projekt zulassen. Im Gespräch ist momentan etwa, die kündigungsschutzlose Periode eventuell von zwei Jahren auf ein Jahr zu verkürzen, was natürlich am Prinzip nichts ändert. (Am vorigen Sonntag hatte de Villepin etwas Ähnliches vorgeschlag, aber damals klang es so, als wolle er eine solche Verkürzung der «Super-Probezeit» auf dem Wege individueller Verhandlungen zwischen Arbeitgeber und frisch eingestelltem Lohnabhängigen ermöglichen. Das bedeutet natürlich erst recht, den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Denn aufgrund des - im deutschen wie im französischen Arbeitsrecht bestehenden - «Günstigkeitsprinzips» oder ' principe de faveur ' können die Arbeitsvertragsparteien dies ohnehin jederzeit tun! Aufgrund dieses Prinzips können Arbeitgeber und «Arbeitnehmer» eine individuelle Abrede treffen und sich so vom Gesetz abweichende Regelungen ausbedingen, sofern diese aus Sicht des abhängig Beschäftigten günstiger und nicht ungünstiger ausfallen. Daher wäre eine Verkürzung der kündigungsschutzlosen Phase auf dem Wege individueller Vertragsabrede ohnehin jederzeit zulässig, dafür braucht de Villepin schlichtweg nichts zu tun.)

Eine andere «Spur» besteht darin, eine Beschränkung des «Ersteinstellungsvertrags» (CPE) auf junge Erwachsene ohne Hochschulabschluss, oder aber auf seit mindestens zwei Jahren arbeitslose Jugendliche und Jungerwachsene vorzunehmen. Damit hätte dieser Sondervertrag mit geringerem Schutz gegenüber Arbeitgeberwillkür aber erst recht einen offen diskriminierenden Charakter...

Wird Dominique de Villepin das Kräftemessen durchhalten? Dies ist auch aus Sicht des konservativen Lagers offenkundig nicht sicher. Der Sonntagszeitung 'Journal du dimanche' (JDD) ist in ihrer gestrigen Ausgabe zu entnehmen, dass man in der Umgebung von UMP-Parteichef und Innenminister Nicolas Sarkozy bereits über die «Ära nach de Villepin» nachdenke. Im Gespräch sei etwa die amtierende Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie als eventuelle Nachfolgerin im Premiers-Amt. «MAM» hätte allerdings ein Problem: Ihr Ruf hat im Februar dieses Jahres durch den Giftmüll-Skandal um die Verschiffung des asbestverseuchten Flugzeugträgerwracks «Clemenceau» nach Indien (und seine anschließende Rückholung durch Präsident Chirac) schweren Schaden genommen. Und der ambitionierte Präsidentschaftskandidat Sarkozy hat seinerseits ein kleines Problemchen: Zwar hält er sich derzeit mit öffentlichen Äußerungen über den CPE zurück und überlasst es seinen Adjutanten, über eventuelle Änderungen an dem Projekt nachzudenken. Aber die Niederlage des konservativen Kabinetts, dem er als «Nummer Zwei» angehört, wäre dennoch auch die seine, die er nicht einfach wegwischen könnte.

Und was ist mit dem Verfassungsgericht ?

Eine andere Frage ist die Position des französischen Verfassungsgerichtshofs (Conseil constitutionnel). Dieser wurde am Dienstag voriger Woche durch die Oppositionsabgeordneten von Sozialdemokratie, KP und Grünen angerufen und hat nun einen Monat Zeit zu entscheiden. Hatte man in konservativen Kreisen zunächst eine Zensur des Gesetzes über den CPE durch die neun Verfassungsrichter als halbwegs «elegante Lösung» erwogen, so verwarf man im Umfeld von de Villepin ebenso wie in jenem Sarkozys diese Lösung Ende vergangener Woche. (Siehe den Beitrag im Labournet vom vergangenen Freitag.) Aber damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass es trotz dieser Position der führenden Regierungsmitglieder dennoch zum Kassieren der Gesetzesartikel durch das Verfassungsgericht kommt. An mehreren Punkt scheinen die Gesetzesbestimmungen über den CPE rechtlich problematisch zu sein: Ihre Vereinbarkeit mit Regeln der Internationalen Arbeitsorganisation I.L.O. ist ungeklärt, da in ILO-Konventionen (die auch Frankreich unterschrieben hat) ausdrücklich gefordert wird, dass die Entlassung eines abhängig Beschäftigten sich auf einen expliziten Kündigungsgrund stützen müsse. Ferner ist das Gesetz über den CPE im Hinblick auf das Gleichheitsprinzip, das die Verfassung enthält, fragwürdig. Denn es begründet eine sehr unterschiedliche Rechtsstellung (im Hinblick auf den Kündigungsschutz) für unterschiedliche Beschäftigtengruppen, nämlich jene über und jene unter 26 Jahren. Aber ob diese Kategorienbildung (verfassungs)rechtlich zulässig ist, gilt als umstritten, und die Position des Verfassungsgerichts dazu muss sich erst noch herausstellen.

Aber derzeit glaubt man in Kreisen des konservativen Regierungslagers, so entnimmt man der Sonntagspresse, nicht an eine Zensur der Gesetzesartikel über den CPE durch das Verfassungsgericht. Damit hinge es an der sozialen Kraftprobe, über ihr weiteres Schicksal zu entscheiden.     

Artikel von Bernard Schmid vom 20.03.2006


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