letzte Änderung am 28. August 2003

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Von "Guérillac" nach Paris: Fortgang des Kulturstreiks in Frankreich (FOTOREPORTAGE)

Das hatten die EinwohnerInnen von Aurillac, der höchst gelegenen (und im Winter kältesten) Kreisstadt Frankreichs, wohl noch nie erlebt. Die Bezirkshauptstadt des Départements Cantal in der südlichen Auvergne beherbergt seit 1986 das französische und internationale Festival für Straßentheater, das alljährlich ­ in diesem Jahr zum 18. Mal ­ in Aurillac stattfindet. Doch in diesem Jahr war so einiges anderes, die Stadt wurde gar zum "Guérillac"  ausgerufen. Freilich kam die Guerilla ohne bewaffnete Einsätze aus.

Nicht allen EinwohnerInnen ist die Festivaltradition Recht, wie dem Klima in der Stadt anzumerken ist. "Die Geschäftsleute sind froh, weil ihr Umsatz während einer Woche im Jahr drastisch anwächst. Aber viele Einwohner dieser eher konservativen und ländlichen Gegend haben Unbehagen ­ vor den Langhaarigen, den vielen Hunden, den Drogensüchtigen und allem, was in ihren Augen da mit dem Festival auf ihre Stadt zukommt", erzählt uns eine Dame, die uns vom Bahnhof bis zum Zeltplatz (das Sportstadion wurde extra zum Festival in ein Camping-Area umgewandelt) in ihrem Auto mitnimmt. Sie selbst lebt erst seit 10 Jahren in der Stadt, weil sie ihrem Mann folgte, der als Augenarzt hier eine Stelle fand, aber vermisst die heimische Provence durchaus. Die Leute hier seien eher misstrauisch, allerdings keineswegs aggressiv oder offen rassistisch, setzt sie hinzu.

In den letzten Jahren hat sich das Straßentheaterfestival, das tatsächlich ein teilweise alternativ geprägtes Publikum anzieht, allerdings doch zum festen Bestandteil des Lebens, in der Stadt entwickelt. Endlich einmal ist etwas los in Aurillac, denken die Einen, die jetzt immer zahlreicher selbst an den Darbietungen teilnehmen. Und die Anderen denken daran, dass Restaurants und Spezialitätengeschäfte ihren Umsatz um ein Vielfaches multiplizieren ­ der Autor kann bestätigen, dass sich der Abstecher auch gastronomisch lohnt.

Doch einige Besonderheiten prägten den diesjährigen August in Aurillac. Die seit dem 27. Juni ­ dem Tag nach dem Abschluss des "sozialpartnerschaftlichen" Abkommens zur Reduzierung der Unterstützung für prekäre Kulturschaffende (siehe LabourNet vom 9. Und 10. Juli 03) ­ anhaltende Streikwelle im Kulturbetrieb machte dieses Jahr auch in Aurillac Station. War das Festival, das vom 20. bis 23. August angesetzt war, doch das erste größere Kulturereignis nach der streikbedingten Absage fast aller größeren Kulturfestivals im Juli (mit Ausnahme der "Vielles Charrues" in der Bretagne) und einer kurzen hochsommerlichen Hitzepause. Deswegen waren ab Mitte August zahlreiche Augenpaare auf die kleine Stadt in der Auvergne, die rund 33.000 Einwohner zählt, gerichtet.

Mobilisierung zum "großen Schrei"

Bereits während des Widerstandsfestivals auf dem Larzac-Plateau, vom 8. bis 10. August, war während der täglichen Vollversammlungen nach Aurillac mobilisiert worden. Auf dem Larzac wurde auch erstmals vor einem breiten Publikum die neueste massenhafte Aktions der Kulturarbeiter lanciert: "Le grand cri" ­ Der große Schrei, der allabendlich vor Rathäusern, Regierungseinrichtungen oder Arbeitgeberverbänden auszustoßen ist, und wie er auch in Aurillac eifrig praktiziert wurde. Zugleich spielten beim Larzac-Aktivistenauflauf viele Gruppen (kostenlos), die entweder für das Festival von Aurillac programmiert waren oder aktiv am Kulturstreik seit Juni teilnahmen, oder oft beides.

Das Festival von Aurillac besteht, wie andere (etwa der Theatersommer in Avignon) auch, aus einem "In" und einem "Off". Das Erstere besteht aus den bereits anerkannten und "etablierten" Gruppen, die programmiert sind und dafür finanzielle Zuwendungen erhalten, etwa aus den Festival-Subventionen. Das sind im Fall von Aurillac insgesamt 14 Gruppen. Das "Off" besteht aus den übrigen Gruppen, die kostenlos und ohne Bezahlung während der Tage des Festivals spielen, weil sie sich erst noch bekannt machen wollen. Um im Programmheft zu stehen, müssen sie in der Regel bezahlen.

Vorgesehen war in diesem Rahmen in Aurillac 400 Gruppen. Davon kam aber in diesem Jahr nur die Hälfte, und 180 von ihnen blieben dem Festival fern ­ sei es, dass sie den Streik unterstützten, sei es, dass sie einen Misserfolg der Veranstaltung erwarteten (einen Rückgang der Besucherzahlen hat es ob der Unsicherheit über den Ausgang wohl tatsächlich gegeben). Da die "Reform" ihre Schatten voraus wirft, bereiten sich viele von ihnen auch bereits auf ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten, ja den Zwang zum Aufgeben vor. Alles in allem befanden sich in der dritten Augustwoche rund 1.500 KünstlerInnen aus dem Bereich des Straßentheaters in der Stadt, allerdings nicht alle gleichzeitig zum selben Zeitpunkt.

Wenn man berücksichtigt, dass an der ersten Demonstration (am Dienstag, 19. August) über 2.000 Personen ­ laut Lokalpresse und eigener Schätzung ­ teilnahmen und an der Demo zum Abschluss (am Samstag, 23. August) nochmals über 1.000 Personen, kann von einem vollen Erfolg der Protestmobilisierung sprechen. Der Streik selbst erfasste das Festival zwar, sollte es aber erklärtermaßen nicht lahm legen. So wurden für jeden Tag bestimmte Tageszeiten von etwa 6 Stunden Dauer festgelegt, während derer nicht gespielt werden sollte. Damit umfasste der Streik rund ein Drittel der Gesamtdauer des Festivals. Jene Gruppen, die dennoch spielen wollten ­ das galt für ein paar der Teilnehmer des "In" - ließ man aber in Ruhe spielen, da eine Verhinderung ihrer Aufführungen gegen ihren Willen explizit nicht angestrebt war.

Den Erfolg machte auch aus, dass vor allem an der "interprofessionellen"   (d.h. Berufsgruppen übergreifenden) Demostration am 19. August auch viele andere Kategorien teilnahmen. So wurde sie angeführt von Transparenten des Inhalts "Kultur(en) in Gefahr", "Landwirtschaft in Gefahr", "Gesundheit in Gefahr", "Öffentlicher Dienst in Gefahr" sowie "... in Gefahr", wobei die drei Pünktchen dafür stehen sollten, dass die Liste der Opfer neoliberaler Politik keineswegs abgeschlossen war. Vorne gingen LehrergewerkschafterInnen (von SUD und FSU) sowie rund 20 Teilnehmer eines Fußmarschs, der vom Larzac-Plateau ­ am letzten Tag des Widerstandsfestivals ­ aus los lief und 700 Kilometer weit nach Paris führt. Unterwegs machen die MarschierInnen vielerorts Station, um Widerstandspotenziale anzusprechen und zu bündeln. Ihnen folgte die CGT-Eisenbahnergewerkschaft von Aurillac, die für ein ganz auschauliches Protestmotiv mobilisierte: Der Nachtzug von Aurillac nach Paris soll, wegen "mangelnder Rentabilität", ersatzlos gestrichen werden.

Hinter ihnen folgte der Zug der Kulturschaffenden und der "spectateurs solidaires", der solidarischen Zuschauer. Die wurden von den flammend roten Fahnen, mit aufgenähten Masken- und anderen Kulturarbeitersymbolen, der Truppe "Jolie Môme" angeführt (SIEHE FOTOS). Diese seit 1983 bestehende Musik- und Theatergruppe, deren Name ungefähr "Süßes Kind" bedeutet, bildet einen festen Bestandteil der radikalen Linken im Pariser Raum. Sie aktualisierte zahlreiche revolutionäre Lieder und Symbole, übernimmt häufig die Animation bei diversen Demonstrationen, brachte jüngst eine heftig politische CD heraus und spielt (neben anderen) eine wichtige Motorenfunktion im Kulturstreik.

Mannigfaltige Aktionen

Aber auch mannigfaltige andere Aktionen fanden zwischen dem 19. und dem 23. August in Aurillac statt. Am Rathaus wurde mittels Schildern die Stadt in "Grevillac" (von grève, Streik) und "Guérillac" umbenannt. Eine Guerilla zirkulierte auch tatsächlich täglich durch die Stadt, die so genannte "armée de l`art" (Armee der Kunst) mit schwarzen Kappen à la Subcommandante Marcos und Militärparkas, in der ­ statt Gewehren ­ die jeweiligen Arbeitsgeräte präsentiert wurden: Filmkameras, Masken oder auch Mobiltelefone... Kurz vor Ende des Festivals nahm die "Gueriallarmee" für kurze Zeit den Fesivalleiter, Jean-Marie Songy, symbolisch gefangen, was dieser allerdings nicht sehr krumm nahm.

Am Mittwoch früh schwärmten kleine Gruppen aus, die mit leicht abwaschbarer weißer Farbe Slogans auf das Straße malten ­ teilweise unter den missbilligenden Blicken älterer Einwohner ­ und Werbeplakate überpinselten. An vielen Stellen führten sie eine Art "die-ins" durch: Ein Teilnehmer legte sich, als Repräsentant der "toten Kultur", quer über die Straße, wo seine Körperumrisse in weißer Farbe nachgezeichnet wurden. Dieses Spektakel zog einige Schaulustige an, die das kurios fanden. Und zum Abschluss gab es am Freitag abend, vor der Demo am letzten Tag, noch ein Happening: Aus einem etwas stadtauswärts gelegenen Supermarkt nahmen 700 Personen mehrere hundert ­ leere - Einkaufswagen mit, die in der Stadtmitte zu einer langen Kette zusammengeschoben wurden. Symbol der Kommerzialisierung in der Gesellschaft, aber auch der Notwendigkeit für die Kulturschaffenden, etwas zum Leben zu haben (kostenlose Kollektiveinkäufe in Supermärkten gehören zu den radikaleren Aktionsformen in den Arbeitslosenbewegungen). Und natürlich kam der "große Schrei" allabendlich nicht zu kurz, der sich wachsender Beliebtheit erfreute, auch wenn er die Beteiligten nach einer Viertelstunde etwas atemlos zurücklässt.

Auch die solidarischen ZuschauerInnen kamen nicht zu kurz: Am Mittwoch wurden während der allabendlichen Kundgebung auf dem Marktplatz zwei große rote Fahnen nach vorne geholt. Diese wurden im Anschluss an die Kundgebungsrede (der Hauptredner, ein Karl Marx gleich sehender Schauspieler, forderte, dass "die Bauern die sozialer Forderungen der Postarbeiter, die Postarbeiter jene der Studenten, und die Studenten jene der Kulturschaffenden tragen" müssten) in kleine Streifen zerteilt. Alle Zuschauer, die ihre Unterstützung  für den Streik unterstreichen wollten, und das waren offenkundig doch eine ganze Anzahl, sollten sich während der folgenden Tagen mit diesen roten Arm- oder Stirnbändern, Halstüchern und Streifen zeigen. Das taten denn auch nicht wenige.

Künftige Schritte der Kulturstreiks

Ungefähr zeitgleich zum Festival von Aurillac gerieten zwei andere Festivals unter erheblichen Druck des Streiks, vor allem auch aufgrund der Anwesenheit konservativer Spitzenpolitiker. Im westfranzösischen Sablé-sur-Sarthe musste das Festival für barocke Musik am 20. August annulliert werden. Die ausständischen Kulturschaffenden bedauerten in einer Erklärung die völlige Absage, erklärten allerdings, die Anwesenheit des Sozialministers François Fillon ­ in dessen Wahlkreis die Veranstaltung stattfinden sollte ­ habe entsprechend starken Druck unabwendbar gemacht. In der Kleinstadt Chaise-Dieu in der Auvergne versuchten streikende Kulturschaffende um die gleiche Zeit zunächst, das Festival für barocke und religiöse Musik von außen zu behindern. Unmittelbarer Grund war, dass es in der Hochburg des jetzigen Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei UMP (und früheren Sozialministers) Jacques Barrot stattfinden sollte. Dafür reisten auch mehrere Dutzend Aktive aus dem 50 Kilometer entfernten Aurillac an. Der Versuch einer Behinderung von außen scheiterte zwar. Allerdings sorgte der Druck dafür, dass die beteiligten Künstler "drinnen" einen Freiraum erhielten, um ihrem eigenen Protest Ausdruck zu verleihen. Denn obwohl hier einige der besten Spezialisten für barocke Musik versammelt waren, stellte sich heraus, dass alle Anwesenden prekäre Künstler und unmittelbar vom regressiven Abkommen zur Kulturarbeiter-Unterstützung betroffen waren. Das eher wohlhabende Publikum ­ die Plätze kosteten im Schnitt 80 Euro ­ sahen sich gezwungen, ihren Ausführungen höflich zu applaudieren.

Mit dem Ende des Festivals von Aurillac ist der Mobilisierung keineswegs die Puste ausgegangen. Die CGT-Kultur und die autonom organisiertn Streikkoordinationen rufen nunmehr für den 4. September zu einem landesweiten Streik- und Aktionstag aller Kulturbeschäftigten auf. Das Datum war ursprünglich auf den 8. September angesetzt, doch dann wurde bekannt, dass am 4. eine hochrangige  Delegation unter Vorsitz des amtierenden Kulturministers Jean-Jeacques Aillagon tagt. Die Sammlung zur Demonstration an jenem Tag beginnt vor dem neuen Hauptsitz des Arbeitgeberverbands MEDEF ­ der soeben umgezogen ist ­ im 7. Pariser Bezirk. Denn "MEDEF und Regierung" werden gemeinsam als "Totengräber der Kultur"  identifiziert.  

Als einzige größere Gewerkschaft unterstützt die CGT die Streikbewegung im Kulturwesen, neben ihr existieren autonome Streikoordinationen. Sie lehnt das "Abkommen" vom 26. Juni dieses Jahres ab, das eine vorherige "sozialpartnerschaftliche" Vereinbarung aus 2000/01 drastisch verschlechert. Bereits 2001 hatte die CGT das, damals durch die sozialliberale CFDT unterzeichnete, seinerzeitige Abkommen nicht unterschrieben.

Zugleich klagen die "Koordination der Kulturschaffenden und Prekären"  des Pariser Raums, und bald auch die CGT-Kultur vor Gericht gegen das Abkommen vom 26. Juni, für welches das Regierungsdekret zur Verbindlich)-Erklärung mittlerweile (am 6. August) im Gesetzblatt erschienen ist. Dabei haben sie sogar reale Chancen, das regressive Abkommen tatsächlich zu Fall zu bringen. Es stellte sich nämlich heraus, dass die ursprüngliche Fassung vom 8. Juli einen Absatz enthält, der ­ aufgrund technischer Fehler ­ in der Form gar nicht in die Praxis umsetzbar wäre. Es geht darin um den Berechnungsmodus für die, prekären Kulturbeschäftigten zustehende Unterstützung. Allem Anschein nach wurde der verkorkste Passus klammheimlich am 23. Juli durch einen anderen, korrigierten Absatz ausgetauscht. Das aber ist völlig illegal ­ im Falle einer Veränderung am Text hätte eigentlich die Verhandlungsmaterie mit allen Organisationen auf gewerkschaftlicher und Arbeitgeber-Seite neu aufgerollt werden müssen. Eine neue Eröffnung von Verhandlungen über das so umstrittene Abkommen aber wollten die Unterzeichner um jeden Preis verhindern. Ein Anzeichen schlechten Gewissens ?

Am 17. August hinterlegte die Streikkoordination eine Klage beim zuständigen Pariser Gericht. Die CGT-Kultur will gleich nach dem Ende der Sommerpause der Justiz eine eigene Klage hinterherschicken. Es gibt einen Präzendenzfall: Vor 10 oder 15 Jahren wurde bereits ein früheres Abkommen aufgrund ähnlicher Fehler geknickt. In diesem Fall aber, im Kontext erheblichen sozialen Drucks, würde ein juristischer Sieg noch ganz andere Folgen nach sich ziehen. Eine Neuverhandlung unter identischen Bedingungen jedenfalls hätte für die jetzigen Unterzeichner einen hohen Preis.

Bernhard Schmid (Aurillac / Paris)

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