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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Cyril Ferez (SUD PTT). Wie aus einem Opfer (immer noch im Koma) ein Täter werden soll Alles wird noch schlimmer durch die «Erklärungen» aus Polizei- und Regierungskreisen. Wieder einmal soll das Opfer, das in diesem Fall seit der Nacht zum Sonntag zwischen Leben und Tod schwebt, selbst (mindestens mit-)schuldig sein. Von Fehlerbewusstsein keine Spur. Ähnlich war es beim Tod zweier Jugendlicher im vorigen Oktober in Clichy-sous-Bois bei Paris: Tagelang hatten Premier- und Innenminister erst die Lüge aufgetischt, diese seien straffällig geworden und dabei ertappt worden ; und als dies nicht mehr haltbar war, wurde ihre Flucht vor der Polizei als irrational und damit selbst verschuldet dargestellt. Erst durch die minutiöse Aufklärungsarbeit eines Teils der französischen Presse lichtete sich der Nebel in den darauffolgenden Tagen allmählich. Vertuschen und Verschleiern? Nach der Auflösung der großen Pariser Demonstration vom vorigen Samstag (18. März) hatte die Pariser Polizeipräfektur zunächst explizit behauptet, es habe keine ernsthaft Verletzten oder Geschädigten gegeben. Noch in einer Presseerklärung aus dem Hauptquartier der Pariser Polizei vom Sonntag um 12 Uhr mittags, die durch die Nachrichtenagentur AFP übernommen wurde, hießes wörtlich: «Niemand ist weder schwer verletzt noch im Krankenhaus behandelt worden.» Denselben Angaben zufolge waren 52 Leichtverletzte in Folge von Reibereien mit den Polizeikräften zu verzeichnen. Doch zu diesem Zeitpunkt dürfte man «an hoher Stelle» längt davon gewusst haben, dass ein Demonstrant vom Vortag in Lebensgefahr schwebte. Der 39jährige Postgewerkschafter Cyril Ferez (von der linken Basisgewerkschaft SUD PTT, «Solidaires/Unitaires/Démocratiques bei Post und Telekom») war in der Nacht vom Samstag zum Sonntag gegen 4.45 Uhr früh aufgrund von Gehirnblutungen ins Koma gefallen. Dabei fiel er von der Bahre, auf die er gelegt worden war, nachdem er am Samstag um 21.14 Uhr in ein Krankenhaus im Südosten von Paris eingeliefert worden war. Aus diesem Koma ist er seitdem nicht mehr erwacht. Am Dienstag hießes dazu von ärzlicher Seite, er schwebe in Lebensgefahr, und die Diagnose sei pessimistisch. Am Abend hat sich sein Zustand unterdessen etwas «stabilisiert», wie am Mittwoch früh verlautete. Die Tageszeitung 'Libération', die bereits am Dienstag ihre Seite Eins dem Thema «Der Polizeiübergriff von der (Place de la) Nation» widmet, zitiert unterdessen eine Äußerung der Polizeipräfektur vom Sonntag abend. Ihr zufolge habe man gewusst, so gibt 'Libération' die amtliche Stelle wieder, «dass sie am Vorabend über die Einlieferung eines 'Mannes, der während der Auseinandersetzungen verletzt worden ist' und sich 'in ernstem Zustand' befand, in ein Krankenhaus unterrichtet worden ist.» Demnach hat man sich also anlässlich der beruhigenden Erklärungen vom Sonntag mittag bewusst darüber ausgeschwiegen. Schlimmer jedoch ist, dass in Ekel erregender Weise versucht wurde, den in Lebensgefahr schwebenden Demonstranten zu diskreditieren oder zu verunglimpfen. Mit folgenden Worten zitiert 'Libération' eine, nicht näher bezeichnete, «Regierungsquelle» (Originalton): «Es handelt sich um einen besoffenen Burschen mit zwei Promille im Blut, der sich entweder selbst geschlagen hat» (sic !) «oder der einen Schlag während der Auseinandersetzungen abbekommen hat.» Was ist wirklich passiert ? Dass Cyril Ferez, der sich nach wie vor in lebensbedrohlichem Zustand befand, zum Zeitpunkt des Eintritts ins Koma ungefähr 2 Promille Blutalkoholgehalt hatte, ist unbestritten. Daraus wird geschlossen, dass er zum Zeitpunkt, an dem er sich am Samstag abend die Kopfverletzungen zuzog, ungefähr 2,7 Promille Alkohol gehabt habe. Nur, was beweist dies? Nicht seine Mitwirkung an irgend etwas Gefährlichem, wie durch die staatlichen Quellen implizit suggeriert wird - sondern, im Gegenteil, vor allem seine absolute Ungefährlichkeit: Cyril konnte zum fraglichen Zeitpunkt kaum noch gerade stehen oder laufen. Detaillierte Augenzeugenberichte, die am Dienstag und Mittwoch in größerer Zahl von 'Libération' präsentiert werden, belegen es ebenso wie die dabei stehenden Fotographien von ihm zu dem Zeitpunkt, da er durch CRS-Polizisten geschleift wurde und danach am Boden lag: Weder trug er irgend einen Gegenstand bei sich oder in der Hand, noch war er vermummt oder in anderer Weise geschützt. Cyril Ferez hatte sich offenkundig nicht zum «Randalieren» auf der Place de la Nation befunden. Tatsächlich litt er infolge einer längeren und komplizierten Scheidungsgeschichte unter Alkoholproblemen, blieb dabei aber stets politisch (beim antifaschistischen Netzwerk «Ras l'front») und gewerkschaftlich engagiert, und zwar in gewaltloser Form. Offenkundig war Cyril also keiner der «Randalierer», die entweder (oft oberflächliche) anarchistische Ideen haben oder aber Banlieuejugendliche (und mitunter durch eigene Erfahrungen mit täglicher Polizeigewalt motiviert) sind, die am Samstag abend auch auf der Place de la Nation anzutreffen waren. Stattdessen zeichnet sich eher folgender Hergang der Ereignisse ab: Die CRS-Bereitschaftspolizisten hatten sich schlicht und einfach den Erstbesten geschnappt, der zwischen den «Fronten» der Auseinandersetzung stand oder aller Wahrscheinlichkeit nach sogar eher am Boden saß, um an ihm ein Mütchen zu kühlen. Dass es sich dabei um Cyril handelte, der kaum noch aufrecht stehen konnte, spielte offenkundig keine Rolle. So sagte der Fotograph Alexandre Tsitouridis, zitiert in 'Libération', folgendes aus: «Ich habe ihn vor den CRS sitzen gesehen, friedlich. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorging. Die CRS sind um ihn herum. Ich sehe ihn nicht mehr. Auf dem Bild danach liegt er am Boden.» Und sein Berufskollege Bruno Stevens erklärte dazu: «Vor der Ankunft der CRS (Anm.: die zu diesem Zeitpunkt in Richtung Mitte der Place de la Nation vorpreschten) entfernten sich die Leute, wobei sich die Menge auseinander zerstreute. Er ist geschnappt worden. Er hat einen Schlag direkt auf den Kopf abbekommen. Er ist wie eine schwere Masse zusammengebrochen. Sie (die CRS) fuhren damit fort, ihn zu schlagen, während er am Boden lag. Aber wirklich stark! Ich habe mich genähert, um um den Polizisten zu sagen: 'Aber sehen Sie/seht Ihr nicht, dass er bewusstlos ist!'» Eine über dem Text stehende Aufnahme des Fotographen Damien Fellous zeigt tatsächlixh auch Cyril Ferez, der (so die Bildunterschrift, «durch eine CRS-Einheit getreten und geschlagen wird, die gleichzeitig einen Regen von Wurfgeschossen abbekommt». Konkret sieht man einen Beamten, der direkt über Cyril - welcher sich die Hände schützend über den Kopf hält - gebeugt steht, während die Körperhaltung der anderen CRS-Polizisten unklar ist oder ihre Gesichter in Richtung mutmaßlicher «Randalierer» gewandt sind. Auf dem nächsten Bild desselben Fotographen sieht man den offenkundig Bewusstlosen der Länge nach ausgestreckt, über den sich ein Erste Hilfe erstattender Demonstrant - dessen Gesicht durch eine Gasmaske geschützt wird - gebeugt hält. Ein weiterer Augenzeuge, Pascal Charles, der als «Mitglied eines Antirepressionskollektivs » vorgestellt wird, bestätigt ein weiteres Mal die Schilderung: «Die CRS bekamen Steinwürfe ab, während sie schlugen. Ich hatte den Eindruck, dass sie ihn (auch) traten. Als sie sich entfernten, hatte ich den Eindruck, dass sie einen Sack zurückließen.» Laut der SUD PTT-Gewerkschafterin Sandra Demarcq, die durch zahllose Presseorgane (darunter 'Le Nouvel Observateur') zitiert wird und dem Verfasser ferner persönlich bekannt ist, haben die eingesetzten CRS-Beamten Cyril keine Erste Hilfe geleistet - sondern zunächst halfen ihm «zwei junge Studentinnen», die dann die Feuerwehr holten. Diese verpassten Cyril circa 20 Minuten nach den Vorfällen, gegen 20.10 Uhr, einen Halsverband. Dieser Moment führte in ersten Darstellungen zu Falschinformationen aufgrund einer Verwechslung mit einem ersten Zusammentreffen Cyrils mit den Feuerwehrleuten, das über eine Stunde früher erfolgte. Zu diesem Zeitpunkt wurde Cyril, der lediglich eine kleine Beule hatte, von Mitdemonstranten zum Rettungswagen der Feuerwehr gebracht, verweigerte jedoch ärztliche Hilfe - er profitierte von einem Moment, an dem zwei ernster Verletzte präsentiert wurden, um sich wieder abzusetzen. Die beiden Momente wurden zunächst in einigen Darstellungen miteinander verwechselt oder vermischt. Aber die vorliegenden und zum Teil durch die Presse veröffentlichten Fotos schaffen Klarheit: Bei der ersten Begegnung Cyrils mit den Feuerwehrleuten war noch Tageslicht am Himmel, während es um 20.10 Uhr bereits stockfinster war. Anderen Berichten zufolge verweigerte die CRS-Einheit, durch die Cyril nach den vorliegenden Berichten allem Anschein nach misshandelt wurde, ihm Erste Hilfe - allerdings kümmerte sich eine Viertelstunde später ein sich als Sanitäter präsentierender Bereitschaftspolizist einer zweiten, anderen CRS-Kompagnie um ihn. Um 21.14 Uhr dann wurde Cyril Ferez in die Notaufnahme des nahe gelegenen Krankenhauses Saint Antoine eingeliefert. Den Informationen von 'Libération' in ihrer Mittwochsausgabe zufolge hatte Cyril zu diesem Zeitpunkt sein Bewusstsein wieder erlangt, und Anwesende musste ihm klar machen, wie ernst sein Zustand in Wirklichkeit war, den er selbst offenkundig unterschätze. Sichtbar litt der Mann unter einem größeren Bluterguss am Kopf. In der darauf folgenden Nacht erfolgte der Fall ins Koma aufgrund fortschreitender Gehirnblutungen. Am Dienstag abend publizierte die General-Dienstinspektion der französischen Polizei (IGS), die für interne Ermittlungen über Verfehlungen des Polizeiapparats zuständig ist - Kritiker werfen ihr jedoch des öfteren Verwischungstaktiken vor -, den Bericht eines Sanitätsbeamten der CRS. Dieser gibt an, beim Abstransport von Cyril Ferez durch die Feuerwehr anwesend gewesen zu sein. Und er behauptet «opportunerweise» (so der Kommentar von 'Libération'), dass Cyril Ferez ihm erklärt habe, «dass die Aggression, der er zum Opfer fiel, auf keinen Fall von den Sicherheitskräften ausging. Er hat mir gegenüber zugegeben, einen Streit mit anderen Demonstranten gehabt zu haben, die ihn angegriffen hätten.» Diese Version wird allerdings bisher durch nichts anderes als diese Aussage eines Polizeizeugen belegt. Das Szenario darum herum Der hauptstädtische Protestzug benötigte am Samstag Stunden, um in voller Länge den Auflösungsort - die Place de la Nation, im Südosten von Paris - zu erreichen. Immerhin waren rund 200.000 Menschen an diesem Tag auf dem Asphalt. (Das französische Innenministerium sprach im Anschluss offiziell von «80.000 Teilnehmern laut Polizei», doch der Wochenzeitung 'Le Canarc enchaîné' vom heutigen Mittwoch ist zu entnehmen, dass interne Einschätzungen der Pariser Polizeipräfektur selbst sich auf «170.000 bis 200.000 Personen» beliefen. Der Hubschrauber mit statistischer Apparatur wurde demnach am Samstag absichtlich am Boden gelassen, «damit wir hinterher erzählen können, was wir wollen.») Noch während mehrere Tausend DemonstrantInnen unterwegs waren, fing die Bereitschaftspolizei CRS an, kurz nach 19 Uhr den Platz unter Einsatz von Tränen- oder pfefferaltigem Reizgas zu räumen. Ein Teil der DemonstrantInnen strömte deshalb kurzzeitig von dem Platz zurück auf den Boulevard Diderot, der zum Endpunkt der Demonstration führte, bevor der Rest des Protestzuges (in dem sich auch der Autor dieser Zeilen befand) dann aber doch bis zum Auflösungsort vordrang. Dort explodierten nochmals einige Tränengasgranaten, bevor die CRS - ihr Name bedeutet «Republikanische Sicherheitsgarden»- ab circa 19.45 Uhr den Platz gewaltsam zu räumen begannen. Bis dahin war den nachströmenden DemonstrantInnen Gelegenheit gegeben worden, sich in die Métrostation auf der Place de la Nation zu retten und einen der abfahrenen Métrozüge zu nehmen. Doch die Station musste dann dicht gemacht werden, da Tränengas schwerer ist als Luft und sich daher in der Untergrundbahn in konzentrierter Form sammelt. Ab diesem Zeitpunkt entschlossen sich die CRS, in die Mitte des Platzes vorzustoßen und diesen vollständig zu räumen, um die verbliebene Menge in Seitenstraßen abzudrängen. Und wer trägt die politische Verantwortung ? Es stellt sich die Frage nach der politischen Verantwortung. Üblicherweise werden solcherlei «Risikoeinsätze», anlässlich großen Menschenansammlungen, durch den Innenminister persönlich angeleitet. Zwar kann der Oberkommandierende, das ist in diesem Fall der Pariser Polizeipräfekt Pierre Mutz, auf acht Bildschirmen das Geschehen an den Schauplätzen des Eingreifens seiner Einheiten live verfolgen. Aber in einem politisch so wichtigen und sensiblen Kontext wird gerade ein so ambitionierter und hyperaktiver Politiker wie Nicolas Sarkozy es sich wohl kaum nehmen lassen, persönlich ins Geschehen einzugreifen. Anlässlich der Räumung der Sorbonne in der Nacht zum vorletzten Samstag tat Sarkozy genau dies, obwohl er sich noch auf dem Rückflug von den französischen Antilleninseln befand: Mitten in der Nacht leitete er vom Flugzeug zwischen La Martinique und Paris den Einsatz vor mehreren anwesenden Journalisten und erteilte die zentralen Befehle. Danach ließ er sich fortlaufend über die weitere Entwicklung unterrichten. Bisher sucht Sarkozy die politische Verantwortung für den «Zwischenfall», mit schweren Konsequenzen für Cyril Ferez, vom Samstag noch abzustreifen. Die Journalisten von 'Libération' wurden vom Innenministerium, «das sonst so mitteilungsfreudig ist» (so die Zeitung), auf die Pressedienste der Pariser Polizeipräfektur, also an untergeordnete Stellen, verwiesen. Artikel von Bernard Schmid, Paris vom 22.03.2006
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