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Updated: 18.12.2012 15:51
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ENORM ! – Und jetzt ?

Allein ein Wort kann das Menschenmeer der französischen Demonstrationen vom Dienstag beschreiben: «enorm». Die CGT, die nicht nur Mitveranstalterin, sondern eine der Haupttriebkräfte bei der Mobilisierung war – in Paris hatte sie allein rund ein Drittel der Teilnehmer mobilisiert -, sprach von 700.000 Demonstranten in der Hauptstadt und 3 Millionen frankreichweit. Das wäre auf nationaler Ebene die größte Teilnehmerzahl, die je überhaupt registriert wurde. Dies bleibt auch dann so, wenn man berücksichtigt, dass die Polizei, deren Angaben fast immer untertrieben sind, von 1,1 Millionen Demonstranten spricht und der Realitätssinn gebietet, von insgesamt ungefähr zwei Millionen in ganz Frankreich auszugehen.

ENORM - Und jetzt?

Allein ein Wort kann das Menschenmeer der französischen Demonstrationen vom Dienstag beschreiben: «enorm». Die CGT, die nicht nur Mitveranstalterin, sondern eine der Haupttriebkräfte bei der Mobilisierung war – in Paris hatte sie allein rund ein Drittel der Teilnehmer mobilisiert -, sprach von 700.000 Demonstranten in der Hauptstadt und 3 Millionen frankreichweit. Das wäre auf nationaler Ebene die grösste Teilnehmerzahl, die je überhaupt registriert wurde. Dies bleibt auch dann so, wenn man berücksichtigt, dass die Polizei, deren Angaben fast immer untertrieben sind, von 1,1 Millionen Demonstranten spricht und der Realitätssinn gebietet, von insgesamt ungefähr zwei Millionen in ganz Frankreich auszugehen. Vergleicht man gegenüber früheren Mobilisierungen jeweils Veranstalterangaben mit Veranstalterangaben einerseits und die jeweiligen Zahlen des Innenministeriums untereinander auf der anderen Seite, dann bleibt es dabei: Noch nie waren so viele Demonstranten auf einmal unterwegs. Sie forderten die Rücknahme des «Ersteinstellungsvertrags» oder CPE (Contrat première embauche), der es erlaubt, Jugendliche und junge Erwachsene einzustellen, die während zweier Jahre keinen Kündigungsschutz geniessen.

Ungefähr ein Drittel bis die Hälfte der Pariser Demonstranten waren dabei Jugendliche und Studierende, ein weiteres Drittel war bei der CGT organisiert, dem postkommunistischen, grössten Gewerkschaftsdachverband in Frankreich. Der Rest verteilt sich auf kleinere Gewerkschaftsblöcke, auf die Eltern von unter 26jährigen – die sich als solche auswiesen und oft noch mit schulpflichtigen Kindern kamen, da in zahlreichen Schulen streikbedingt der Unterricht ausfiel -, Arbeitslose und prekär Beschäftigte.

Kleiner Erfahrungsbericht vom Dienstag

Gegen 14 Uhr möchte ich in die Linie 5 der Pariser Métro umsteigen, die von der Endstation in der Trabantenstadt Bobigny (Bezirkshauptstadt des Départements Seine-Saint-Denis, das die besonders armen nördlichen Pariser Vorstadt umfasst) aus kommend am Ostbahnhof eintrifft. Von dort möchte ich zur Gare d’Austerlitz, denn an diesem Bahnhof muss in Kürze die Grossdemonstration auf dem ersten Drittel ihres Weges vorbeikommen. Am Ausgangsort, so fürchte ich aus gutem Grund, wird unmöglich ein Überblick zu gewinnen sein – dort drängen sich die Menschen tatsächlich derart dicht, dass man kaum sehen kann, welche Kräfte mobilisiert haben. Erst vier Stunden nach dem Auftakt, so erfahre ich später über Handy, können die letzten Blöcke der Demonstration den Ausgangsplatz verlassen.

Erst einmal dauert es quälend lange Minuten, bis überhaupt ein Métrozug heranrollt. Tatsächlich fielen nur rund 30 Prozent des Verkehrs der Untergrundbahn streikbedingt aus, aber die Streikfolgen fallen für die 14 Linien sehr unterschiedlich aus. Der Bahnsteig ist überfüllt. Selten schienen so viele Leute auf einmal unterwegs. Aber in den ersten Zug ist kein Hineinkommen: Die Waggons sind überfüllt mit Jugendlichen, die offenkundig aus der Banlieue kommen und von denen viele Migrationshintergrund haben. Ein Teil von ihnen scheint Jugendgangs anzugehören, die mitfahrende Passagiere beschimpfen und am Ostbahnhof aus der Métro zu drängen versuchen. Es kommt zu heftigem Streit, ein aus einem Waggon heraus geworfener Schlüsselbund fliegt mir um die Ohren, und ein wütender Chinese wird durch seine verängstigte Frau gerade noch daran gehindert, mit den Fäusten auf die Jugendlichen loszugehen. Da die Türen nicht zugehen, stationiert de Métrozug bestimmt fünf Minuten, bevor er weiterrollen kann.

Aber da kommt auch schon der nächste Metrozug. Er ist auch voll von Jugendlichen aus den Trabantenstädten, aber dieses Mal können wir Umstehenden einsteigen – solange jedenfalls, bis der knappe Raum bis zum Platzen überfüllt ist. Diese Jugendlichen hier aber sind nett. Viele von ihnen sind genauso farbig wie die im vorausfahrenden Zug, finden es aber nach eigenem Bekunden «großen Quatsch, was die da machen». Sie sind Schüler an einer Berufsoberschule in Aulnay-sous-Bois, die sie seit 14 Tagen besetzt halten. Über Polizeiprovokationen in den Banlieue-Schulen ist in diesen Tagen viel die Rede, aber meine Nachbarn im Zug halten sich zurück mit Kritik an den Ordnungskräften: «Nein, bei uns sind sie zurückhaltend. Anderswo haben sie in der letzten Zeit provoziert und dadurch manche Banlieues in Aufruhr versetzt, das stimmt.» Einige finden, dass «Gewalt überhaupt Quatsch» ist, ein anderer aber meint: «Falls die Regierung heute abend nicht nachgibt, was soll man dann noch machen? Nachdem so viele Millionen auf der Straße waren, was bleibt dann noch übrig? Anscheinend versteht die Regierung nur die Sprache, die im Herbst in manchen Banlieues gesprochen wurde, damals hat die Regierung es tierisch eilig gehabt zu reagieren... » Eine ältere Gewerkschafterin diskutiert ruhig mit den Jugendlichen, erklärt aber, dass die diese letzte Aussage für Quatsch hält: «Falls es zu Gewalt kommt, wird dies nur die Leute spalten, die Sympathien für die Proteste haben, und gegen Euch aufbringen. Das ist es doch, was (Innenminister) Sarkozy will!»

An fast jeder Station hält unser Zug länger, zum Teil für mehrere Minuten – aufgrund von Problemen im vorausfahrenden Zug, wie ich vom Bahnsteig aus höre. Zwei mal greifen entweder Polizisten oder Angestellte der Metro-Betreibergesellschaft RATP ein, die Umsteigenden auf dem Bahnsteig steigen auf die Plastikstühle, um besser zu sehen. An der Place de la Bastille wird es mir zu bunt, und ich verlasse die Métro vorzeitig – die Demonstration muss ohnehin hier vorbeikommen, und bei der ganzen verlorenen Fahrzeit dürfte das auch nicht mehr lange dauern. Und tatsächlich, nach 15 Minuten taucht die Spitze des offensichtlich riesigen Demonstrationszugs auf der Höhe der Bastille-Oper auf. An der Oper selbst hängt ein großes Transparent: «Die Pariser Opern im Streik». Tatsächlich laufen die Beschäftigten der beiden Opernhäuser in einem der erten Blöcke des Zuges. Ihr Protest richtet sich freilich nicht allein gegen den CPE, sondern hängt ebenso mit dem seit Wochen andauernden Arbeitskampf der ‘intermittents du spetacle’ (nicht ständigen Beschäftigten des Kulturbetriebes) zusammen, denen ein Teil ihrer bisher bestehenden sozialen Absicherungen entzogen werden soll.

Der Protestzug nimmt scheinbar kein Ende. Ich beobachte eine Weile, laufe ihm entgegen, lasse mich dann wieder «stromaufwärts» mittragen. Am lustigsten unter den Dingen, die mir auffallen, ist eine Gruppe von als Marsmännchen in grün verkleideten Demonstranten, die mit der Aufschrift demonstrieren: «CPE: Contrat pour extraterrestres» (Vertrag für Außerirdische). Dazu die Erklärung: «Das hat nichts Menschliches». Daher wohl der Rückgriff auf Marsmännchen... Auf dem Vorplatz der Bastille-Oper applaudieren zahlreiche Umstehende den einfallsreichsten Transparenten oder Verkleidungen. Viel Beifall erhält der auf einem Autodach und einem darauf befestigten Schild stehende Gallierhäuptling, der die «zornigen ArchäologInnen» repräsentiert. Der Einfall ist nicht völlig neu, der Gallier kam auch schon in ähnlichem Aufzug zu den Demonstrationen gegen die «Rentenreform» 2003, damals auf einem Holzpferd sitzend. Die Archäologen protestieren einerseits gegen die allgemeinen Einschnitte wie die sonstigen Demonstranten, andererseits machen sie auch geltend, dass die Sparpolitik im öffentlichen Dienst wichtige archäologische Projekte gefährde. Zudem beschweren sie sich über eine wirtschaftsfreundliche Änderung der Bauvorschriften, die es erschwert oder mitunter verunmöglicht, ein Bauvorhaben zu verzögern, von dem man vermutet, dass es unterirdische archaölogische Schätze bedroht. So mischen sich oft unterschiedliche, gesamtgesellschaftliche und sektorenbezogene Protestmotive.

«Werfen wir die Hinauswerfer hinaus» steht auf einem riesigen Transparent eines Ortsverbands der CGT, unter Anspielung auf die Abschaffung des Kündigungsschutzes – während der ersten zwei Jahre nach Eintritt in ein neues Arbeitsverhältnis -, den der «Ersteinstellungsvertrag» CPE bewirkt. «Dez Villepin, wir haben ein Motiv, Dich ‘rauszuwerfen» steht auf einem anderen Transparent, von Namenlosen gemalt. Und sehr oft liest man mittlerweile auch: «De Villepin, tritt zurück!» Das ist neu gegenüber den Anfangswochen der Protestbewegung.

Noch nicht einmal die Hälfte der Demo ist auf der Place de la République angekommen, als es schon knallt. Die Jugendgangs hätten versucht, Schaufenster einzuwerfen, höre ich gerüchteweise über den Platz. Vor allem aber sehe ich, dass sie sich Scharmützel mit den Polizeikräften liefern: Wurfgegenstände fliegen auf die CRS (Republikanische Sicherheitskompagnien), die französische Bereitschaftspolizei. Diese antwortet mit Pfeffer-Reizgas. Immer wieder flüchten kleinere Gruppen, die dicht vor den Absperrgittern der CRS gestanden hatten, quer über den Platz. Ich frage mich, ob die Jugendgangs es ausschlieblich auf die Polizei abgesehen haben, deren Präsenz sie offenkundig tatsächlich wie magisch anzieht. Oder ob sie auch aggressiv gegen DemonstrantInnen vorgehen, wie es am vorigen Donnerstag nach der Auflösung der Studierendendemo in der Nähe des Invalidendemos der Fall war. «Da, in der Mitte des Platzes, da sind einige Leute aus Gangs aktiv, die auch DemonstrantInenn bestohlen oder beraubt haben», wird mir bekundet. In ihren Augen handelt es sich bei demonstrierenden Oberschülern, die an diesem Tag äußerst zahlreich auch aus den Banlieues selbst und aus Migrantenfamilien gekommen sind, um «Privilegierte» und um Weicheier – so dass ihnen eine Form von sozialer Rache auf dem Wege des Faustrechts legitim erscheint. Aber es zeichnet sich schnell deutlich ab, dass diejenigen, die auch Demonstranten attackierten, nur eine verschwindende Minderheit von circa 40 Randaliern sind.

An einem Moment bewege ich mich kurz vor der Polizeiabsperrung auf der Mitte des Platzes, um besser zu erkennen, was genau vor sich geht, als plötzlich Bewegung in eine größere Gruppe kommt. Sie löst sich von der Absperrung ab, um auf die hintere Seite der Place de la République zu flüchten, offenkundig einen Tränengaseinsatz befürchtend. Ich stolpere über die Füsse eines ebenfalls weglaufenden Banlieuejugendlichen und lande der Länge nach auf dem Asphalt. Ich sehe mich schon geistig um meinen Fotoapparat erleichtert, aber nichts dergleichen: Der Betreffende entschuldigt sich gleich drei mal, und Andere aus seiner Gruppe, die überwiegend aus Schwarzen besteht, helfen mir höflich auf die Füße. Offenkundig sind sie nicht alle so eingestellt, wie man sich das mitunter vorstellen könnte, wenn man die tatsächlich hässlichen Bildern von Angriffen auf Demonstranten vom vorigen Donnerstag kennt. Ich trage eine Zerrung davon, bin aber gleichzeitig versöhnlicher gestimmt.

Kurze Zeit darauf wird plötzlich gar nicht mehr klar, wer auf diesem Platz zu wem gehört. Ein Teil des Ordnerdiensts der CGT, der mit Armbinden gekennzeichnet ist, holt Knüppel aus den Jacken hervor und attackiert eine Gruppe von Banlieuejugendlichen, um sie zu vertreiben. Angeblich oder tatsächlich waren diese zuvor gegen Demonstranten vorgegangen. Ein paar Momente lang fliegen Flaschen, ohne dass wirklich klar wäre, von wem gegen wen. Ein Pulk von Reportern mit Presseschild, den Fotoapparat oder die Filmkamera unter dem Arm und offenkundig auf der Suche nach dem «Scoop», stürmt mit Motorrad- und anderen Helmen auf dem Kopf über den Platz. «So ein Blödsinn, die führen sich auf, als seien sie in Bagdad – und das alles dient nur der Sensationsmache» meinen Demonstranten um mich herum. Mehrmals ertönen Pfiffe gegen die Leute mit den Filmkameras.

Zwei Minuten später befinde ich mich wieder an dem Ort, wo sich eben noch die Kette des CGT-Ordnerdienst befand. Da stehen wieder mehrere dutzend Männer in Zivil, die meisten tragen Aufkleber von Gruppen der radikalen Linken. Ich glaube, dass es sich um ein anderes Stück der Ordnerkette handelt, auf Nachfrage anderer Anwesender hin versichert auch einer der Männer: «Wir sind vom Ordnerdienst der CGT». Minuten später erkenne ich meinen Irrtum, als die angeblichen Ordner links und rechts von mir ausklappbare Gummiknüppel auf Knopfdruck ausfahren und zwei von ihnen Handschellen hervor holen. Es gelingt mir noch, im Durcheinander Fotos zu machen. Unmittelbar vor mir wird ein junger Mann verhaftet, der Hintergrund ist völlig unklar. Es handelt sich um eine Gruppe von 30 bis 50 Zivilpolizisten, die alles tun, um für Gewerkschaftsordner oder Linksradikale gehalten zu werden. Kurz darauf ziehen sie sich auf die Seite des Platzes zurück. Die Anwesenden hinter ihrer Kette werden wenig später in einen Kessel abgedrängt, da die CRS den Boulevard nach wenigen hundert Metern abgeriegelt haben. Nach ein paar Minuten dürfen wir den Kessel auf der anderen Seite verlassen, aber einzeln. Offenkundig hat man es umso schwerer, aus dem Kessel herauszukommen, je dunklere Hautfarbe man hat. Einige junge Frauen protestieren: «Lasst die Schwarzen laufen» und werden durch die CRS aufgefordert, gefälligst ihres Weges zu gehen. Nur langsam und passiv lassen sie sich aber, rückwärts gehend, den Boulevard hinauf abdrängen. Nach zwei Minuten kommen aber die Leute aus dem Kessel frei, der in diesem Moment aufgelöst worden ist.

Die Demonstration ist unterdessen noch in vollem Gange, denn über zwei Seitenstraßen kann ich bequem auf die Place de la République zurückkehren, an der nach wie vor bestehenden CRS-Abriegelung vorbei. Noch anderthalb Stunden lang fliebt kontinuierlich ein Strom von Demonstranten auf den Platz, der kein Ende zu nehmen scheint. Über eine Stunde sehe ich ausschließlich CGT-Transparente im hinteren Zugteil, der postkommunistische Gewerkschaftsbund hat offenkundig mächtig mobilisiert. Rund um die Place de la République herrscht eine surrealistische Atmosphäre: Vorne fliegen Steine und Tränengasgranaten, auch wenn sich die Situation ganz allmählich beruhigt, und hinten kommen ununterbrochen weitere – friedliche und oft ältere – Demonstranten an.

Welche Fortsetzung des Konflikts ?

Die grosse Frage lautet, wie es nach dem gestrigen immensen Mobilisierungserfolg insgesamt weiter geht. Kommt es zum von Vielen angesprochenen Generalstreik, falls die Regierung hart bleibt ? Oder begnügen sich die Gewerkschaftsführungen wieder, wie beim Konflikt um die «Rentenreform» von 2003, mit ein paar Aktionstagen in wöchentlichem Abstand, die nichts blockieren und durch die Regierung letztendlich übergangen werden? Am Mittwoch abend wollten die 12 Organisationen, die zu Arbeitsniederlegungen und Demos am Vortag aufgerufen hatten – darunter acht Gewerkschaften von Arbeitern und Angestellten, sowie Verbände von Studierenden und Oberschülern – bekannt geben, welche weiteren Schritte sie beschlossen haben.

Der konservative Premierminister Dominique de Villepin ist nach wie vor nicht gewillt, den Gesetzestext, der die Rechtsgrundlage für den CPE schafft, zurückzuziehen. Allenfalls ist er bereit, zwar keine Begründungspflicht für Kündigungen – die juristische Konsequenzen hätte, da das Kündigungsmotiv gerichtlich nachprüfbar wäre – in den «Ersteinstellungsvertrag» aufzunehmen, aber die Arbeitgeber zu einem «Gespräch» mit dem Betroffenen zu verpflichten, falls ein CPE aufgekündigt wird. Das Gesetz ist bereits im Schnellverfahren, dank dem Premierminister de Villepin durch das Stellen der Vertrauensfrage jegliche Sachdebatte mit den Abgeordneten abwürgen konnte, durch das Parlament gedrückt und am 10. März verabschiedet worden. Doch noch ist er nicht von Präsident Jacques Chirac unterschrieben, und es fehlen auch noch die nötigen Ausführungsdekrete.

Aus diesem Grunde appellierten die fünf grössten und institutionalisierten Gewerkschaftsbünde, die vom Gesetzgeber als «repräsentativ» anerkannt sind, noch am Dienstag abend in einem gemeinsamen Brief an Staatspräsident Chirac: Dieser solle die Unterschrift unter das Gesetz vorläufig verweigern und es zu einer weiteren Beratung in die Nationalversammlung zurückgeben. Um dort eine Sachdiskussion zu ermöglichen, aber auch, um den CPE aus dem «Gesetz für Chancengleichheit» getauften Gesetzespaket herauszunehmen. Dies ist absolut nicht im Sinne der radikaleren Kräfte in der Protestbewegung, und namentlich der «Koordination der Studierenden, Oberschüler und jungen Prekären gegen den CPE». Sie fordert die Zurückweisung des gesamten Gesetzespakets, das neben dem umstrittenenen CPE auch noch eine Reihe von Sonderbestimmungen für die Banlieuejugend enthält. So ermöglicht es die Kollektivbestrafung von Familien – im Regelfall aus den sozialen Unterschichten -, deren Jugendliche straffällig wurden, durch den Entzug von Sozialleistungen. Ferner legalisiert das Gesetzespaket den Eintritt ins Arbeitsleben mit 14 und lässt Nachtarbeit sowie Wochenenddienst ab 15 zu.

Von Anfang an herrscht ein Legitimitätskonflikt zwischen zwei Akteuren innerhalb der jüngeren Protestbewegung. Auf der einen Seite stehen die etablierten Gewerkschaftsapparate, die eine breite soziale Basis unter abhängig Beschäftigten haben, aber die in Gipfeltreffen ihrer jeweiligen Spitzen über ihre nächsten Schritte entscheiden. Andererseits gibt es die Streikkoordination, die aus dem studentischen Selbstorganisierungsprozess in Vollversammlungen und Streikkomitees hervorging. In ihr machen Angehörige der sozialdemokratischen Studierendengewerkschaft UNEF rund ein Drittel, und radikale Linke unterschiedlicher Couleur gut die Hälfte der Delegiertenmandate aus. Bislang ergriff auf den verschiedenen Stufen des Konflikts gewöhnlich die Streikkoordination die Initiative, und die Gewerkschaftsapparate schlugen daraufhin ein Alternativdatum vor. Die Koordination wollte am 16. März, einem Donnerstag, auf die Straße gehen? Die Gewerkschaftsspitzen bevorzugten den 18. März, da sie an einem Samstag nicht zum Streik aufrufen mussten. Die Koordination wollte einen landesweiten Aufruf zu Arbeitsniederlegungen am 23. März ? Die Gewerkschaftsführungen favorisierten einen solchen Aufruf an die Lohnabhängigen für den 28. März.

Noch ist unklar, wie nunmehr weiter entschieden wird. Aber die Koordination ruft bereits für den Donnerstag dazu auf, Bahnhöfe und Hauptverkehrsstraben zu blockieren, um zu beginnen, den kapitalistischen «Normalbetrieb» des Alltags lahm zu legen, falls die Regierung auf ihrer Position beharrt. In Rennes warteten die Studierenden nicht so lange ab, sondern blockierten gleich am Mittwoch morgen die wichtigsten Zufahrtswege zu der westfranzösischen Regionalhauptstadt. In einigen Départements, etwa dem Bezirk um Nantes – einer alten anarchosyndikalistischen Hochburg mit bis heute starker kämpferischer Gewerkschaftstradition -, rufen übergewerkschaftliche Aktionskomitees auch seit mehreren Tagen zu einer unbefristeten Fortsetzung der Ausstände vom Dienstag auf. So lange, bis die Regierung nachgibt. In der Chemieindustrie, wo die CGT Chemie sich ähnlich positioniert, wurden am Mittwoch Produktionsrückgänge in den Raffinerien verzeichnet.

Streben die Konservativen ein Thatcher-Szenario an ?

Die konservative Regierung ihrerseits setzt offenkundig auf eine Strategie des «Aussitzens». Sie düfte darauf bauen, dass am 8. April die zweiwöchigen Universitätsferien im Grobraum Paris beginnen, und zeitversetzt dann auch in den anderen Regionen. Falls bis dahin die Mobilisierung den CPE nicht kippen konnte, droht die Gefahr, dass die studentische Mobilisierung sich dann auseinanderläuft – zumal nach der Ferienperiode die Jahresabschlussprüfungen näher rücken und viele Studierende zu fürchten beginnen, dass ihnen eine Fortsetzung des Ausstands ein ganzes Jahr kosten könnte und etwa ihr Stipendium in Gefahr bringt. Hat der Ausstand von Arbeitern und Angestellten keinen größeren Effekt, so dürfte es unmöglich sein, dass Oberschüler und Studierende die Mobilisierung allein weiter tragen. In Rennes, von wo der Hochschulstreik ausging, dauert er seit nunmehr 7 Wochen ohne Unterbrechung an. Dies dürfte die Regierung in ihr Kalkül einbeziehen.

Sofern sie die Kraftprobe um den CPE durchhält (auch wenn sie in dieser Frage zwei Drittel der öffentlichen Meinung gegen sich hat), könnte sie versucht sein, ähnlich wie Margaret Thatcher in den 80er Jahren den Gewerkschaften eine entscheidende Niederlage beizubringen. Danach lässt sich dann sehr vieles ohne größere Widerstände durchdrücken. Ansätze einer solchen Niederlage, anhand derer die Regierung ihre Durchsetzungsfähigkeit beweist und damit gleichzeitig den Weg für eine Fülle anderer kapitalfreundlicher Veränderungen frei macht, hatte in Frankreich bereits der Konflikt um die «Rentenreform» 2003. Ihn verloren die Gewerkschaftsführungen, nachdem sie selbst zuvor die Mobilisierung auf Sparflamme gehalten hatten, vor allem durch Abwürgen des spontan ausgebrochenen Transportstreiks, den sie für unpopulär hielten. Aus diesem Grunde fordert ein Teil der politischen und wirtschaftlichen Elite auch von Premier de Villepin jetzt durchzuhalten – um nämlich dieses 2003 durch die französische Rechte errungene «politische Kapital» nicht wieder zu verlieren. Keine Personenfrage!

Es geht also, entgegen den Spekulationen eines Gutteils der französischen Presse, mitnichten um persönliche Charakterzüge de Villepins oder um die Frage, ob er «autistisch», «psychisch starr» oder «taub» für die Forderungen sei. Es handelt sich um eine bewusst geplante Politik. Allerdings treten im aktuellen Konflikt auch die Sollbruchlinien innerhalb des bürgerlichen Lagers auf, unter anderem entlang der Rivalitäten zwischen den beiden konservativen Anwärtern, auf die Präsidentschaftskandidatur im kommenden Jahr. De Villepins grober Herausforderer, Innenminister Nicolas Sarkozy, nutzt die Situation geschickt aus. In einer viel beachteten Rede am Montag abend im nordfranzösischen Douai forderte Sarkozy lautstark den «soziale Dialog» ein. Er variierte dieses Thema auf verschiedenen Tonleitern herunter: «Man kann eine feste Position einnehmen, ohne sich zu versteifen... Man kann versöhnlich (auftreten), ohne schwach zu sein... » Wunderschönes Wortgeblubber also. In der Sache selbst sprach Sarkozy sich für Verhandlungen mit den Gewerkschaftsorganisationen vor der Einführung des CPE aus. Nichts anders versucht Premierminister de Villepin im Moment händeringend.

Aber es gelingt Sarkozy damit, sich mit seiner Pose als vermeintlicher Kritiker der Hardlinerposition des Regierungschefs in Szene zu setzen. Dabei ist das, was der hyperaktive Minister in derselben Rede längerfristig vorschlug bzw. ausmalte, näher an dem dran, wovon die französischen Arbeitgeberverbände im Moment träumen: Sarkozy sprach sich für die Schaffung eines «contrat unique (Einheitsvertrags) ohne Befristung» aus. Das bedeutet verklausuliert nichts anderes, als das, was die Arbeitgeberverbände die ganze letzte Zeit über schon fordern: Statt Sonderverträge vom Typ CPE/CNE zu favorisieren, soll der Kündigungsschutz im Normalarbeitsvertrag vom Typ CDI (unbefristeter Vertrag), der theoretisch weiterhin die Norm bleiben soll, selbst angeknackst werden. Ein «contrat unique» würde bedeuten, dass die Arbeitsverträge weiterhin unbefristet abgeschlossen werden, aber der Kündigungsschutz mit steigender Zahl der Dienstjahre wächst. Das bedeutet, dass im Kontext einer solchen Regelung in den Anfangsjahren ebenfalls kaum Kündigungsschutz bestünde, dieser dann aber nach einigen Jahren der Unternehmenszugehörigkeit zumindest die Gestalt eines garantierten Mindestniveaus an Abfindung annähme. Eine tolle Alternative..., die in mancher Hinsicht noch schlimmer als das CPE-Projekt ausfallen könnte.

Einen Ausweg ohne politische Niederlage ihrerseits könnte der Regierung ferner auch noch das französische Verfassungsgericht bieten. Es spricht sich am Donnerstag dieser Woche über die Rechtmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit des «Gesetzes zur Chancengleichheit» und damit auch der Bestimmungen über den CPE aus. Es gilt als möglich, dass es das Gesetz kassieren könnte, sowohl aufgrund der Beschneidung der Rechte des Parlaments während seiner Verabschiedung als auch aus inhaltlichen Gründen. Zu ihnen gehört, dass der CPE nicht mit der Konvention 158 der International Labour Organization (ILO) vereinbar sein könnte, die auch durch Paris unterzeichnet worden ist. Diese internationale arbeitsrechtliche Bestimmung verpflichtet die Arbeitgeber dazu, im Falle der Kündigung eines abhängig Beschäftigten dafür Gründe zu nennen.

(B.Schmid am 29. März 2006)


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