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Updated: 18.12.2012 15:51
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Französische Banlieues: Nach dem Nullsummen-Plan für die Sozialghettos von Präsident Sarkozy jetzt: Spektakuläre Verhaftungswelle am Montag und Dienstag

Es ist noch knapp drei Wochen hin bis zu den französischen Kommunalwahlen vom 9. und 16. März, und die konservative Regierungspartei UMP versucht ihren erwarteten Fall aufzufangen, indem sie das Thema "Innere Sicherheit" lanciert. Bestandteil der ideologischen und medialen Operation sind zweifellos auch die spektakulär durchgeführten Verhaftungen, die am Montag früh im Morgengrauen, am Montag mittag sowie am späten Vormittag des heutigen Dienstag stattfanden. Mit ihnen soll den Unruhen, die im November 2007 infolge des Todes zweier Jugendlicher - bei denen die Polizei eine wichtige, und bisher bezüglich näherer Einzelheiten ungeklärte Rolle gespielt hat - in der Vorstadt Villiers-le-Bel ausgebrochen waren, auf den Grund gegangen werden.

Die Frau Staatsanwältin zeigte sich selbst beeindruckt. "Ich habe noch nie eine Polizeioperation solchen Ausmaßes gesehen" erklärte die Anklagevertreterin aus der Bezirkshauptstadt Pontoise, Marie-Thérèse Givry, die am Montag ihre erste Pressekonferenz nach den Durchsuchungen in einem McDonalds-Restaurant (sic!) der Pariser Banlieue abhielt. 1.100 Uniformträger, unter ihnen 100 Polizisten des mit der deutschen GSG9 vergleichbaren Elitekommandos RAID, das fast in seiner Gesamtheit an dem Einsatz teilnahm, hatten zuvor am Montag früh, ab kurz vor 6 Uhr, Wohnungen in der 10 Kilometer nördlich von Paris gelegenen Vorstadt Villiers-le-Bel durchsucht. Auf der Suche nach Heranwachsenden und jungen Erwachsenen, die in den Nächten vom 25. bis 27. November 2007 an den heftigen Unruhen und dem gewaltsamen Vorgehen gegen Polizisten teilgenommen hatten. (Vgl. http://www.labournet.de/internationales/fr/ghettokollision.html)

Bei ihnen waren damals 119 Polizisten verletzt worden, von ihnen 75 durch Beschuss mit Schrotmunition. Die meisten trugen freilich letzte Verletzungen davon, fünf bzw. sechs (je nach Angaben) wurden hingegen ernsthaft verletzt, und in einem traurigen Fall verlor ein Beamter ein Auge. Voraus ging der tragische Tod zweier Jugendlicher, heranwachsende Franzosen marokkanischer und senegalesischer Herkunft, die auf einem motorschwachen Crossmotorrad ( mini-moto ) mit einem Polizeiauto kollidiert waren. Die Sicherheitskräfte sprechen von einem Unfall, bei dem die beiden Jugendlichen die Schuld trügen, deren ,mini-moto' von links her kommend in das Polizeiauto hinein gefahren sei. An dieser Version bestehen nach wie vor erhebliche Zweifel. Dagegen spricht vor allem der Zustand des Wagens, der auf der ganzen Vorderseite beschädigt ist und Spuren einer schweren Kollision trägt. Doch während die Suche nach den Teilnehmern an den in der Folge ausgebrochenen Unruhen offenkundig mit großen Schritten voran kam - die Polizei spricht von der Identifikation der "Ziele" ihrer jüngsten Operation, wie sie sich ausdrückt, aufgrund von Kleidungsstücken sowie abgehörter Handygespräche -, konnte die Staatsanwaltschaft am selben Tag keinerlei Angaben über die Recherchen zum Tod zweier Minderjähriger machen.

33 "Ziele" (laut Polizeijargon) wurden am Montag im Morgengrauen in polizeilichen Gewahrsam genommen, zwei weitere gegen Mittag. Die meisten der insgesamt 35 Festgenommenen wurden in Wohnungen in Villiers--le-Bel aufgegriffen, zwei Personen befanden sich allerdings aufgrund anderer Vorwürfe zum fraglichen Zeitpunkt in einer Haftanstalt und wurden von dort zum Polizeiverhör überführt.

Darüber hinaus gelten drei der gesuchten Personen als flüchtig, nach ihnen wird gefahndet. Die Mehrzahl der Betroffenen ist zwischen 20 und 25 alt, nur drei sind minderjährig, wenige sind über 25. Alle sollen wegen kleinerer Straftaten "polizeibekannt" sein. Die Staatsanwaltschaft fügte hinzu, "einige" - deren Zahl freilich unbekannt bzw. ungenannt blieb - seien mehrfach vorbestraft. Alles in allem scheinen aber, im bisherigen Leben, die meisten im schlimmsten Fall "kleine Fische der Kriminalität" gewesen zu sein.

Am Dienstag um die Mittagszeit wurde bekannt (vgl. http://www.lemonde.fr/web/depeches/0,14-0,39-34372217@7-37,0.html externer Link), dass zwei weitere Personen in einer anderen Pariser Banlieue - in Champigny-sur-Marne, südöstlich der französischen Hauptstadt - festgenommen worden seien, die verdächtigt würden, im November 2007 in Villiers-le-Bel mit Schrotmunition auf Polizisten geschossen zu haben. Die Agenturmeldung präzisiert jedoch, dass keine Waffe bei ihnen gefunden worden sei und anscheinend auch keinerlei materielle Beweise gegen sie vorlägen, sondern ihre Festnahme auf einer Aussage eines anonym bleibenden Kronzeugen (,témoignage sous X') beruhe. Das Gesetz erlaubt es seit der "Justizreform" des damaligen konservativen Justizministers Dominique Perben von 2004, solche unter den Bedingungen der Anonymität abgegebenen Kronzeugen-Aussagen polizeilich und gerichtlich zu verwerten.

Die Politik hatte im Vorfeld erheblichen Druck auf die Polizei ausgeübt, um Fahndungserfolge vorzuweisen, sowie auf die Justiz, um die schärfste denkbare juristische Qualifikation der Straftaten auszuwählen. Präsident Nicolas Sarkozy hatte öffentlich gefordert, die Urheber der Schüsse mit Schrot vor ein Geschworenengericht zu stellen, also wie Schwerstverbrecher zu behandeln. Und jene Teilnehmer an den Unruhen, die den Kommissar Jean-Claude Illy zusammenschlugen - zweifellos eine kritikwürdige Handlung, da dieser Beamte den Mut aufwies, allein die Diskussion mit Jugendlichen zu suchen, und daraufhin von Einigen brutal misshandelt wurde - sollen wegen "Mordversuchs" belangt werden. Eine völlige überzogene Wertung des Geschehens.

"Man muss den richtigen Moment abwarten", rechtfertigte die Staatsanwaltschaft den Zeitpunkt der Verhaftungen. Die meisten Beobachter fragen sich aber, ob damit der Stand des Ermittlungsverfahrens gemeint ist - oder aber der Zeitpunkt knappe drei Wochen vor den frankreichweit anstehenden Kommunalwahlen, zu dem die Regierungspartei UMP verzweifelt versucht, ihrem Absturz in den Umfragen gegenzusteuern. Und wenige Tage, nachdem Premierminister François Fillon das Thema "Innere Sicherheit" wieder oben auf die Agenda gesetzt hat. Einige Tage auch, nachdem Präsident Nicolas Sarkozy am 8. Februar 08 einen neuen "Plan Hoffnung für die Banlieues" aufgelegt hat, durch den das Publikum sich eher peinlich berührt zeigte - und der sich durch das sensationelle Vorhaben auszeichnet, die Misere der Sozialghettos rund um die französischen Kernstädte ganz ohne unnötige Ballaststoffe, pardon: ganz ohne zusätzliche Geldmittel heilen zu wollen. Le Monde titelte dazu: "Mangels finanzieller Mittel setzt Monsieur Sarkozy auf die individuelle Eigenverantwortung in den Banlieues." Prima, warum war noch niemand zuvor auf diese Wunderlösung gekommen?

Auch äußerst moderate bürgerliche Politiker, die kaum irgendeiner Sympathie für revoltierende oder randalierende Jugendliche verdächtig sind, wie die rechte Sozialdemokratin Ségolène Royal und der Christdemokrat François Bayrou bezeichneten die Durchsuchungswelle vom Montag als reines Medienspektakel und wahlpolitisch motivierten Coup. Als ausgesprochen fragwürdig gilt zudem die Rolle der Medien. Dutzende von Kameraleuten und Übertragungswagen waren unterwegs. Viele von ihnen warteten schon um 5.30 Uhr morgens an den Kreuzungen von Villiers-le-Bel auf den Einsatz. Dieser begann um 5.50 Uhr. Der Bürgermeister von Villiers-le-Bel, der Sozialdemokrat Didier Vaillant, dem ein relativ gutes Verhältnis zur örtlichen Bevölkerung nachgesagt wird, sollte sich darüber beschweren, dass er erst um 6.02 Uhr über den Einsatz informiert wurde - der zu dem Zeitpunkt bereits in vollem Gange war.

Dies alles trägt zu einem erheblichen Unwohlsein des Publikums bei, das sich erst vor einer guten Woche in einer Umfrage zu immerhin 94 Prozent davon überzeugt zeigte, dass es "zu neuen Gewaltausbrüchen in den Banlieues kommen" könne und werde, da nach allgemeiner Auffassung die Ursachen dafür nicht beseitigt sind. (Vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/depeches/social
/20080206.FAP4962/sondage_94_des_francais_jugent_possibles_de_nouvelles_f.html
externer Link) Viele Bewohner von Villiers-le-Bel zeigten sich vor den Kameras über das "Medienspektakel" empört oder angewidert, auch wenn manche von ihnen einen Einsatz zur Suche nach den Urhebern der Unruhen - unter anderen Umständen - durchaus "normal" gefunden hätten. Während die bürgerlichen Medien die spektakulären Aufnahmen vom Aufgebot an Uniformen verbreiteten, gingen im Internet und auf alternativen Medien andere Bilder um. Darauf sieht man die Familie von Lakamy Samoura, des senegalischstämmigen Jugendlichen, der im November auf dem ,mini-moto' starb. Der Vater wird durch Polizisten zu Boden gedrückt. Die Mutter, die ein Baby auf dem Rücken trägt, fällt hinterrücks in einen Sessel und ruft aus: "Einen Sohn habt Ihr mir schon genommen, den anderen bekommt Ihr nicht!" Der Bruder des toten Lakamy, der 22jährige Mamadou, wird am Schluss mitgenommen. Auch wenn er verdächtigt wird, am Angriff auf den Kommissar Illy teilgenommen (genauer: sein Auto abgefackelt, nicht aber ihn geschlagen) zu haben -- was immer er "angerichtet" haben mag, es wird durch die Macht der Bilder und vor dem Hintergrund des Gesamtzusammenhangs gegenstandslos. Das bürgerliche Publikum, das nach Schutz vor den "gefährlichen Klassen" verlangt, hat seine Bilder, die es beruhigen sollen -- und die Anderen, die in die Sozialghettos wohnen, haben die ihren, die ihrem Unmut neue Nahrung geben werden.

Artikel von Bernard Schmid vom 19.2.08


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