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Updated: 18.12.2012 15:51
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"1968 in Paris - Ein Jahr im Wandel der Wahrnehmung"

Man kann ein Thema totschweigen, oder es zumindest versuchen. Aber im Zeitalter des Internet ist es schwierig, alle Informationen zu einem gegebenen Thema zu unterdrücken oder die Leute am Zugang zu ihnen zu hindern. Man kann ein Thema jedoch genauso gut auch totreden, es unter einer Flut von Informationen und Veröffentlichungen begraben oder die Reflexion durch eine kaum zu bewältigende Masse an Bildern und Eindrücken behindern.

Genau dies passiert im Augenblick mit der Erinnerung an ein historisches Ereignis, das sich in diesem Monat zum 40. Mal jährt.

1968, ein kurzer Rückblick

Langweilig - so begann in Frankreich das berühmte Jahr 1968. Jedenfalls, wenn man damals der Pariser Abendzeitung Le Monde Glauben schenken durfte. Diese titelte am 26. Januar jenes Jahres: Quand la France s'ennuie (Wenn Frankreich sich langweilt). Einige Monate später sollte es dann doch noch spannender zugehen: In den ersten Maitagen wurden im Quartier Latin die Autos zu Barrikaden geschichtet. Am 13. des Monats demonstrierten rund eine Million Menschen in Paris und noch einmal so viele in "der Provinz" gegen die Polizeigewalt, die in der und rund um die Sorbonne gegen demonstrierende Studentinnen und Studenten gewütet hatte. Hunderttausende riefen: "10 Jahre sind genug", unter Anspielung darauf, dass genau ein Jahrzehnt zuvor - am 13. Mai 1958 - der Präsident Charles de Gaulle durch einen Militärputsch im damals noch französischen Algier (und seine anschließende Legalisierung durch das Parlament in Paris) an die Macht gekommen war.

Es war der Auftakt zu einem Generalstreik, an dem auf seinem Höhepunkt acht bis neun Millionen Arbeitende teilnahmen. Und genau darin liegt der Unterschied zwischen den meisten Nachbarländern und der Situation in Frankreich, wo der breiteste Ausstand im Kontext der damaligen weltweiten Ereignisse (Proteste gegen den Vietnamkrieg und gegen die westliche Unterstützung für Diktatoren wie den Schah von Paris, Infragestellung überkommener Autoritäten.) stattfand und wo die Revolten am stärksten auf die abhängig Beschäftigten in Betrieben und Büros übergriff. Anders als etwa in Westdeutschland oder Westberlin konnte man deshalb in Frankreich keineswegs - allein - von einer "Studentenbewegung" oder "Jugendrevolte" sprechen. Und darin liegt bis heute der zentrale Unterschied in der Bedeutung der "'68er Ereignisse", betrachtet man die realen Vorgänge jener Zeit und nicht ausschließlich ihren Widerhall in der Erinnerung späterer Perioden oder der Jetztzeit - um die es im Folgenden gehen wird.

Die altehrwürdig-verknöcherte Sorbonne wurde Wochen lang zum Schauplatz wild entbrannter Besetzerdebatten. Ihre Mauern waren über und über mit Wandzeitungen wie in der chinesischen Kulturrevolution bedeckt. Auch im Odéon-Theater nächtigten junge Leute wochenlang. Einen Monat später katapultierten, ein paar Kilometer außerhalb von Paris, die Renault-Arbeiter von Flins Schraubenbolzen auf die anrückende Polizei, um die Räumung des besetzten Werks zu verhindern. Auf Seiten der Verteidiger ertrank ein Gymnasiast (Gilles Tautin) beim Sturm auf die Fabrik. Bei der nachfolgenden Demonstration im Zentrum von Paris verzeichneten die Chronisten 400 Verletzte, 1.500 Festnahmen und die Errichtung von 72 Barrikaden. Im jurassischen Montbéliard fielen Schüsse rund um die Peugeot-Werke. Ereignisreiche vier Wochen nahmen ihr Ende.

Das famose Jahr 1968 in der Rückbeschau

Für die Linke unterschiedlicher Schattierungen ist der Mai 1968, kaum dass die Tage des Aufruhrs zu Ende gingen, zum positiven Bezugs- und Kristallisationspunkt geworden. Die radikale Linke hat sich im und durch den Mai 1968 für die kommenden anderthalb Jahrzehnte neu formiert (obwohl sie sich, jedenfalls in Frankreich, bereits zuvor auf einen harten Kern von Theoretikern und Aktivistinnen stützen konnte, der sich u.a. aus der internen Kritik an den stalinistischen Strukturen der KP sowie aus dem Kampf gegen den Kolonialkrieg in Algerien nährte). Mit allem, was dazu gehört: Kiffer und Kader, Aktivisten und Anarchisten, Spinner und Spitzel...

Aber in den letzten Jahren, und im Gegensatz zu den selbst noch rebellisch geprägten Siebzigern - als das Erbe des französischen Mai in den Augen der Mächtigen noch eine unmittelbaren politische Gefahr darstellte - , ist eine starke Tendenz zur "Folklorisierung" der damaligen Ereignisse festzustellen. Letztere verkommen zum bloßen Abziehbild, das die damalige Realität zum Teil verwässert und "verharmlost" darstellt (die Revolte wird auf das Tragen des Minirocks und die Entdeckung der Anti-Baby-Pille reduziert), zum Teil auch heroisch überstilisiert - vor allem dort, wo es um die Selbstdarstellung der "Veteranen" von damals geht. "1968 ist, wenn Steine pfeifen und es kracht", könnte das Motto der letztgenannten Version lauten. In beiden Varianten aber wird die damalige Revolte entrealisiert, ihres politischen Inhalts und ihrer sozialen Dimension beraubt: Eine rauschende Fete, die letztendlich doch harmlos ausging, im einen Falle - oder ein scheinbar bedrohliches und in Wirklichkeit faszinierendes, ein paar Wochen andauerndes Feuerwerk im anderen.

1988 - 1998 - 2008

Im Wechsel der Jahrzehnte hat sich die nachträgliche Rezeption des Mai 68, vor allem aus Anlass der allfälligen (insbesondere "runden") Jahrestage, gewandelt. Vergröbert lassen sich die jeweiligen Tendenzen ungefähr so darstellen:

1988 führte der Jahrestag der Ereignisse - die zehn Jahre zuvor noch "zu frisch" schienen, um der Historie einverleibt zu werden - erstmals zu einer breiteren öffentlichen Debatte. Letztere war damals allerdings überwiegend eine Angelegenheit der politischen Linken, in ihren unterschiedlichen Ausformungen. Während ein Flügel der Diskursanten den Anlass "zwanzig Jahre 1968" dazu nutzte, um sich selbst zu feiern - unter der damaligen "sozialistischen" Präsidentschaft François Mitterrands (so die Legende) sei man dabei, die Ideale von einst nun in die Wirklichkeit umzusetzen - , setzten andere Kräfte darauf, die radikale Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft zu erneuern. 1988 war etwa das Jahr, in dem das epochale zweibändige Werk zur Geschichte der französischen radikalen Linken vor und seit "dem Mai" von Hervé Hamon und Patrick Rotman unter dem Titel ,Génération' erschien. Darin wurden alle unterschiedlichen Strömungen, ihre jeweiligen Geschichte, aber auch die individuellen Biographin zahlreicher Aktivisten und Vordenker in einer umfassenden Gesamtdarstellung nachgezeichnet.

Zehn Jahre später hatte sich das Bild bereits gewandelt. Zwar gab es auch dieses Mal noch Stimmen aus der Linken, die sich auf die radikale, sozialkritische Dimension des Mai 1968 bezogen und aus ihrer Herausarbeitung einen Impuls für eine aktuelle Gesellschaftskritik gewinnen wollten. So stellte der französische Trotzkist Alain Krivine, der im darauffolgenden Jahr (Juni 1999) für die Dauer eines fünfjährigen Mandats zum Europaparlaments-Abgeordneten gewählt wurde, im Frühjahr 98 folgenden Merksatz auf: "Heute gäbe es noch hundert mal Gründe, zu rebellieren, als es damals gab. Wir hatten keine Massenarbeitslosigkeit, kein Tschernobyl und keinen Le Pen." Aber das war nicht die Mehrheit der Stimmen, die in den späten Neunzigern zum Jahrestag laut wurden.

Die (im weiteren Sinne) linksliberalen Medien, wie die Pariser Tageszeitung ,Libération' und die Abendzeitung ,Le Monde' , füllten schon ab Ende März 1998 ihre Seiten regelmäßig mit Hinweisen auf den sich ankündigenden Jahrestag bzw. Gedenkmonat. Im darauffolgenden Mai erfreuten sie gar täglich mit einer Doppelseite über die Ereignisse, die "heute vor 30 Jahren" geschehen waren. Selbst die eher bürgerliche Regenbogenzeitschrift ,Paris-Match' druckte bereits im April desselben Jahres über mehrere Dutzend Seiten hinweg Fotoreportagen aus dem heißen Pariser Mai ab. Der Tenor, der dabei in den dominierenden Teilen der Medienlandschaft überwog, lautete: "Die 68er Stundenten und ihre Ideen haben heute gewonnen." Der Mai 1968 wurde auf die studentischen künftigen Modernisierungseliten als Träger eines Innovationsschubs reduziert. Alle sonstigen, in der allgemeinen Regimekrise jenes Monats aufgebrochenen (und oft darüber hinausweisenden) Aufbrüche und gesellschaftlichen Widersprüche wurden ignoriert. Mit Ausnahme der sexuellen Befreiung, vor dem Hintergrund jenes Muffs, der "davor" im Hinblick auf die gesellschaftliche Sexualmoral herrschte. Am 2. Mai 1998 - am Vorabend war in Brüssel die Entscheidung über die Europäische Währungsunion gefallen - zog ein Leitartikel in ,Le Monde' beispielsweise jene reichlich groteske Parallele: "Von einer ,Revolution' zur anderen: Vor 30 Jahren war es die Straße. Heute ist es der Euro. Trotz bedeutender Unterschiede - das Frankreich von 1968 hatte eine Periode langanhaltenden Wirtschaftswachstums, das Europa von 1998 hat über 20 Jahre wirtschaftlicher Schwierigkeiten hinter sich - ist die Revolution von 1998 sehr wohl ein Erbe der Revolte des Mai 1968. Mit dem Mauerfall 1989 und dem Ende des realen Kommunismus ist einer von den beiden Fäden, an denen die 68er Bewegung hing, gerissen. Der andere, intakt gebliebene, ist jener des Appells an die Phantasie, an die Erfindung der Zukunft und an die Träume von Brüderlichkeit." Wobei die liberale Abendzeitung die letztere in Gestalt des EU-Projekts auf der Bühne des aktuellen Geschehens wiederzuerkennen glaubte.

Zwar gab es damals in Frankreich auch noch Konflikte zwischen den oben skizzierten, unterschiedlichen Ansätzen. Jedenfalls weitaus mehr als in der Bundesrepublik Deutschland, wo zur selben Zeit die Selbstzufriedenheit der soeben zur rot-grünen Führungselite gewordenen "Achtundsechziger" überwog, bevor ab 2001 mit einer konservativen Diskursoffensive gegen Joschka Fischers Streetfighter - und Daniel Cohn-Bendits angebliche pädophile Vergangenheit (vgl. den Artikel ) ein Rollback im öffentlichen Debattieren einsetzen sollte. So verübte die anarcho-syndikalistische CNT im Mai 1998 an der Universität Nanterre - dem Ort seines seinerzeitigen aufrührerischen Wirkens - ein "Tortenattentat" auf Daniel Cohn-Bendit, der ihr zufolge im Laufe der Jahre zum Anpasser geworden war.

Und selbstverständlich gab und gibt es auch die, oft larmoyant vorgetragene, Kritik von rechts am "Kulturbruch" 1968. So stand etwa dreißig Jahre danach im konservativen ,Figaro Magazine' , aus der Feder des schwülstig-patriotischen und leicht durchgeknallten Schriftstellers Paul-Marie Couteaux zu lesen: " Diese Bewegung, die links sein wollte, hat den Triumph des Geldes und der Medien gesichert." Zugleich sei die Bewegung in erster Linie gegen die Werte wie den Patriotismus und die Familie "und allgemein gegen die klassische französische Zivilisation" gerichtet gewesen. Noch härtere Vorwürfe ("Subversion", "Zerstörung der Nation") kamen vom rechtsextremen Front National. Aber beide Phänomene, sowohl die linke Kritik am sich herausschälenden liberalen und den "positiven Modernisierungsschub von damals" unterstreichenden Mainstream als auch der offene rechte Revanchismus gegen ihn, wurden bereits in der Debatte von 1998 ansatzweise marginalisiert.

Heute sind sie, jedenfalls auf der Ebene der Massenmedienwelt, zu Randerscheinungen geworden. Der erstgenannte, apologetische und zugleich den "Inhalt von 1968" teleologisch auf eine "Modernisierungsleistung" festlegende, Debattenstrang hat sich fast vollständig durchgesetzt. Auch ist der larmoyante Jammer von ehemaligen Linken, die ihre Wandlungsfähigkeit unterstreichen möchten, indem sie die damalige Rebellion im Stile von Götz Aly als fanatisch, totalitär und gar potenziell faschistisch darstellen (vgl. den Artikel ), in Frankreich so gut wie nicht zu hören. Und wo er auftaucht, bleibt er bedeutungslos.

Mai im Februar

In diesem Jahr fingen die Fortsetzungsserien, etwa in der sozialliberalen Tageszeitung ,Libération' , zur 40. Wiederkehr der Ereignisdaten zum Teil schon im Februar an. Und in den letzten Wochen hat dieses Herangehen an den Mai 1968 die Stadt Paris auch optisch geprägt: Anfang Mai etwa hatte ein Buchladen in Steinwurfweite von der Pariser Oper, in einer wahnwitzig teuren und bourgeois geprägten Wohngegend, sein gesamtes riesiges Schaufenster ausschließlich mit Werken zum Mai 1968 ausstaffiert. Ähnliches lässt sich in manch anderen Büchershops beobachten. Allein 80 Bücher sind in den letzten Wochen zum Thema erschienen. Fast keine Foto- oder Musikzeitschrift, die nicht seit Ende April ihre Titelseite der 40. Jährung der Maiereignisse gewidmet hätte. Das Magazin ,Témoignage Chrétien' (Christliches Zeugnis) setzte Anfang Mai eine Schlagzeile zu "Die Christen und der Mai 68" auf ihre Titelseite - was noch nicht völlig absurd ist, da ihre linkschristlichen Vorläufern in der Opposition der 60er Jahre durchaus eine Rolle spielten.

Vollends absurd wurde es, als das neoliberal-bunte Wochenmagazin ,Challenges' , das vor allem Wirtschaftsthemen behandelt, seine Ausgabe vom 1. .5. dieses Jahres mit der Schlagzeile aufmachte: "Ihr Mai 1968 - ,Ich erinnere mich'". In der aufwändig präsentierten Story kommen Führungskräfte wie der der sterbenslangweilige wirtschaftsliberale Ideologe Alain Minc, der konservative Sozialpolitiker und Sarkozy-Berater Raymond Soubie oder der frühere Bankenpräsident Jean Peyrelevade zu Wort, neben ihnen auch die CGT-Gewerkschaftssekretärin Maryse Dumas. Nicht alle, aber so manche von ihnen waren damals "Rebellen". Heute ist das in aller Regel weniger der Fall. ,Challenges' zieht unterdessen, im redaktionellen Teil, einen gewagten Vergleich: Im Mai 1968 habe Frankreich eine verkrustete konservative Sozialstruktur aufgewiesen (was tatsächlich zutrifft) - und heutzutage sei dies wieder der Fall, da Frankreich den neoliberalen "Reformen" gegenüber ängstlich verschlossen bleibe. Und das Blatt zitiert den, längst vom Anarchisten zum bürgerlichen Konformisten gewandelten Daniel Cohn-Bendit, der in eine ähnliche Richtung denkt: "Was heute noch aktuell bleibt, das ist die Allergie der französischen Gesellschaft gegenüber Veränderungen. Nach 40 Jahren haben wir noch immer nicht den Schlüssel zur Modernisierung der französischen Politik gefunden."

Cohn-Bendit übertrifft sich selbst

An anderer Stelle, etwa in seinem am 3. April dieses Jahres in Frankreich publizierten Buch ,Forget 68' , hatte Cohn-Bendit allerdings dafür plädiert, dass heute - anders als damals - kein Rebellentum mehr vonnöten sei, da inzwischen "unsere Ideen doch gewonnen" hätten. Cohn-Bendit wählt darin als Beispiel für den Siegeszug der revolutionären Ideale von einst eine Begebenheit, die sich im Stadtrat von Frankfurt/Main zutrug, zu Zeiten, als er selbst dort in den frühen 90er Jahren als Multikultur-Dezernt amtierte. In einer Debatte rief ein CDU-Mann ("katholisch, gläubig, sehr nett") ihm zu, das Problem sei aber doch der Islam, "weil der die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, und damit die Basis unserer Demokratie, nicht akzeptiert". Cohn-Bendit sieht sich dadurch vom vermeintlichen politischen Gegner darin bestätigt, dass "68 gesiegt" habe, denn in den sechziger Jahren sei die Gleichberechtigung der Frauen etwa in Frankreich noch nicht so hoch gehängt worden. (Vgl. den Artikel ) Konformistischer ließ sich die aktuelle Situation wirklich nicht deuten.

Gewerkschaftliche Profilierungsversuche

Da dürfen alle möglichen linken oder halblinken (mit und ohne Anführungszeichen) sowie gewerkschaftlichen Kräfte natürlich nicht abseits stehen. Bei so viel allgemeinem, auf allen Kanälen verbreitetem Enthusiasmus über "68" veröffentlichten etwa die Publikationen der beiden wichtigsten französischen Gewerkschaftsverbände, CGT und CFDT, in den letzten Wochen größere Berichte über das Verhalten ihrer jeweiligen Organisation.

Geradezu vorbildhaft und voll in die Bewegung integriert, wenn nicht gleich an ihrer Spitze marschierend, fiel demnach ihre damalige Rolle aus. Das mangelt nicht an Pikanterie, denn zumindest die CGT-Spitze wollte damals den Streik - dessen Führung ihr "aus den Händen geglitten" schien - nach einigen Tagen so schnell wie möglich abwürgen. Ihr Generalsekretär Georges Séguy wurde am 27. Mai 1968 im zentralen Renault-Werk von Billancourt von Tausenden ausgepfiffen, als er gekommen war, um zur Wiederaufnahme der Arbeit einzuladen. Das ,CFDT Magazine' seinerseits veröffentlicht im Mai 2008 eine Geschichte über "die CFDT damals und heute, stets der Emanzipation verpflichtet". Pech nur, dass sie so hingebogene Kontinuitätslinie beim besten Willen keine ist, hat doch die seit den späten achtziger Jahren rechtssozialdemokratisch und pro-neoliberal geleitete Gewerkschaftsführung einen radikalen Kurswechsel bei der CFDT eingeleitet. Mit diesem Kurswechsel ging der Austritt von insgesamt weit über 100.000 Mitgliedern (von insgesamt rund 600.000) einher. Und die ehemalige Generalsekretärin der CFDT, Nicole Notat, ist seit ihrem Abgang im Jahr 2002 als Unternehmensberaterin tätig - laut ,Challenges' vom 1. Mai 2008 wird sie derzeit auch "häufig vom Elysée-Palast", also Nicolas Sarkozy, "zu den Reformen konsultiert". Da bot die CFDT im Mai 1968, die damals links von der stalinistisch verknöcherten CGT angesiedelt war und für neue, alternative Ansätze offen war, doch noch ein erheblich anderes Bild!

Rechte Gegnerschaft zu "68" erschöpft sich allmählich - da unnötig?

Die Pariser Abendzeitung Le Monde konstatiert in einem Leitartikel vom 26. April: "Das Anti-68-Denken erschöpft sich". (Vgl. den Artikel ) Die Kritik von rechts am damaligen "Kulturbruch" ist zwar eigentlich inzwischen - zumindest theoretisch - in der französischen Politik an der Macht. Denn der Inhaber des höchsten Staatsamts, Nicolas Sarkozys, hatte am 29. April 2007 auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs bei einer Großveranstaltung lautstark gefordert, endgültig "das Erbe des Mai 1968 zu liquidieren", ihm den Garaus zu machen. (Vgl. den Artikel ) Denn er habe die Arbeitsmoral im Lande verdorben und dadurch die Grundlagen der Gesellschaft unterminiert, er habe "glauben machen wollen, dass der Schüler genauso viel zählt wie der Lehrer" und deswegen nichts mehr zu leisten brauche, er habe alle Autoritäten angegriffen. Aber in der derzeitigen Phase der Erinnerung an "40 Jahre danach", in deren Verlauf sich Sarkozy bisher nicht (mehr) öffentlich zum Thema geäußert hat, überwiegt auch auf der politischen Rechten eher ein anderer Standpunkt. Abgesehen natürlich vom obligatorischen Mosern vom ganz rechten Rand (vgl. den Artikel ).

Der Generalsekretär von Nicolas Sarkozy Regierungspartei UMP, Patrick Devedijan, etwa gibt die derzeit zumindest in den Medien vorherrschende Position wieder, wenn auch er betont: "Der Mai 68 hat den Eintritt Frankreichs in die Modernität bezeichnet." (Vgl. den Artikel ) Wobei der Mann lediglich vergisst, hinzufügen, dass er damals noch irgendwo anders stand als die (angeblichen) "Modernisierer": Devedjian gehörte damals zu der rechtsextremen Schlägertruppe ,Occident', die im Juni 1968 nach einigen Zwischenfällen verboten wurde. Allerdings kehrte er ihr schon kurz vor ihrer Auflösung den Rücken. Denn Devedjian war von der Polizei wegen einer gewalttätigen Strafexpedition seiner Kumpanen gegen linke Studierenden und Vietnamskriegsgegner an der Universität Rouen, die im Dezember 1967 einen Schwerverletzten forderte, vernommen worden. Devedijan hatte ausgepackt, wurde daraufhin von seinen Kameraden jedoch nackt ausgezogen und in einer Badewanne gefoltert, bevor er über den Balkon fliehen konnte. So erzählt es Frédéric Charpin in seinem Standardwerk über die extreme Rechte der 60er Jahre und ihre inzwischen zu den Konservativen gewanderten Köpfe, ,Génération Occident' ; das Buch erschien 2005.

Die revanchistische Rhetorik der notorischen Nörgler gegen alles, was mit der Chiffre "1968" verbunden wird, aus dem konservativen Lager erweist sich im Moment in der Sache als saft- und kraftlos. Denn zumindest an einem Punkt geben die meisten Beobachter einer Anmerkung recht, die - unabhängig voneinander - sowohl Cohn-Bendit in seinen Tiraden in Buchform, als auch die linksliberale Wochenzeitung ,Charlie Hebdo' (in einer Story unter dem Titel "Was wäre Sarkozy ohne 1968?") und der zu den Unterstützern Nicolas Sarkozy übergelaufene Schriftsteller André Glucksmann tätigten. Alle wiesen nämlich darauf hin, dass es "vor 68" schlichtweg nicht denkbar gewesen wäre, dass ein doppelt geschiedener und zum dritten Mal verheirateter Staatspräsident - wie Nicolas Sarkozy es nun einmal ist - amtiert hätte. Tatsächlich herrschte im Schatten von "Tante Yvonne", Charles de Gaulles prüder und bigotter Präsidentengattin, eine äußerst drückende Sexualmoral; bis im Dezember 1967 (und seit 1919) waren noch alle Verhütungsmittel in Frankreich gesetzlich verboten. Der Umbruch rund um die Systemkrise vom Mai 68 hat solcherlei Veränderungen sicherlich beschleunigt und unterstützt - die letzten Ausführungsdekrete zur ,Loi Neuwirth' , also jenem Gesetz, das die Verhütung freigab, wurden Ende 1972 verabschiedet.

Ein neuer Mai ist möglich?

Aber sollte das wirklich alles gewesen sein, was die gesellschaftliche Schlagkraft des Mai 1968 und die Zielsetzungen der daran (aktiv) Beteiligten betrifft? Ein Zweifel sei, trotz eines sich rund um die Betonung solcher Dimensionen herausschälenden neuen Konsens, doch erlaubt. Ihn teilen aber auch viele Französinnen und Franzosen. So veröffentlichte die KP-nahe Tageszeitung ,L'Humanité' am 13. Mai eine interessante Umfrage. Die Zeitung - die Fortsetzungsserien zur Geschichte des Frühjahr 1968 veröffentlicht - tut ihrerseits heute so, als habe die hinter ihr stehende Partei die damalige Bewegung vollauf unterstützt. Während Letztere in Wirklichkeit darum bemüht war, sie tunlichst abzuwürgen. Auch unter dem Druck der sowjetischen Botschaft in Paris, die lieber den "Anhänger einer neutralen nationalen Außenpolitik" de Gaulle als die "pro-atlantische" französische Sozialdemokratie in Paris am Ruder sehen und also keine Regierungskrise wollte - diese und andere Hintergründe wurden freilich jüngst bei einer Versammlung der Lesergesellschaft ,Les Amis de l'Humanité' in Anwesenheit von Zeitzeugen aufgerollt und durchaus kritisch diskutiert.

Aber die Ergebnisse ihrer Umfrage sind insofern interessiert, als ihr zufolge 78 Prozent der Befragten die Periode rund um den Mai 1968 als eine "Zeit des sozialen Fortschritts" betrachten. 65 % sehen demnach in den damaligen Ereignissen sowohl den Generalstreik als auch die "Studentenrevolte", "alle beide" als bedeutsamste Ereignisse an (18 Prozent nennen nur den Massenstreik, 11 % allein die Studentenbewegung). Und immerhin 62 Prozent geben eine bejahende Antwort auf die Frage, "ob eine soziale Bewegung vom Ausmaß des Mai 68 sich heute in Frankreich ereignen könnte".

Jenseits des Mediendiskurses, für den die Chiffre "1968" nur Kiffen und Minirock und vielleicht noch ein paar fliegende Steine bezeichnet, scheint also doch etwas von der realen Wirkungskraft der Ereignisse hängen geblieben zu sein.

Und die politische Linke? Sie zeigt sich ihrerseits bemüht, genau diese Botschaft in einer Reihe von frisch erschienen Büchern und Publikationen sowie in zahlreichen Veranstaltungen in Paris und anderen Städten zu unterstreichen. Es kann fast von einem Überangebot allein an linken Anlässen die Rede sein. (Zum Veranstaltungskalender dazu im Raum Paris vgl. http://www.mai-68.org/ ). In den Massenmedien geht sie damit, angesichts der erdrückenden Fülle konformistisch aufbereiteter Bild- und Textinformationen, momentan weitestgehend unter. Dennoch bieten die zahlreichen linken Veranstaltungen, mit ZeitzeugInnen und VertreterInnen aktueller sozialer Bewegungen, auch gute Gelegenheit zur Analyse und zur Kritik der heute bestehenden Verhältnisse. Insofern ist der von "1968" ausgehende Impuls nicht völlig verschüttet. Nur sollte man wohl besser nicht auf einen Daniel Cohn-Bendit und auch nicht auf die Massenmedien hoffen, um diese Kritik zu erneuern.

Bernard Schmid, Paris, vom 19.05.2008, zuerst gekürzt erschienen auf telepolis vom 17.05.2008


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