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Updated: 18.12.2012 15:51
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Gewerkschaften und Studierenden-Koordination bereiten nächste Schritte der Protestbewegung und Ausstände vor

Nanterre am Dienstag dieser Woche: Im Nieselregen ist auf dem Campus der Hochschule Paris-10 doch Einiges los, obwohl überall große Aushänge angschlagen sind: «Auf Entscheidung des Rektors hin bleibt die Universität bis auf Weiteres geschlossen». Alle Vorlesungen fallen aus, aber das Alternativprogramm im Gebäude der Sozialwissenschaftler erfreut sich doch des Zulaufs einiger Studenten und Doktoranden, die eigens an die Uni gekommen sind. Im Hörsaal A2 hören 60 Studierende einem Vortrag über «Erfolgreiche Kämpfe von prekär Beschäftigten», am Beispiel der jeweils zweijährigen Streiks afrikanischer Putzfrauen beim Hotelkonzern ACCOR und in einer Paris McDonalds-Filiale, zu und stellen Fragen. Nebenan tobt eine Versammlung, die über die weiteren Protestaktivitäten der nächsten Tagen beraten soll. Am Mittag brechen die Teilnehmer zu einer Demo in der Pariser Innenstadt auf. Doch am Mittwoch verhindert ein Beschluss der Verwaltung den Fortgang der «Alternativuniversität» : Es ist der Jahrestag des 22. März, an dem dereinst in Nanterre die Ereignisse des Mai 1968 anfingen. Da hatte man dann doch Furcht, dass dies so manche Aktivitäten anregen könnte.

Beschluss der Gewerkschaftsführungen vom Montag abend

Die politische und soziale Situation in Frankreich wird sich auch in den nächsten Tagen zuspitzen - die Frage ist nur noch, in welcher Form und inwiefern sich die soziale Dynamik etwa durch etablierte Apparate kanalisieren lässt. Ein entscheidender Stichtag wird der Dienstag kommender Woche (28. März) werden.

Auch die Führungen der größeren französischen Gewerkschaftsverbände sprachen in den vergangenen Tagen, jedenfalls mündlich, wiederholt vom «Generalstreik». Einen solchen drohten sie zunächst am vorigen Samstag der konservativen Regierung unter Premierminister Dominique de Villepin an, falls sie nicht das Gesetz über den «Ersteinstellungsvertrag» (CPE) zurückziehe,. Diese Warnung wurde mit einem knapp 48stündigen Ultimatum verknüpft, das am Montag abend auslief. In früheren sozialen Konflikten, zuletzt bei der großen Auseinandersetzung um die «Rentenreform» im Frühsommer 2003, hatten die großen Gewerkschaften den Begriff grève générale noch regelmäßig vermieden wie der Teufel das Weihwasser. Entweder betrachteten sie die Aussicht auf eine Kraftprobe in Gestalt eines Generalstreiks als «nicht realistisch», oder aber ihre Apparate verhandelten längst hinter den Kulissen - oder gar davor, wie im Falle der CFDT - die Konditionen für ihre Zustimmung mit der Regierung aus.

Am Spätnachmittag dieses Montags trafen die Repräsentanten der Gewerkschaftsführungen also erneut, ab 17 Uhr am Pariser Sitz des christlichen Gewerkschaftsbund CFTC, zusammen. Es ging darum, die Konsequenzen aus der Ablehnung substanzieller Zugeständnisse durch die Regierung unter Premierminister Dominique de Villepin zu ziehen. De Villepin hatte es abgelehnt, sich auf das Ultimatum einzulassen oder in sonstiger Form der Rücknahme der umstrittenen Gesetzesbestimmung zur Einführung des CPE zuzustimmen. Letztere ist am 10. März durch die konservative Parlamentsmehrheit verbschiedet worden, im Rahmen des Gesetzespakets unter dem trügerischen Titel «Gesetz für die Chancengleichheit», aber noch nicht in Kraft getreten. Unter anderem muss Präsident Jacques Chirac den Gesetzestext erst noch unterschreiben. Damit erhöht sich natürlich auch der Druck auf ihn. Der Präsident hüllt sich bisher zum Teil in Schweigen. Am Dienstag vergangener Woche hatte er unterdessen dem amtierenden Premierminister de Villepin von Berlin, wo der deutsch-französische Regierungsgipfel stattfand, seine Unterstützung ausgesprochen; aber viele französischen Medien (etwa die konservative Boulevardzeitung 'France Soir' vom folgenden Tag) interpretierten diese Vertrauenserklärung als halbherzig. Chirac ist einmal mehr in der Klemme, aber das kennt er ja bereits. Am ersten Streiktag der massiven Ausstände in allen öffentlichen Diensten im November 1995, ein halbes Jahr nach seiner Amtseinführung, hatte er noch auf eine Frage dazu geantwortet: «Eh bien, je m'en fous!' («Schön, das ist mir scheißegal!») Seitdem hat er oder haben die ihm untergebenen Regierungen mehrfach dem sozialen «Druck der Straße» nachgeben. Allerdings kaum mehr in der Periode seit 2002, in der die konservative Dominanz rücksichtslos durchgesetzt wurde.  

Nach zweistündiger Diskussion und Erörterung der Lage fassten die Gewerkschaftsführungen also folgenden Beschluss:

Generalstreik (noch) nein - Aber !

Den Generalstreik haben sie nun nicht schwarz auf weißauf die Tagesordnung gesetzt, als die Repräsentanten aller wichtigen französischen Gewerkschaftsverbände am Montag erneut zusammentraten - und feststellen mussten, dass die Regierung nicht einzulenken gewillt ist. Der Begriff hätte dann doch zu Uneinigkeiten geführt in dem Spektrum, das von den linksalternativen Basisgewerkschaften SUD-Solidaires über die postkommunistische CGT bis hin zur sozialliberalen CFDT und dem relativ weit rechts angesiedelten christlichen Gewerkschaftsbund (CFTC) reicht. Vor allem die CFDT-Vertreter beriefen sich dem Vernehmen nach explizit auf «praktische Schwierigkeiten» dabei, eine solche Mobilisierung hinzukriegen.

Offen gegen eine möglichst breit angelegte Kampffront eintreten will dagegen derzeit auch kein Gewerkschaftsverband. Die Führung der sozialliberalen CFDT hat ihren Kongress im Juni (nach dem der CGT in der letzten Aprilwoche)... Dieses Mal gibt es bisher auch keine subtile Debatte, bei der die Formulierung einer «Generalisierung des Streiks» (im Sinne der Ausweitung eines sektoral begrenzt gehaltenen Arbeitskampfes) gegen den Begriff vom «Generalstreiks» ausgespielt würde, wie es der CGT-Apparat das gesamte Streikfrühjahr 2003 hindurch tat.

Darauf folgte, dass die Gewerkschaften einen allgemeinen Aufruf zu «Arbeitsniederlegungen, Streiks und Demonstrationen» im Rahmen eines breit angelegten Aktionstags für den 28. März lancieren, der sich an Arbeiter und Angestellte genauso richtet wie an Studierende und Oberschüler. Explizit auf bestimmte Sektoren eingeschränkt ist er nicht. Im Schlusssatz wird ferner das Ziel ausgegeben, «die größt(möglich)e Zahl zu mobilisieren». Daher können sich überall die kampfeswilligen Kräfte auch auf diesen Aufruf berufen. (Den Originaltext findet man unter: http://www.cfdt.fr/actualite/emploi/emploi_insertion/emploi_0168.htm externer Link. Unterzeichnet haben ihn insgesamt 12 Organisationen. Unter ihnen sind zwei Studierenden- und zwei Oberschülerverbände, die jeweils sozialdemokratisch dominiert sind - und 8 unterschiedlichst ausgerichtete Gewerkschaften von Arbeitern und Angestellten.) 

Noch vor dem Ausstand vom 28. März werden am Donnerstag dieser Woche wieder zahlreiche Studenten, junge prekär Arbeitende, Oberschüler und Jugendliche auf die Straße gehen. Der Beschluss der Gewerkschaftsführungen vom Montag abend enthält auch eine Passage, die zur Unterstützung dieses Aktionstags aufruft.

Deshalb liegt zwar beispielsweise die deutsche Tageszeitung junge Welt falsch, die in ihrer Mittwochsausgabe behauptet: «Frankreich: Aufruf zum Generalstreik». Tatsächlich sollte man damit aufhören, sich (einmal mehr) an Siegesmeldungen selbst zu berauschen, die gar nicht der Realität entsprechen. (Von den langsam lästig werdenden, jungen deutschen Revolutionstouristen einmal völlig zu schweigen... !) Aber andererseits stimmt es eben auch, dass die Dynamik dieses Mal nicht so offen ausgebremst wird, wie die CFDT und auch die CGT dies im Frühsommer 2003 beim Streik gegen die «Rentenreform» taten.

Zwei unterschiedliche Logiken der Interessenvertretung

Derzeit koexistieren zwei unterschiedlichen «Legitimitäten» im laufenden Interessenkampf, zwei unterschiedliche Formen von Organisation und Interessenvertretung. Auf der einen Seite finden wir die Gewerkschaften, die weitestgehend an ihrer Spitze (bzw. durch Austausch unter ihren jeweiligen Spitzenvertretern) entscheiden, aber die zugleich eine breite soziale Basis auch unter abhängig Beschäftigten aufweisen. Auf der anderen Seite haben wir die Streikkoordination der Jugend, die weitgehend auf einem Selbstorganisationsprozess beruht. Bei dem natürlich die ohnehin politisierten Elemente in die erste Reihe drängen, sich aber etwa durch studentische Vollversammlungen legitimieren müssen, an denen derzeit oft hunderte und manchmal tausende Personen teilnehmen.

Als Bindeglied zwischen beiden fungiert derzeit vor allem die (sozialdemokratisch dominierte) Studierendengewerkschaft UNEF oder «Nationale Union der Studenten Frankreichs». Denn diese organisiert einerseits ihre Mitglieder im studentischen Bereich, andererseits ist sie aber nach dem Muster der (traditionellen) Gewerkschaftsorganisation im Arbeiter- und Angestelltenmilieu aufgebaut und strukturiert. Die UNEF saßund sitzt bei den Beratungen der Gewerkschaftsverbände (wie am Samstag und am Montag) mit am Tisch, ist aber zugleich auch in der Streikkoordination der Studierenden mit vertreten.

In der Vergangenheit war die UNEF, vor allem in den Nachkriegs-Jahrzehnten, eine echte Massenorganisation. Die traditionelle UNEF stand der französischen KP nahe, später (in der Ära des Aufstiegs François Mitterrands) spaltete sich die sozialdemokratish beherrschte UNEF-ID von ihr ab. Beide Verbände fusionierten vor 5 oder 6 Jahren unter dem gemeinsamen Namen «UNEF», doch die französische KP - die in den jüngeren Generationen keine starke Anhängerschaft mehr hat - repräsentiert im Inneren der Organisation schlichtweg gar nichts mehr. Die UNEF steht heute unter weitgehender sozialdemokratischer Dominanz, örtlich werden ihre Strukturen an manchen Universitäten dagegen durch Angehörige der radikalen Linken (undogmatische Trotzkisten oder andere) aufgefüllt. Eine tatsächliche Massenorganisation ist die UNEF aber längst nicht mehr: Hatte sie mehrere zehntausend Mitglieder, als es in ganz Frankreich nur 200.000 Studierende gab (in den sechziger Jahren) und organisierte sie einst mindestens ein Drittel der französischen Studentenschaft in ihren Reihen, hat sie heute vielleicht noch 20.000 Mitglieder, was jetzt ungefähr einem Prozent der gesamten Studierendenschaft entspräche.

Jetzt zur Streikkoordination und ihrer Vorgeschichte: Seit Anfang Februar traten zunächst einige westfranzösische Hochschulen gegen den neuen «Ersteinstellungsvertrag» in den Ausstand. Ab dem Monatsende - zu dem die Hochschulferien etwa im Pariser Raum endete - breitete er sich dann rapide aus. Dabei ist ein interessanter politischer Radikalisierungsprozess zu beobachten.

Die Träger des studentischen Protests, die vor allem an den westfranzösischen Universitäten oft keine vorherige politische Erfahrung gesammelt hatten, traten zunächst gegen die Verletzung eigener Interessen in den Streik. Doch mittlerweile hat sich der allgemeine Forderungsstand an sämtlichen Universitäten längst auf mindestens zwei Punkte erweitert, von denen die Studierenden nicht unmittelbar betroffen sind. Zum Einen wird die Abschaffung auch des CNE oder «Neueinstellungsvertrags» für die Älteren verlangt. Andererseits wird aber auch die Abschaffung des «Gesetzes für die Chancengleichheit» als Ganzes, und nicht nur der Bestimmung zum CPE, eingefordert. Dieses am 10. März vom Parlament angenommene Gesetzespaket enthält neben dem «Ersteinstellungsvertrag» (CPE) auch Maßnahmen, die spezifisch für die Banlieuejugend oder ihr familiäres Umfeld konzipiert sind und die Studierenden ebenfalls nicht direkt betreffen. Dazu gehört die Kollektivbestrafung von Familien, deren Jugendliche straffällig geworden sind, durch den Entzug bestimmter Sozialleistungen.

Bereits Ende Februar 2006 hatte die in Toulouse versammelte «Nationale Streikkoordination der Studenten gegen den CPE» auch beschlossen, die Forderung nach Freilassung aller Jugendlichen, die im November 2005 im Zusammenhang mit den Riots in den Trabantenstädten inhaftiert worden sind, in ihre Forderungsplattform aufzunehmen. Am vorletzten Wochenende nun beschloss die Koordination anlässlich einer Tagung in Poitiers, sich in «Nationale Koordination der Studierenden, jungen Arbeitenden und Prekären » umzubenennen.

Dies spiegelt eine Erweiterung ihres sozialen Blickwinkels wider. Freilich bleibt die Umbenennung smybolisch, was ihre Zusammensetzung betrifft. Denn natürlich können nur Sektoren, die sich im Streik befinden und Vollversammlungen abhalten, demokratisch legitimierte RepräsentantInnen der Basis in das Koordinationsgremium entsenden. Das ist zur Zeit in rund zwei Dritteln der Universitäten, aber auch in in mehreren Dutzend Oberschulen (um die 300 waren am 20. März bestreikt) der Fall. An der letzten Sitzung der Streikkoordination in Dijon, am Wochenende des 18./19. März, nahmen 450 in studentischenVollversammlungen gewählte Delegierte und circa 40 Delegierte von Oberschülern teil. Die nächste Sitzung findet am kommenden Wochenende an der Universität Aix-Marseille statt.

Artikel von Bernard Schmid, Paris, vom 22.03.2006

Siehe dazu auch:

  • "Morgen: Arbeitslose(r). Morgen: Prekäre(r). Heute: Wütend."
    Kommentierte Bildergalerie der Demonstration am Samstag, 18. März 2006 in Paris von Bernard Schmid - exklusiv im LabourNet Germany

  • »Es herrscht eine prekäre Vollbeschäftigung«.
    Ein Gespräch mit marcel lombre, einem Aktivisten der Koordination der Intermittents und Prekären aus Paris
    "In ganz Frankreich protestieren Studenten und Schüler gegen den von der Regierung geplanten Ersteinstellungsvertrag (CPE). Dieser soll es Unternehmen ermöglichen, Arbeitnehmern unter 26 Jahren jederzeit ohne die Angabe von Gründen zu kündigen. An der Bewegung beteiligt ist auch die »Koordination der Intermittents und Prekären - Île de France«. Sie gründete sich im Sommer 2003 aus Protest gegen die Abschaffung von Sonderregelungen für prekär Beschäftigte im Kulturbereich (Jungle World, 7 und 8/06). Noch immer führt sie Besetzungs- und andere Aktionen durch, unter anderem ruft sie zur Teilnahme am Euromayday auf. Weitere Informationen gibt es auf ihrer Webpage www.cip-idf.org, wo auch ihr Organ Interluttants gelesen werden kann. Die Jungle World sprach mit einem Aktivisten der Koordination, dessen Name auf eigenen Wunsch geändert wurde.." Interview von Anne Joly in Jungle World vom 22. März 2006 externer Link


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