letzte Änderung am 20. Oktober 2003 | |
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"Der Gallier", erklärte jüngst der Häuptling dieses Völkchens, "knurrt oft, aber er kann auch loyal und tapfer sein, wenn das Ziel richtig verdeutlicht wird". Die Rede ist hier nicht von einem Hund, sondern vom Verhalten der französischen Bevölkerung.
Diese Äußerung von Präsident Jacques Chirac vor ausgewählten Abgeordneten der Regierungspartei UMP, mit denen er im Elysée-Palast zu Mittag speiste, machte die Pariser Abendzeitung "Le Monde" am vorigen Mittwoch (15. Oktober) öffentlich. Ungewöhnlich darin ist nicht die ironische Bezeichnung der Einwohner Frankreichs, denn die hat sich im Alltag längst eingebürgert. Bemerkenswert aber ist, wie der konservative Staatschef die nähere Zukunft der so genannten Reformen ausmalt.
Man darf demnach nicht zu sehr auf das "Knurren" achten, sondern muss einfach nur ein bisschen "Reformpädagogik" - wie es im Regierungsjargon heißt - walten lassen, und die Leute werden schon "tapfer" sein. Zugleich wird damit schon angedeutet, dass man sich Reformen heutzutage eher als eine Art schmerzhafter Rosskurs denn als Schritt hin zu einem besseren Leben - im Sinne die Reformisten früherer Jahrzehnte - vorzustellen hat.
Ob Chiracs Kalkül dabei aufgehen wird, ist nicht so sicher, denkt man an die breiten Streikbewegungen im Frühsommer dieses Jahres, die sich unter anderem gegen die so genannte Rentenreform richteten. Diese Widerstände hat die von Chirac eingesetzte Regierung Jean-Pierre Raffarins letztendlich durch eine Strategie des Aussitzens, die man im Französischen als pourrissement (etwa: Verfaulen-, Verkommenlassen) bezeichnet, überwunden. Aufgrund der schulischen Sommerferien, finanzieller Erschöpfung der Ausständischen und anderen Problemen brach die Streikbewegung nach sechs Wochen ein. Die Regierung ihrerseits hielt um so eiserner durch, als sie aus der Durchsetzung ihres Rentenplans den Kräftetest machte, der über ihre weitere "Reformfähigkeit" auch auf anderen Gebieten bestimmen sollte. Nunmehr scheint sie darauf zu bauen, dass auch künftige soziale Konflikte ähnlich ablaufen werden.
Das muss sie auch, denn die nächste große Reformbaustelle ist jetzt explizit angekündigt. Nunmehr soll es der Sécurité sociale an den Kragen gehen, der gesetzlichen Krankenversicherung, die 1945 unter besonderen historischen Umständen - unmittelbar nach der Befreiung vom Faschismus und zu einer Zeit, als die Kommunisten als stärkste Partei an der Regierung beteiligt waren - eingeführt wurde. Am Montag voriger Woche (19. Oktober) setzte Premierminister Raffarin eine 53köpfige Kommission dazu ein, die bis zu den Weihnachtsferien eine "Diagnose" über den Zustand von Krankenkassen und Gesundheitswesen abgeben soll. Auf der Basis dieses Berichts soll dann reformiert werden.
Die Katze ist auch schon aus dem Sack, in welche Richtung dabei nachgedacht werden soll. In seiner Rede vom vorigen Montag betonte Jean-Pierre Raffarin auffällig oft den Unterschied zwischen "wesentlichen Bedürfnissen und anderen, die eher subjektive Bedürfnisse sind" und die notwendige "Balance zwischen dem, was zur kollektiven Solidarität gehört, und der individuellen Verantwortung". Die erstgenannten Kategorie soll auch weiterhin durch die gesetzliche Krankenversicherung abgedeckt werden, während die zweitere künftig den privaten Versicherern überlassen werden soll.
Raffarin gab auch gleich ein Beispiel ab: Es sei nicht dasselbe, unterstrich er, ob "jemand sich bei einem Sturz auf der Straße oder beim Skifahren den Arm bricht". Denn wer Ski fährt, ist an seinem Unglück zumindest mitschuldig. Die privaten Gesellschaften, die Zusatzversicherungen anbieten, reagierten darauf, indem sie bereits Beitragserhöhungen ankündigten - "Le Monde" publizierte am Tag nach der Rede des Regierungschefs einen Überblick.
Bereits jetzt sind die privaten Versicherungen mit erhöhten Ausgaben konfrontiert, die durch jüngste Regierungsbeschlüsse verursacht werden und die sie alsbald auf die Privatpersonen umlegen werden. Denn das Kabinett hat nicht vor, sämtliche Maßnahmen, die die Krankenversicherung betreffen, in einem Aufwasch zu präsentieren - dafür fürchtet man denn doch, dass sich zu viele Widerstände zusammenballen könnten. Daher hat man bereits zu reformieren begonnnen: Im April dieses Jahres wurde die Kostenerstattung aus der gesetzlichen Krankenkasse bei insgesamt 617 Medikamenten von zwei Dritteln auf ein Drittel gesenkt. Im Juli dann nahm Gesundheitsminister Jean-François Mattei 84 Arzneimittel ganz aus der Rückerstattung heraus. Im Herbst dieses Jahres werde weitere Maßnahmen folgen. So sollen homöopathische Behandlungen künftig nur mehr zu einem Drittel bezahlt werden - bisher war es das Doppelte -, und die Eigenbeteiligung bei Krankenhausaufenthalten wird von gut 10 auf 13 Euro pro Tag steigen.
Jacques Chirac hatte bei seiner Fernsehansprache am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, noch in Aussicht gestellt, es werde gar keinen "Umsturz" bei der Krankenversicherung geben, sondern nur eine "Anpassung" - die damals über mehrere Jahre gestreckt werden sollte. Raffarin hat jetzt aber nachgelegt und erklärt, eine "tief greifende Anpassung" müsse es schon sein. Zumindest das Kernstück des Umbaus im Gesundheitswesens soll nunmehr, seinen Worten zufolge, bis zum 14. Juli kommenden Jahres unter Dach und Fach sein. Damit hat er eine auffällige Parallele zur Rentenreform gezogen, denn für diese war im Sommer dieses Jahres das gleiche Stichdatum angesetzt worden. Durch Verzögerungen bei der Parlamentsdebatte, für die eine Sondersitzung während der Sommerpause organisiert worden war, war sie dann am 24. Juli in dritter und letzter Lesung verabschiedet worden.
Damit die bittere Pille auch brav runtergeschluckt wird (so jedenfalkls die Hoiffnung, servierte Raffarin am vorigen Montag auch gleich eine gehörige Portion von Panikmache. Und er schürte eifrig die Angst vor einem definitiven Ende der Krankenversicherung durch "Unfinanzierbarkeit". Im laufenden Jahr beträgt das Defizit der Krankenversicherung 10 Milliarden Euro, stellte Raffarin fest. Das trifft auch zu, aber dazu muss berücksichtigt werden, dass die Regierungspolitik seit 1993 aktiv damit beschäftigt ist, ihre Kassen zu leeren, etwa durch immer mehr ausgeweitete Nachlässe an Sozialabgaben für die Unternehmen. (Zunächst auf die unteren Lohngruppen, um angeblich die Beschäftigung zu fördern; dann für ein wesentlich breiteres Band von Lohngruppen, um den Arbeitgebern die 35-Stunden-Woche schmackhaft zu machen; dann wieder dasselbe für alle Unternehmen, da die Rechte von der 35-Stunden-Woche loskommen möchte...) Ferner schuldet allein der Staat der Krankenversicherung mehrere Milliarden Euro an Rückständen, mit deren Bezahlung er es nicht eilig hat.
Falls "nichts getan" werde, so kündigte Raffarin vor der frisch gebildeten Kommission am letzten Montag an, dann werde dieses Defizit aber im Jahr 2020 gleich "100 Milliarden Euro" betragen, also glatt das Zehnfache. Eine völlig irre Prognose, die durch nichts zu untermauern ist - aber ihren klaren Zweck erfüllen soll: Angst zu stiften, um die "Reform" als nötiges Übel erscheinen zu lassen, unter das man sich furchterfüllt duckt.
Daneben geriet auch die zwischen 1998 und 2001 durch die sozialdemokratische Regierung Lionel Jospins eingeführte Regelarbeitszeit von 35 Stunden pro Woche unter erheblichen Beschuss. (Labournet berichtete.) Bereits dieses Arbeitszeitgesetz selbst trug einige kapitalfreundliche Züge, indem es etwa einem "Deal" zwischen Kapital und Arbeit den Weg ebnen sollte - nämlich einem Tausch von Arbeitsverkürzung gegen Variabilität der Arbeitszeiten, den Bedürfnissen des Kapitals nach Flexibilität Rechnung tragend. Ferner trug es zu einer "Balkanisierung" des Arbeitsrechts bei, da seine Umsetzung den Abschluss einzelbetrieblicher Abkommen erforderten. Dennoch hatten die Kapitalverbände, vor allem der Arbeitgeberbund MEDEF, eine stark ideologisch aufgeladene Hasskampagne gegen das Gesetz geführt, das ihnen immer noch zu viel "Einmischung der Politik" enthielt.
Nach dem Regierungswechsel im vorigen Jahr hatte der MEDEF zunächst tendenziell eine gesetzliche Abschaffung der 35-Stunden-Norm gefordert. Die so genannten "Erneuerer" innerhalb der regierenden UMP - ihr wirtschaftsnaher Flügel - haben diesen Druck in den letzten Wochen verstärkt. Jüngst hatten sie mit dem Ansinnen nach Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu den, angeblich horrenden, "Kosten der 35-Stunden-Woche" Erfolg.
Doch nunmehr scheint die Regierungsmehrheit sich anders entschieden zu haben. Nicht durch ein "autoritäres" Gesetz soll die Aushebelung der bisherigen positiven Seiten der Arbeitszeitverkürzung erfolgen - denn das hätte gedroht, den gewerkschaftlichen Unmut zu bündeln und so die Arbeitszeitpolitik doch wieder zum Gegenstand einer einheitlichen, landesweiten politischen Konfrontation zu machen. Deswegen auch hat Präsident Chirac die Methode, die 35-Stunden-Woche durch ein Gesetz zu attackieren, gegenüber den mit ihm speisenden UMP-Abgeordneten als "dämlich" bezeichnet. (Vgl. "Le Monde" vom 17. Oktober)
Auch einige führende Sozialisten haben sich übrigens zur gleichen Zeit nicht für eine brachiale gesetzliche Aufhebung, wohl aber für eine "Lockerung" der 35-Stunden-Gesetze ausgesprochen. Als Erstens befürwortete der sozialliberale Ex-Premierminister (Regierungschef zwischen 1988 und 1991) Michel Rocard Anfang Oktober eine "Lockerung der 35-Stunden-Woche", die ja, ach, eine so fuchtbar starre Regelung darstellten. Nicht zum ersten Mal hatte Rocard in den letzten Monate durch solche "genialen" Vorstöße auf sich aufmerksam, und sich selbst bei Teilen der Sozialisten unbeliebt gemacht. Bereits im Mai dieses Jahres hatte Rocard lautstark die "Rentenreform" der konservativen Regierung unterstützt und bekundet, seine eigene Partei hätte es auch nicht viel anders gemacht - was zwar ein ehrliches Eingeständnis war, aber dennoch für böses Blut sorgte. Dieses Mal hatten einige sozialistische Parteifreunde denn doch die Faxen dicke, und forderten Parteisanktionen gegen Michel Rocard (vgl. "Le Monde" vom 10. Oktober).
Doch da kam schon der nächste prominente Sozialdemokrat und sagte sinngemäß dasselbe. Anlässlich seines Auftritts bei der Prominentensendung "100 minutes pour convaincre" am vorigen Mittwoch, 15. Oktober, sprach sich der ehemalige Wirtschaftsminister Laurent Fabius (2000 - 02) für notwendige "Anpassungen" der 35-Stunden-Woche aus, gemeint war: an die wirtschaftliche Realität, also an die Bedürfnisse der Produktion bzw. Dienstleistungs-Anbieter. Fabius ist nicht Irgendwer, sondern der wahrscheinliche künftige Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten im Jahr 2007. Seine Ambition, zu kandidieren, unterstrich der sozialliberale Politiker jedenfalls (erstmals in dieser Klarheit) öffentlich bei seinem Fernsehauftritt vom Mittwoch.
Zurück zur Regierungspolitik des konservativen Kabinetts: Statt eines expliziten und "zentralen" neuen Arbeitsgesetzes soll also stattdessen die Balkanisierung durch einzelbetriebliche Abkommen noch weiter favorisiert werden. Sozialminister François Fillon will sogar ein Gesetz zur generellen Reform der Tarifverhandlungen verabschieden, das den Abschluss einzelbetrieblicher Verträge favorisieren soll. Demnach sollen diese nunmehr weit mehr als bisher von Branchenverträgen und auch vom Gesetz abweichen können, um den "starren" kollektiven Rahmen aufzuweichen. Dabei soll die Arbeitszeitpolitik lediglich ein möglicher Gegenstand sein. Auf diese Weise würde die Gegenreform zur 35-Stunden-Woche in einem allgemeinen Gesetz versteckt werden.
Dessen Philosophie wird vom Arbeitgeberbund MEDEF und der sozialliberalen Gewerkschaft CFDT grundsätzlich begrüßt. Bestünde ein solches Gesetz doch aus einer weitgehenden Übernahme jenes Grundsatzabkommens, das die CFDT sowie zwei kleinere, rechte Gewerkschaften am 16. Juli 2001 mit dem MEDEF (der die treibende Kraft dahinter bildet) abgeschlossen haben, die so genannte "Position commune". Bisher hatte sie lediglich symbolischen Wert, jetzt will der Gesetzgeber sie zu seiner "Methode" erheben.
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