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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Ein paar notwendige Anmerkungen zur unterschiedlichen Streik- und Demokultur in Frankreich Am ersten Demotag sind es in ganz Frankreich 700.000 Leute. Am zweiten Demo-, Streik- und Aktionstag sind sie über eine Million. Am dritten strömen über zwei Millionen auf die Straße. Der Premierminister hält eine Fernsehansprache vor elf Millionen Fernsehzuschauern, um seine «Reform» zu «erklären» und die Gemüter zu beruhigen. Sie hat einen «Dopingeffekt auf die Proteste», die danach schnell anwachsen, vermeldet ein öffentlich-rechtlicher Rundfunksender kurz darauf. 14 Tage später hält nun der Präsident, der oberste Chef, eine Ansprache vor über zwanzig Millionen Fernsehzuschauen. Wieder soll pädagogisch «erklärt» und beruhigt werden. Über 60 % der von Meinungsforschungsinstituten Befragten erklären sich «nicht überzeugt». Vier Tage darauf findet ein neuer Demo-, Streik- und Aktionstag statt, an dem wieder Millionen in ganz Frankreich auf die Straße gehen, und die Protestierenden noch zahlreicher sind als beim vorigen Mal. So viel kollektive Renitenz ist man in Deutschland nicht gewohnt, auch wenn man sich dort an Streiks mittlerweile in gewissen Maßen zu gewöhnen scheint, sogar in der Spießerhochburg Stuttgart. Mindestens ein Unterschied sticht ins Auge, denn in der Regel lässt sich feststellen: Streikende Metallarbeiter in Deutschland verteidigen die Interessen der Metallarbeiter, und sonst interessiert es kaum jemanden, der nichts mit der Branche zu tun hätte; Staatsbedienstete verteidigen die Interessen von Staatsbediensteten. Und streikende Studenten bringen die Interessen von Studenten als zukünftigen Führungskräften - die aus diesem Grunde pfleglich zu behandeln seien, da das ja auch gut sei für den Wirtschaftsstandort - in Anschlag. Ein bisschen anders läuft es da doch in Frankreich ab. Streikende Studenten machen sich um 5 Uhr morgens auf zur Vollversammlung der Métrobeschäftigten oder Eisenbahner in der Frühschicht. Junge Linksradikale demonstrieren mit alte(n) Metallarbeiter(n) demonstrieren mit Krankenschwesten, demonstrieren mit kritische(n) Jurastudentinnen demonstrieren mit Arbeitslosen demonstrieren mit Sans papiers («illegalen» Einwanderern) demonstrieren mit Attac-Akademikern(n) demonstieren mit politisch engagierten Schwulenverbänden... Die altehrwürdige «Liga für Menschenrechte» (LDH, eine eher linksliberale Vereinigung, die während der Dreyfus-Affäre gegründet worden ist) verteilt Merkblätter an junge Demonstrantinnen: «Was tun, wenn man in Polizeigewahrsam genommen wird» - in Deutschland kennt man das vorwiegend nur von Autonomen («Anna und Arthur halten's Maul»). Und wenn das Staatsoberhaupt spricht, dann bleibt niemand am klebrigen Schleim präsidialer Versöhnungsdiskurse haften, sondern man liest an den folgenden Tagen in Demozügen Parolen wie: «Den Kriminellen im (Präsidentenpalast) Elysée und seinen Hanswurst im Premierministeramt in den Knast!» Oder, an den Premierminister gerichtet, als gesungener Reim: «Oh Villepin, wenn Du wüsstet, wo wir uns Deine Reform hinsecken...» Woher kommen die augenfälligen Unterschiede? So viel sei vorab verraten: Am Blut liegt's nicht, und in den Chromosomen steckt es auch nicht. Der in deutschen Medien so häufig platzierte Hinweis auf die (angeborene ?) andere «Kultur» der Franzosen hilft nicht weiter. Ein matieralistisch fundierter Blick auf die Geschichte schon eher. Zunächst ist es banal, aber eben auch richtig!, darauf hinzuweisen, dass sich die herrschende Bourgeoisie im französischen Falle selbst anders konstituiert hat, als dies in Deutschland oder Österreich zu beobachten war. Die vorherige feudale bzw. monarchische Macht schüttelte die Bourgeoisie, sich selbst zur (herrschenden) Klasse und gesellschaftlichen Kraft konstituierend, aus eigener Initiative ab. Dazu hat es das wirtschaftlich tätige Bürgertum in Deutschland nie gebracht, jedenfalls nicht erfolgreich, und so konstituierte es sich zu Bismarcks Zeiten lieber unter den Fittichen des autoritären Staates zur nationale Bourgeoisie. Damals wurde das Monstrum des «Nationalliberalismus» geboren, das Franz Neumann in seinem Werk ' Behemoth' explizit mit zu den politischen «Vorläufern des Nationalsozialismus» zählt. Einsatz für die Expansion der nationalen Ökonomie ja, Kampf um die Durchsetzung der Bürgerrechte nein, lautete der Deal mit der Obrigkeit, der für dieses politisch-ideologische Phänomen begründend wirkte. Nicht, dass die Bourgeoisie in Frankreich stets den Zielen der menschlichen und gesellschaftlichen Emanzipation verbunden geblieben wäre - weit gefehlt! Im Gegenteil wirkte die Erinnerung an das, was Revolutionen in Frankreich bewirken können, auf einen Teil der einmal an politische und wirtschaftliche Macht gekommenen Großbürger derart einschüchternd, dass sie sich zu veritablen Reaktionären wandelten. Sympathisanten der (untergegangenen) Monarchie, ultrakatholische Moralapostel und Vichy-Unterstützter machten immer einen Teil dieser Boourgeoisie aus. Aber der Preis dafür war eine veritable Aufspaltung in zwei unterschiedliche Figuren, die schon nicht auf den gleichen Begriff hören. In Deutschland antwortet sowohl der wirtschaftliche Sozialdarwinismus, die Apologie des «freien Markts» als auch das Engagement für ein nicht gar zu sehr von Konventionen beengtes Zusammenleben, für die Bürgerrechte, für Freiheiten des Einzelnen auf den Kosenamen «Liberalismus». Oft muss man erst einmal nachfragen, welcher Liberalismus denn nun gemeint ist. In Frankreich bezeichnet der Begriff libéralisme im üblichen politischen Sprachgebrauch nur die erstgenannte Variante, und für eine klare Mehrheit der Gesellschaft ist er negativ besetzt: Hier kommt das nackte wirtschaftliche Dominanzinteresse zum Vorschein, der Wunsch nach «Befreiung des Marktes» von gesellschaftlichen Fesseln. Der Rüstungsindustrielle, Zeitungsmogul, Rassist und auf eine zeitweilige gute Zusammenarbeit mit dem Front National zurückblickende Flugzeugbauer Serge Dassault gilt so allgemein als libéral , obwohl er absolut nichts von einem Bürgerrechtler hat. Die zweitgenannte Variante dagegen hört auf das Adjektiv citoyen - üblicherweise äußerst grobschlächtig mit «staatsbürgerlich» ins Deutsche übersetzt, aber das trifft es nicht. Eine gauche citoyenne etwa ist eine Linke, die sich für die Freiheitsrechte des Einzelnen, für die Bürgerrechte einsetzt. Der eigene Anspruch, der den Aufstieg der Bourgeoisie historisch begleitete - der Einsatz für Aufklärung, Vernunft und In-Recht-Setzung der Einzelnen gleichermaßen wie für wirtschaftliche Betätigungsfreiheit - tut sich so als Widerspruch auf, und die zuerst bezeichneten Aspekte können unter Umständen gegen die Praxis der Bourgeoisie selbst gekehrt werden. (Inwiefern die progressiven Kräfte dabei selbst noch bürgerlichen Konzeptionen verhaftet bleiben, in denen insbesondere die Rechte des Einzelnen von seiner Zugehörigkeit zu einer Staatsbürgerschaft - oder aber seinem «legalen» Aufenthaltsstatus als «Ausländer» abhängen, ist eine andere Frage. Sie verdient tatsächlich eine kritische Erörterung. In der Praxis hat allerdings auch der Universalismus, der in jüngster Zeit in der Stärke der Bewegung für die Rechte der Sans Papiers zum Ausdruck kam, eine relativ breite Verankerung in der französischen Gesellschaft.) Dass Rebellion gegen die Obrigkeit prinzipiell möglich und sogar ein «gutes Recht» ist, bleibt vor diesem Hintergrund eine stark im kollektiven Gedächtnis Frankreichs verhaftete Idee. Nun kommen allerdings noch andere historische Faktoren hinzu, die erklären, dass Gewerkschaft und Arbeiterbewegung in Frankreich anders funktionieren, als man das aus Deutschland kennt - wo man heutzutage oft einer Gewerkschaft beitritt wie einer Versicherung oder Krankenkasse, «für den Fall, dass man's mal braucht, wenn man Probleme im Job hat». Und wo die Gewerkschaft den Beginn und vor allem auch das Ende des Streiks entscheidet, die Lohnabhängigen dazu aufruft und während ihrer Arbeitsniederlegung auch (anstatt des Kapitalisten) bezahlt. Das wäre in Frankreich undenkbar: Streikgeld gibt es keines, den Ausstand bezahlen die abhängig Beschäftigten aus eigener Tasch in Gestalt der Lohnverluste, die sie hinnehmen müssen. Im Gegenzug werden sie nicht entmündigt, sondern entscheiden höchstpersönlich über die Nutzung ihres Rechts auf Streik, und darüber, wann sie dessen Ausübung wieder zu beenden gedenken. Eine Ausnahme bilden hier die öffentliche Dienste, da aufgrund ihrer Bedeutung für die öffentliche Versorgung ein Streik hier vorab angemeldet werden muss, durch eine Gewerkschaft. Bildet in Deutschland das Streikrecht ein so genanntes «organisches Recht», das nur einer Organisation und damit ihrem Apparat zuerkannt wird (über Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz), ist es in Frankreich ein Individualrecht, das jedem Lohnabhängigen persönlich garantiert ist, durch die Präambel der Verfassung und durch Artikel L. 521-1 des Arbeitsgesetzbuchs. Die aller-allererste Reform, die dieses Namens würdig wäre und über die progressive JuristInnen mal dringend nachdenken sollte, bestünde darin, auch in Deutschland das Streikrecht unabhängig vom Agieren der Gewerkschaftsapparate zu garantieren. Dabei ist das (heutige) positive Recht, wie so häufig, nur der Ausfluss einer unterschiedlich verlaufenen Geschichte und unterschiedlicher sozialer Kräfteverhältnisse. In Deutschland wurde «das Soziale» schon früh ins «große Ganze » des Systems integriert, und Bismarck war so klug, neben dem von ihm verhängten Betätigungsverbot für die Sozialdemokratie gleichzeitig der Parlamentsfraktion der SPD ihre freie Betätigung zu belassen. Der «institutionelle Kanal» wurde schon früh in der Arbeiterbewegung als vermeintlich gangbarer Weg betrachtet. Anders in Frankreich: Auf das frühsozialistische, revolutionäre Experiment der Commune de Paris folgten zehn Jahre Repression und die zeitweise organisatorische Zerschlagung, jedenfalls Schwächung der Sozialdemokratie. Das hinderte Gewerkschaften und Arbeitervereine nicht daran, sich kurz darauf zu entwickeln - aber eben nicht unter Führung einer Partei, die ihrerseits an den Staat angebunden blieb, sondern eher als «Gegenmacht» zum Staat wie dem Kapital. Das nannte man im frühen 20. Jahrhundert den «revolutionären Syndikalismus», der damals hegemonial war und sich etwa in der «Charta von Amiens» von 1906 niederschlug. Später gab ihm die französische KP, die noch bis in die 80er Jahre (über die CGT) einen Gutteil der Gewerkschaftsbewegung des Landes dominierte, zwar etatistische Formen. Gegenüber dem vorhandenen bürgerlichen Staat blieb dennoch das Prinzip aufrecht erhalten, dass konsequente Interessenvertretung nur durch Aufbau einer Gegenmacht im Betrieb und auf der Straße vor möglichen Verhandlungen zu erreichen sei - nicht durch «Mitsprache» innerhalb der Institutionen, die von vornherei vom Aufbau eines Kräfteverhältnisses innerhalb der Gesellschaft entkoppelt bleibt. Und auch nicht innerhalb eines ritualisierten und «partnerschaftlichen» Gegenüber mit den Kapitalvertretern, bei dem der Staat den (von vornherein auf's so genannte Gemeinwohl verpflichteten) «Sozialpartnern» einen Teil seiner Regelungsmacht abtritt wie mit der so genannten Tarifautonomie in Deutschland. Letztere besteht im Kern nur darin, dass der Staat «unpopuläre» Entscheidungen und schmerzhafte soziale Einschnitte nicht selbst in Form eines expliziten politischen Akts durchzusetzen braucht: Die in eine institutionalisierte «Sozialpartnerschaft» eingebundenen Gewerkschaften besorgen ihre Durchsetzung schon selbst, in ihrem eigenen sozialen «Lager», also gegenüber den abhängig Beschäftigten. Die aus diesem Gegenüber der «Tarifexperten» als (angeblichen) Repräsentanten von Arbezit und Kapital resultierenden Entscheidungen stellen sich so dem Publikum als «notwendige», im Konsens getroffene, letztlich überwiegend technische Entscheidungen dar. Anders als in Frankreich, wo zuerst die Staatsmacht, durch einen politischen Kraftakt, einen Beschluss mit negativen sozialen Folgen für die Mehrheit der Gesellschaft verkünden muss. Danach hat sie ihn gegenüber den aufflammenden gesellschaftlichen Widerständen durchzusetzen. Die Entscheidung zu sozialen Verschlechterungen erscheint so als bewusste, politische Weichenstellung, die auch als solche in Frage zu stellen ist. Gewerkschaften und Betriebsräte wurden in Deutschland zu Inhabern einer Stellvertretermacht aufgebaut, denen deshalb - im Rahmen der Tarifautonomie - gewisse (freilich mehr und mehr begrenzte) Vollmachten abgetreten worden sind. Dies war deshalb möglich und aus Sicht der Herrschenden sogar sinnvoll, weil diese «Stellvertreter» ohnehin dem Konsens mit ihren Gegenüber und der politischen Macht verbunden sind. In Frankreich blickte man eine Zeit lang neidisch auf dieses scheinbar so reibungslose Funktionieren: In den Jahren von 2001 und 05 trommelten westlich des Rheins der Arbeitgeberverband MEDEF, die sozialliberale Richtungsgewerkschaft CFDT und auch führende bürgerliche Politiker für die Einführung einer «Tarifautonomie» (unter Zurückdrängung der Rolle des Gesetzgebers, dessen Beschlüsse zu hohem politischen Druck zu unterliegen schienen) und einer «Sozialpartnerschaft» à la française. Dieses Programm taufte man zu Anfang dieses Jahrzehnts auf den Namen refondation sociale , ungefähr: «Neubegründung der sozialen Beziehungen». Bisher hat sich der so vermeintlich neu begründete Konsens aber nicht als genügend tragfähig erwiesen. In der Krise ist er nicht hinreichend belastbar, und die jüngst geplanten negativen Veränderungen - den Versuch einer Einschränkung des Kündigungsschutzes - mochten die regierenden Konservativ-Liberalen dann doch lieber als autoritäre politische Entscheidung denn auf dem Weg von Konsensgesprächen mit den ollen Gewerkschaften durchsetzen. Dies geschah sogar unter weitgehender Ausschaltung des Parlaments mitsamt seiner bürgerlichen Abgeordneten: Die Einschnitte beim Kündigungsschutz wurden zum Teil im August 2005 per hochsommerliche Notverordnung der Regierung, zum Teil im Februar/März 2006 auf dem Gesetzeswege, aber ohne Sachdebatte im Parlament (da die Regierung das Sachproblem mit ihrer Vertrauensfrage verknüpfte) durchgezogen. Der politische Preis dafür ist hoch: Die in breiten Kreisen als bewusste Entscheidung der Politik, die gegen die eigenen Interessen gerichtet sei, verstande Weichenstellung rief massive soziale und politische Widerstände auf den Plan. (Und sogar die CFDT, die sich unter anderen Umständen noch dazu bereit fände, jede Regression durch ihre Unterschrift unter ein Abkommen abzunicken - Hauptsache, man fragt die CFDT vorher, und sie kann vielleicht noch ein paar Abmilderungen an Detailpunkten durchsetzen - war dieses Mal richtig stocksauer auf die konservative Regierung. Hatte diese ihr doch soeben bewiesen, dass es auf die CFDT nicht mehr im Geringsten ankommt, wenn es mal hart auf hart kommt. Die CFDT verteidigte damit auch ihre Fähigkeit, Abkommen aushandeln. Ihr ehemaliger Chef Edmond Maire äußerte denn auch im 'Parisien' vom Sonntag, 09. April sofort seine Bereitschaft dazu, über die nötige «Flexibilität» von Lohnabhängigen zu diskutieren, sofern nur die böse «autoritäre, jakobinische Methode» der Regierung überwunden werde. Ob die Regierung links oder rechts sei, darauf komme es dabei nicht an. Und, so mag man hinzu fügen, wohl auch nicht darauf, ob die unterschriebenen Abkommen progressive oder regressive Wirkung entfalten - Hauptsache, die CFDT darf darüber verhandeln.) Das Ergebnis der derzeitigen gesellschaftlichen Kraftprobe um den Kündigungsschutz endete mit einem wichtigen Teilerfolg der Protestbewegung. Aber auch dort, wo Niederlagen kassiert werden, werden diese durch die Teilnehmer/innen an Protesten deshalb nicht als einer «natürlichen Wirtschaftsordnung» und technischen Notwendigkeiten geschuldete, unausweichliche Entscheidung akzeptiert. Sondern wohl eher nach dem Motto von Ton, Steine, Scherben aufgefasst werden: «Jede Schlacht, die wir verlier'n, bedeutet unser'n nächsten Sieg.» Bernard Schmid, Paris, 10.04.2006 |