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Updated: 18.12.2012 16:07
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Frankreich zwischen der "Kaufkraft"rede von Nikolas Sarkozy und neuen Angriffen auf das Arbeitsrecht

Kleine Serie zu den neoliberal inspirierten Umbrüchen in Frankreich (und den gesellschaftlichen Reaktionen) - Teil 1 von 4

"Rekodifizierung": Am gestrigen Dienstag schrieb das französische Parlament das Arbeitsgesetzbuch um. Hinter einer "technischen Operation" steht ein brisantes Vorhaben

Es geht um alles andere als eine bedeutungslose Kleinigkeit. Dennoch wäre die Operation durch die Öffentlichkeit beinahe unbemerkt geblieben. Hätte nicht ein Teil der Presse am gestrigen Dienstag doch noch die Kurve gekriegt: Die liberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde' , die sozialdemokratische Tageszeitung ,Libération' und vor allem die KP-nahe Tageszeitung ,L'Humanité' widmeten dem Thema gestern endlich eigene Artikel. "Zu kompliziert" für die breite Leser- oder Hörerschaft sei das Thema, hatten die wichtigsten Medien zuvor befunden, "zu technisch", kurz: uninteressant für das Gros des Publikum.

"Massaker am Arbeitsgesetzbuch"

"Massaker am Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) unter allgemeinem Schweigen" hatte der prominente Arbeitsinspektor - d.i. ein Aufsichtsbeamter, der über die Einhaltung der für die Lohnabhängigen geltenden Rechte zu wachen hat - Gérard Filoche am 23. November in einem Gastbeitrag auf den hinteren Seiten von ,Libération' gewarnt. (Vgl. Artikel in der Liberation externer Link). Sicher, Filoche ist ein Original - früher einmal Trotzkist, heute ein "unangepasster" und kämpferischer linker Sozialdemokrat - und liebt die griffige, knalligen Formulierungen. "Massaker" war vielleicht ein wenig übetrieben. Und doch hatte Filoche das große Verdienst, auf einen wunden Punkt zu zielen, über den zu diesem Zeitpunkt kaum jemand sprach. Fast ausschließlich kleine linke Medien und Gewerkschaften hatten sich bis dahin über die Operation "Recodification", also über das Umschreiben des Code du travail oder Arbeitsgesetzbuchs, Gedanken gemacht und sie ihrem Publikum mitgeteilt.

Seit Ende 2004 war die Operation ,Recodification' zur Neugestaltung des französischen Arbeitsgesetzbuchs im Gange. Am gestrigen Dienstag hat die Nationalversammlung, das Unterhaus des französischen Parlaments, das entsprechende Gesetz dazu angenommen: Es lässt die Notverordnung der Regierung ( ordonnance ) vom 12. März 2007 in Kraft treten. Bei einer solchen Abstimmung wird nur über die Annahme oder Ablehnung des Texts der Regierungsverordnung - die im Falle einer Zustimmung dann Gesetzeskraft erhält - debattiert, nicht aber über den Inhalt der Maßnahme selbst. Das Gesetzgebungsverfahren auf dem Umweg über solche ,ordonnances' , das faktisch die Ausschaltung des Parlaments als Debattenorgan erlaubt, erwies sich in den letzten Jahren als beliebtes Mittel für bürgerliche Regierungen bei der Verabschiedung "unpopulärer" Maßnahmen. Beispielsweise wurde der berüchtigte "Neueinstellungsvertrag" CNE, der den Kündigungsschutz in hohem Maße aushebelt, auf dem Wege einer im Hochsommer durch die Regierung verabschiedeten und später vom Parlament "ratifizierten" (so der amtliche Begriff) ,Ordonnance' vom 2. August 2005 lanciert.

Ein allgemeiner Prozess und die Probleme, die er im Konkreten aufwirft

Die "Rekodifizierung" oder breit angelegte Umgestaltung des französischen Arbeitsgesetzbuchs ist keine Operation, die allein und ausschließlich das Arbeitsrecht beträfe. Im Jahr 1989 hatten sich die Regierungen und die Experten des Rechtssystems auf eine allgemeine Maßnahme der ,Codification' geeinigt, also darauf, bislang über Einzelgesetze oder heterogene Gesetzessammlungen verstreute Bestimmungen nunmehr in Gesetzbüchern übersichtlich zusammenfassen. Dort, wo es bereits solche vereinheitlichenden Gesetzbücher gibt (wie etwa den 1973 veröffentlichten ,Code du travail' im Arbeitsrecht), sollten diese vereinfacht und "für die Anwender des Rechts" übersichtlicher gestaltet werden. So weit, so nobel die Absicht.

Nur besteht beim Arbeitsrecht das besondere Problem, dass bei jeder einzelnen Bestimmung gewöhnlich zwei unterschiedliche, ja einander entgegengesetzte Interessen aufeinandertreffen. Denn die unterschiedlichen Artikel des Arbeitsgesetzbuchs stellen nichts anderes das als Abbilder des in einem bestimmten historischen Moment "geronnenen" und festgeschriebenen Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital. Deshalb gibt es kein neutrales Publikum von "Rechtsanwendern", vielleicht einmal abgesehen von Rechtstechnikern wie den RichterInnen oder den AnwältInnen, die lediglich daran interessiert sind, das Dossier für ihren jeweiligen Mandaten möglichst einfach zusammenstellen zu können. Aber die Sicht des "Arbeitnehmers" und des "Arbeitgebers" auf die jeweilige Regelung können stark voneinander abweichen. Beide können jeweils ein Interesse daran haben, dass die Regeln möglichst verständlich und übersichtlich ausfallen, da ihr Sinngehalt sich ihnen ansonsten zu entziehen droht, so dass sie auf Dienste der o.g. "Techniker/innen des Rechts" zurückgreifen müssen. Aber die Komplexität ist eben auch ein Produkt des Zusammenpralls unterschiedlicher oder mitunter antagonistischer Interessen, deren "Aussöhnung" (auf Zeit) oder "Kompromiss" sich in unterschiedlichen Phasen der Sozialgeschichte des Landes unterschiedlich gestaltet.

In den letzten Jahren sind es vor allem die Unternehmen und ihre Personalabteilungen, die Berater der Arbeitgeber usw., die den Standpunkt des "Rechtsanwenders (und -konsumenten)" für sich reklamieren: Aus ihrer Sicht ging und geht es vor allem darum, im Sinne größtmöglicher wirtschaftlicher Effizienz keine Zeit mit einem Wirrwarr aus Regeln zu verlieren. Zwar haben auch die Lohnabhängigen ein Interesse daran, dass die Bestimmungen ihrem Verständnis möglichst zugänglich sind. Aber die jeweilige Interessenlage, der jeweilige Horizont ist ein völlig anderer. Deshalb gibt es auch keine "Neutralität", keinen interessenneutralen Standpunkt "der Anwender".

"Experten" am Werk(eln)

Die ,Recodification' wurde aber vorwiegend unter dieser Prämisse durchgeführt, und v.a. durch eine fünfköpfige Technokratenkommission von Experten aus dem Arbeits- und Sozialministerium durchgeführt. Ihnen ging es mutmaßlich gar nicht einmal darum, BEWUSST die Rechtspositionen der abhängig Beschäftigten zu schmälern, sondern um eine vermeintlich rein technische Operation.

Aber das Ergebnis ist keineswegs "neutral". Und übersichtlicher als das alte Arbeitsgesetzbuch ist das neue zudem auch nicht: Vorher wies es 271 Abschnitte auf, jetzt sind es 1.890 ; zuvor waren es 1.891 einzelne Artikel, nun sind es ihrer 3.652.... Dahinter steht die Regel, dass es nur noch "eine Idee pro Artikel" geben dürfe, und man die langen Gesetzesartikel auf mehrere aufsplitten müsse. Nicht unbedingt eine üble Idee "an und für sich", aber auch nicht gerade ein Beitrag zur Reduzierung der "übergroßen Komplexität"... An der Zeichenzahl gemessen, ist das Arbeitsgesetzbuch nun um 10 Prozent kürzer geworden.

Das Ergebnis

Das Hauptproblem liegt darin, dass hinter der Fassade einer vermeintlich "interessenneutralen" Operation - die sich laut Angaben des Ministeriums "bei gleichbleibendem Niveau der Arbeitnehmerrechte" ( à droit constant ) vollziehen sollte - durch Umschreiben, Umstellen, sprachliche Umformulierung sich Sinnänderungen und Veränderungen bei der möglichen Auslegung der betroffenen Regeln ergeben.

Beispielsweise wurden alle Regeln, die Formulierungen wie "der Arbeitgeber muss." oder "der Arbeitgeber ist verpflichtet." enthalten, diese Satzkonstruktion durch den Indikativ Präsens ausgetaucht: "Der Arbeitgeber informiert den Betriebsrat." statt: "Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den Betriebsrat zu informieren." usw. Unter Juristinnen und Juristen gilt die Konvention, dass eine solche Formulierung eine Verpflichtung ausdrückt. Aber "Otto Normalverbraucher" bzw. der oder die "gewöhnliche" Lohnabhängige, aber auch Arbeitgeber versteht das unter Umständen nicht so, zumal ihm oder ihr die unter JuristInnen geltende Konvention mutmaßlich nicht bekannt ist.

Auch der Standort einer Regel im Gesamtwerk eines Gesetzbuchs ist wichtig. Insbesondere bei der Auslegung einer Bestimmung durch den Richter ist dies von hoher Bedeutung, da er aus der Platzierung einer Regelung in einem Kapitel des Gesetzbuchs (oder einem Gesamtzusammenhang aufeinanderfolgender Bestimmungen) ableiten kann, wie eine Formulierung im konkreten Falle auszulegen ist.

So wurden die Artikel zur Arbeitszeit nunmehr in demselben Kapitel platziert wie jene zu Lohn- und Gehaltsfragen. Dies lässt sich genau so auslegen, dass die Arbeitszeitregeln in einem Verhältnis zur Lohnpolitik stehen, dergestalt, dass verlängerte Arbeitszeiten gegen eine höhere Entlohnung "ausgetauscht" werden können. Genau dies entspricht exakt dem Sinn von Nicolas Sarkozy Wahlkampfparole (,Travailler plus pour gagner plus' , also "Mehr arbeiten um mehr zu verdienen) ebenso wie seiner Rede zur "Kaufkraftproblematik" vom vorigen Donenrstag - dazu später Ausführliches. "Es hätte einen völlig anderen Sinn gehabt, die Regeln zur Ausdehnung der Arbeitszeiten etwa im Kapitel zum Gesundheitsschutz für die abhängig Beschäftigten zu platzieren", erklärt dazu der Arbeitsrechtler und Hochschullehrer in Lyon, Emmanuel Dockès, in der gestrigen Ausgabe von ,Libération' .

An weiteren Beispielen, die in ähnliche Richtung weisen, mangelt es nicht. Die Regeln zur betriebsbedingten Kündigung wurden im ersten Kapitel über "INDIVIDUELLE Arbeitsbeziehungen" (statt im zweiten, dem über "KOLLEKTIVE Arbeitsbeziehungen) platziert. Bedeutet dies, dass es der dominierenden Logik zufolge nicht mehr darum gehen soll, die Rechtfertigung betriebsbedingter Kündigungen auf Unternehmensebene zu überprüfen - mit dem Ziel ihrer Vermeidung, wo möglich, etwa durch Umsetzung auf andere Stellen im Gesamtunternehmen? Sondern nur noch darum, die individuellen Rechtsfolgen der Kündigung für den einzelnen betroffenen Arbeitnehmer abzuwickeln? Eine gute Frage, vor allem vor dem Hintergrund einer aktuellen Tendenz in der Rechtsprechung.

Ebenso, wie eine andere gute Frage lautet, ob etwa die Platzierung des Streikrechts im Kapitel über Kollektivverhandlungen (entspricht im Deutschen grob dem Begriff "Tarifverhandlungen") etwa bedeutet, dass die Ausübung des Streikrechts nur noch an solche Verhandlungen im Unternehmen gekoppelt sein soll. Oder soll es gar so ausgelegt werden, dass die Modalitäten der Ausübung des Streikrechts selbst Gegenstand von Verhandlungen und von "sozialparnterschaftlichen" Abkommen sein können?

Fragen über Fragen. Und an manchen Stellen wüsste man schon gern, was die Autoren der Neufassung des Arbeitsgesetzbuchs sich dabei gedacht haben. Da es aber keinerlei öffentliche Debatte über ihr Wirken, und nicht einmal eine parlamentarische Debatte über dessen Ergebnis gegeben hat, wird man es unmittelbar wohl nicht erfahren.

Bernard Schmid, Paris, 06.12.2007

Aktueller Nachtrag vom 7. Dezember 2007

Entgegen vorherigen Erwartungen - sowohl im Regierungslager als auch auf Seiten der Kritiker - ging die "Ratifizierung" der Regierungsverordnung, welche das Arbeitgesetzbuch "umschreibt" und dessen gesamte innere Logik über den Haufen wirft, doch nicht so einfach vonstatten. In allerletzter Minute war die etablierte Linke doch noch aufgewacht und hatte ihre Abgeordneten mobilisiert, während die konservative Regierungspartei UMP die Bedeutung des Ereignisses (zum Gutteil) glatt verschlafen hatte.

Seitens der UMP-Abgeordneten schien man davon auszugehen, dass es sich tatsächlich nur um ein rein "technisches" Votum handele, das keinerlei öffentliche Aufmerksamkeit errege und nur geringe Beachtung verdiene. Deswegen blieben die Parlamentarier des Regierungslager am Mittwoch in großer Zahl der Abstimmung fern.

Die parlamentarische Linke hingegen hatte ihre Leute besser mobilisiert. Eine Handvoll ihrer Abgeordneten, insbesondere die Parlamentarierin der grünen Partei (die ihrem linken Flügel angehört) Martine Billard, hatten tatsächlich inhaltlich ernsthafte Arbeit zum Thema geleistet. Über 200 Änderungsanträge waren von ihrer Seite vorgelegt worden, von denen einige sogar die Zustimmung der Regierungsvertreter im Parlament erhielten: Nachdem bestimmte (mehr oder minder skandalöse) "Ungeschicklichkeiten" bei der Neufassung des Arbeitsrechts einmal öffentlich an- und ausgesprochen worden waren, konnte man sie nicht einfach stehen lassen. So wären infolge eines solchen Ungeschicks beinahe die Rechte der abhängig Beschäftigten bei betriebsbedingten Kündigungen beinahe z.T. über die Wupper gegangen. Einfach vergessen, den Artikel aus dem alten Arbeitsgesetzbuch auch ins neue zu übernehmen...

Am Ende der Beratungen wies dann der Vorsitzender der "sozialistischen" Parlamentsfraktion, Jean-Marie Ayrault, genüsslich auf die geringe Zahl der anwesenden Abgeordneten vor allem aus dem Regierungslager hin. Auf seinen Antrag wurde daraufhin die Beschlussunfähigkeit festgestellt. Die Abstimmung über die Neufassung des Arbeitsgesetzbuchs wurde darum auf den kommenden Dienstag, 11. Dezember vertagt.

Dies gibt den Gewerkschaften und der Linken unterschiedlicher Schattierungen nun ein paar Tage Zeit, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für das, was da de facto (und vielleicht ohne bewusste böse Absicht) auf dem Spiel steht, zu erwecken. Bislang hatte keinerlei öffentliche, ja nicht einmal parlamentarische Debatte zu diesem breit angelegten Projekt der Neufassung des französischen Arbeitsgesetzbuchs stattgefunden - das als vermeintlich rein technische Operation präsentiert hatte, obwohl der Inhalt es faktisch in sich hat.

Bei den Gewerkschaften, manchen zumindest, und den ArbeitsrechtlerInnen war man sich der Bedeutung des Ganzen dennoch bewusst. So war der Verfasser bereits im Februar 2006 zu einer Tagung von Arbeits- und Sozialjuristen mit einem Rechtsexperten der CGT eingeladen worden. Nun gilt es, das Bewusstsein darüber auch über diese "gewöhnlich gut unterrichteten" Kreise hinaus zu wecken. Ein "Experte" der rechtssozialdemokratischen CFDT (die einmal mehr unangenehm auffällt...), der an diesem Dienstag in ,L'Humanité' zitiert wurde, zeigte sich dagegen mit dem aktuell verfolgten Umschreibeprojekt insgesamt hoch zufrieden: Diese vereinfache das Arbeitsrecht und verleihe ihm größere Klarheit na, dann schlaf mal weiter, Du rechtsgewerkschaftlicher Schnarchsack... (Aktuell im Le Figaro externer Link oder bei Le Verts externer Link)


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