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Updated: 18.12.2012 15:51
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Wahlkampf: AKW-Konsens am Ende?

Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Positionierung der unterschiedlichen politischen und sozialen Kräfte und Strömungen im laufenden Wahlkampf über die Frage der Atomenergie - das ist der Artikel "Das französische Atomprogramm im Wahlkampf" von Bernard Schmid vom 12. April 2012.

Das französische Atomprogramm im Wahlkampf

Könnten, je nach Wahlausgang, Änderungen in der bislang "betonharten" französischen AKW-Politik bevorstehen? Rechte, Linke und Gewerkschaften zum Thema....

Eine Pumpe im Kühlkreislauf fiel aus, es brannte, und schließlich musste der Stromkonzern EDF einräumen, dass auch radioaktives Wasser austrat. Doch wie bei Störfällen üblich, hieß es auch nach der Notabschaltung des Atomkraftwerks Plenly (in der Nähe von Rouen) am Donnerstag, den 05. April 12, es habe "keine Auswirkungen auf die Umwelt" gegeben; vgl. http://www.lepoint.fr/societe/penly-aucune-consequence-au-niveau-environnemental-selon-proglio-12-04-2012-1450837_23.php - Umweltschützer/innen, die aus guten Gründen misstrauisch bleiben, bezweifeln dies. Letztendlich wurde der Störfall offiziell auf Stufe 1 - auf einer Skala, die je nach Schwere der atomaren Un- und Zwischenfälle von Null (unbedeutend) bis Sieben (Super-GAU) reicht - eingestuft.

Doch trotz zahlreicher ähnlicher Vorfälle in Frankreich und der Reaktorkatastrophe in Fukushima vom 11. März 11 wurde die Atomkraft"nutzung" lange Jahre hindurch nicht nur von den interessierten Unternehmen, sondern auch von vielen Gewerkschaftern und Linken befürwortet.

Sarkozy lautstark pro AKW

Derart offensiv und unverfroren dürfte sonst kaum ein Staats- und Regierungschef in Europa heutzutage das unbedingte Festhalten am weiteren Ausbau eines Atomprogramms verteidigen. Spätestens seit dem Atomunfall im japanischen Fukushima vor dreizehn Monaten, dessen Konsequenzen der Öffentlichkeit zum Teil noch nicht bekannt sein dürften - erst vor kurzem wurde publik, dass die Regierung Japans am Anfang sogar die Evakuierung des Großraums Tokyo in Erwägung gezogen hatte (vgl. http://www.lefigaro.fr/conjoncture/2012/02/28/20002-20120228ARTFIG00392-fukushima-l-evacuation-de-tokyo-a-ete-envisagee.php) -, ist damit in der Regel Schluss. Auch wenn Regierende an ihrer jeweiligen nationalen Atomindustrie festzuhalten planen, dann tun sie dies eher verschämt, reden nicht allzu viel darüber oder verstecken es scheinheilig hinter Reden über längerfristige Ausstiegspläne. Aggressiv vor den Augen der Öffentlichkeit für ihren Erhalt und Ausbau einzutreten, gilt dagegen eher als passé und taktisch unklug.

Nicht so Nicolas Sarkozy. Anlässlich seiner Großveranstaltung vor rund 50.000 Menschen am zweiten Märzsonntag in Villepinte (vgl. http://jungle-world.com/artikel/2012/11/45068.html ) rief er vor seinen Zuhörern aus, er leiste "einen Schwur". Daraufhin beschwor er sein Publikum: "Ich werde mit derselben Energie" - gemeint war, wie für die Rettung der Arbeitsplätze in der Stahlindustrie - "unsere Nuklearindustrie verteidigen, die von absolut kapitaler Bedeutung für unsere Unabhängigkeit, unsere Wettbewerbsfähigkeit, unseren Wohlstand ist. Schande denen, die die Arbeitsplätze von Zehntausenden im Tausch gegen ein armseliges Wahlabkommen verkauft haben!" (-> http://www.tubbydev.com/2012/03/analyse-du-discours-de-nicolas-sarkozy-villepinte-1103.html )

Sozialdemokratie & Grüne

Mit dem Abkommen war jenes vom November 2011 zwischen der französischen Sozialdemokratie und der Wahlplattform Europe Ecologie-Les Verts (EE-LV), einem Bündnis aus der grünen Partei und ihren linksliberalen oder linksbürgerlichen Bündnispartnern, gemeint. Vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd0112/410112.html - Es sieht vor, den Anteil der Atomenergie am Stromaufkommen von derzeit 74 Prozent bis im Jahr 2025 auf dann noch 50 Prozent zu verringern. Dabei sollen in diesem Zeitraum insgesamt 24 von derzeit im Betrieb befindlichen 58 Reaktor(blöck)en stillgelegt werden.

Konkret sieht die Vereinbarung zwischen Sozialistischer Partei (PS) und EE-LV für die im Mai 2012 beginnende, fünfjährige Amtsperiode des nächsten Präsidenten - sowie die im Juni anfangende Legislaturperiode des nächsten Parlaments von gleicher Länge - allerdings nur die Schließung einer einzigen Atomanlage vor. Und die selbst die taucht in dem "Fahrplan für das erste Jahr im Amt", welchen PS-Präsidentschaftskandidat François Hollande vorige Woche der Öffentlichkeit hat, nicht auf. Darauf wurde Hollande am Abend des Mittwoch, 11. April bei einer TV-Debatte mit fünf der Präsidentschaftskandidat/inn/en auch durch die Journalist/inn/en hingewiesen. Er erwiderte darauf etwas ausweichend, in dem Fahrplan gehe es nur um die allerersten Beschlüsse, die im Falle seines Einzugs in den Elysée-Palast gefällt würden.

Streit um's AKW Fessenheim

Es handelt sich bei dieser "einen" Anlage um das Atomkraftwerk von Fessenheim im südlichen Elsass, in der Nähe des Rheintals. Es wurde bereits im Jahr 1977 ans Netz genommen und läuft damit seit nunmehr 35 Jahren. Ursprünglich war der Betrieb aller Atomanlage nur auf maximal 40 Jahre ausgelegt, wobei die Behörden zu Anfang des Jahres einen Weiterbetrieb über diese Altersgrenze hinaus ins Auge fassten (vgl. http://jungle-world.com/artikel/2012/02/44659.html ). Ihr Weiterbetrieb, und besonders auch jener des AKW Fessenheim als ältester laufender Atomanlage, rief deswegen in breiten Kreisen Sicherheitsbedenken hervor. Und dies auch in den Nachbarländern, denn das AKW liegt nur anderthalb Kilometer von der Rheingrenze zu Deutschland und keine vierzig Kilometer von der schweizerischen Großstadt Basel entfernt. (Vgl. http://www.woz.ch/1120/frankreich/nur-nicht-stressen-mit-dem-stresstest)

Dennoch erteilten die zuständigen Behörden für beide Reaktorblöcke von Fessenheim Genehmigungen für den Weiterbetrieb. Der Block 2 wurde erst jüngst, ab dem 05. März 2012, nachdem er für eine alle zehn Jahre stattfindende Routineinspektion abgeschaltet worden war, erneut hochgefahren; vgl. http://www.lemonde.fr/planete/article/2012/03/07/le-reacteur-n-2-de-fessenheim-remis-en-route-apres-la-visite-decennale_1652935_3244.html

Dieses AKW sei das einzige überhaupt, das im Falle seiner Wahl zum französischen Präsidenten in seiner ersten Amtszeit vom Netz gehen solle, versicherte PS-Präsidentschaftskandidat François Hollande den Befürwortern der Atomkraftnutzung beruhigend. Doch selbst dieses Zugeständnis ist in den Augen mancher seiner politischen Gegner schon viel zu viel. Wie auch in den Augen eines Teils der Beschäftigten, die eine sehr engstirnige Vision von der Verteidigung ihrer Arbeitsplätze zu hegen scheinen. Denn sowohl die französischen Sozialisten als auch EE-LV betonen energisch, der Umstieg von der Atomkraft auf andere Energiequellen solle und müsse notwendig mit der Entwicklung neuer Arbeitsplätze statt ihrem Abbau einhergehen. Diese Stellen würden für die Umstellung der Energieversorgung und die Entwicklung umweltfreundlicher Produktionsweisen ohnehin objektiv benötigt. Um Befürchtungen bezüglich des Verlusts von Arbeitsplätzen einen Riegel vorzuschieben - und nach einem alarmierenden, manchen Stimmen zufolge auch erpresserischen Anruf des Atomkonzerns AREVA bei der Sozialistischen Partei -, wurde im November in das Abkommen beider Parteien noch eine Passage aufgenommen, die das Versprechen noch konkretisiert. Beim anvisierten Abbau der MOX-Produktion, also der Herstellung von Brennelementen aus Uran-Plutonium-Mischoxyd, die proportional zur Verringerung des Atomstromanteils erfolgen soll, müsse das Beschäftigungsniveau konstant bleiben.

Dennoch schrien und schreien viele Beschäftigte gerade des AKW Fessenheim Zeter und Mordio, und bekommen dafür reichlich Gelegenheit, ihren Verdruss in Kameras und Mikrophone hinein zu erklären. Nicolas Sarkozy konnte am 09. Februar 12 bei den Arbeitern in Fessenheim ein Bad in der Menge nehmen. Er wetterte dort gegen jene, die seiner Darstellung zufolge die Arbeitsplätze dort auf "einem grünen Silbertablett im Rahmen schmutziger politischer Geschäfte" verscherbelten. Umgekehrt gestaltete die Übung sich für François Hollande, der seinerseits bereits im Januar dort vorbeischaute und über Beschäftigungskonversion sprach, erheblich schwieriger: Ungefähr vierzig von ihnen buhten ihn aus und erhielten ein riesiges Medienecho dafür. Am 19. März 12 besuchte eine Delegation, bestehend aus Fessenheim-Beschäftigten aus drei Gewerkschaften, die eine siebenstündige Busfahrt absolviert hatten, das Wahlkampf-Hauptquartier François Hollandes in Paris. Wieder wurde der sozialdemokratische Bewerber verbal scharf attackiert. Acht Mitglieder der Delegation wurden bei Hollande empfangen. Während die Sprecher der CGT-Sektion in Fessenheim sich relativ zufrieden zeigten, weil der Kandidat sich für einen schrittweisen statt "brutalen" Ausstieg an ihrem AKW-Standort ausgesprochen habe, machten andere Mitreisende ihrem Unmut Luft. Einer vergleich ihren Gastgeber François Hollande mit Marie-Antoinette, jener selbstzufriedenen Königin, die die Revolution von 1789 nicht kommen sah. Das Treffen wurde jedoch abgekürzt, weil François Hollande das Treffen abkürzte und nach Toulouse eilte, wo soeben die Morde in einer jüdischen Schule (begangen durch den Djihadisten Mohamed Merah, wie sich an den folgenden Tagen herausstellte) stattgefunden hatten.

Gewerkschaften

Allerdings hat inzwischen auch in den Gewerkschaften eine kontroverse Debatte um die Atomindustrie, die lange Jahre hindurch aufgrund des Arbeitsplätze-Arguments und einer in der CGT dominanten Pro-Atomkraft-Position quasi unmöglich war, begonnen. Vierzig Gewerkschaftsmitglieder etwa aus der CGT, der sozialdemokratischen CFDT und den linken Basisgewerkschaften SUD meldeten sich am Donnerstag, den 05. April 12 in der elsässischen Regionalzeitung Dernières Nouvelles d'Alsace zu Wort (-> http://www.dna.fr/environnement/2012/04/05/les-autres-voix-syndicales ). Am Vortag hatten sie einen Aufruf für eine sofortige Stilllegung des AKW Fessenheim unterzeichnet. Das Beschäftigungs-Argument lassen sie nicht gelten, weil auch nach einer Abschaltung der Anlage ihre Sicherung noch lange Jahre hindurch Personal erfordere.

Änderungen auf der Linken

Auch in die politische Linke ist inzwischen ungewohnt viel Bewegung in der Atomkraftfrage gekommen. Traditionell traten allein die französischen Grünen und ein Teil der radikalen Linken - früher die trotzkistische LCR und heute die "Neue Antikapitalistische Partei" (NPA) als ihre Nachfolgerin - für eine Kritik an und den Ausstieg aus der Atomenergie aus. Die zweite größere trotzkistische Partei, "Arbeiterkampf" (LO), dagegen hält und hielt sich an ihre Linie, das Problem sei "die Kontrolle der Industrie durch die Großkonzerne", und die Inhalte der Produktion seien dagegen zweitrangig - Fragen nach Ökologie und Atomenergie etwa also Nebenwidersprüche. Erst jüngst wiederholte die Präsidentschaftskandidatin von LO, die Berufsschullehrerin Nathalie Arthaud, diese Position sinngemäß in ihrer Antwort auf den Fragenkatalog von Le Monde zur Umweltpolitik an die Präsidentschaftsbewerber, welcher in der Ausgabe der Pariser Abendzeitung vom Abend des Ostermontag - 09. April - publiziert wurde. (Originalton: "Lutte Ouvrière ist die einzige politische Partei, die es abgelehnt hat, auf unseren Fragenkatalog zu antworten. Nicht, weil sie dem Umweltschutz feindlich gesonnen wäre. Aber LO erklärt in dem Brief, den die Partei uns zukommen ließ, dass "man nichts lösen können wird, wenn man nicht die großen Unternehmen unter Arbeiterkontrolle nimmt.")

Für die französische KP ihrerseits war die Atomkraftfrage dagegen lange Zeit nicht untergeordnet, sondern ein wichtiges Anliegen. Aber in dem Sinne, dass ihre Verteidigung eine Frage des Fortschritts und der Verteidigung des Lebensstandards Arbeiterklasse sei. (Auch aus historischen Gründen, denn der erste Präsident des französischen "Atomenergiekommissariats" CEA im Jahr 1945 war ein Kommunist, und die Partei machte lange Zeit die "friedliche Nutzung der Atomenergie" zu ihrem ureigenen Anliegen. Auch, weil zunächst ihr Apparat und später vor allem jener des Gewerkschaftsverbands CGT lange Zeit viele Stellen beim -früher einmal staatlichen - Stromversorger EDF besetzen konnte. EDF als Monopulunternehmen in öffentlicher Hand war nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem kommunistischen Energieminister Marcel Paul, der selbst aus der CGT kam, 1946 gegründet und aufgebaut worden. Ab 2004 wurde jedoch unter den amtierenden Rechtsregierungen seine schrittweise Privatisierung eingeleitet.)

Erstmals gewinnt jedoch die Distanz zur Atomkraft in der Linken erheblich an Boden. Jedoch nicht, wie man vor einem Jahr noch hätte erwarten können, durch Terraingewinne der Grünen. Im Gegenteil dümpelt deren Wahlkampf auf jämmerliche Weise vor sich, und die Präsidentschaftskandidatin von EE-LV - Eva Joly - dürfte am Schluss wohl nur rund zwei Prozent erhalten. Die karrieregierige Vorstandsriege ihrer Partei hatte die eigene Kandidatin nämlich quasi erdrosselt, nachdem sie im November 11 das Wahlabkommen mit der Sozialdemokratie abgeschlossen hatte. Darin wurden nämlich nicht nur Vereinbarungen zu inhaltlichen Fragen getroffen - oft nicht sehr im Sinne der Grünen -, sondern auch zu einem extrem frühen Zeitpunkt bereits die Frage der Aufteilung der Wahlkreise bei den Parlamentswahlen im Juni geklärt. Eine Reihe von Mitgliedern der französischen Grünen erklärten dem Verfasser dieser Zeilen, nach dieser Vereinbarung sei in der Partei vielfach erwartet worden, dass Joly ihre Präsidentschaftskandidatur nun zurückziehen werde, und dass diese überflüssig geworden sei. Ein eigener inhaltlicher Spielraum war der Kandidatin gegenüber der Sozialdemokratie nun ohnehin nicht mehr gelassen worden. Seitdem wurde die Kandidatin Joly relativ allein gelassen, und ihr eigenes Ungeschick im Umgang mit Medien trug dazu bei, dass ihre Wahlkampfführung einer schieren Katastrophe gleicht.

Auch die radikale Linke in Gestalt des NPA, die selbst in Strategiefragen zutiefst gespalten und seit einem Jahr quasi handlungsunfähig ist, dürfte bei den Wahlen in diesem Frühjahr bedeutungslos abschneiden. Beide politischen Kräfte, die seit Jahren gegen Atomenergie eintreten, sind damit weitgehend paralysiert. Die Grünen sprechen in Frankreich von einem Ausstieg in 20 Jahren, beim NPA beziffert man den Zeitraum auf maximal zehn Jahre. Ihre jeweiligen Präsidentschaftskandidaten, Eva Joly und Philippe Poutou, hatten beide am Jahrestag von Fukushima im März dieses Jahres an einer Menschenkette zwischen Lyon und Avignon teilgenommen; vgl. http://www.lemonde.fr/planete/article/2012/03/11/une-chaine-humaine-contre-le-nucleaire-entre-lyon-et-avignon_1656172_3244.html - Im Rhônetal, wo eine Reihe von Reaktoren stehen, wurde dabei die Ablehnung von Atomkraft zum Ausdruck gebracht. Doch während Joly nicht über die drei Prozent kommen dürfte, wird NPA-Kandidat Philippe Poutou - ein 44jähriger Automobilarbeiter aus der Region von Bordeaux - wohl im Null-Komma-Bereich bleiben.

Aber die etablierte Linke diesseits der Sozialdemokratie François Hollandes ist ihrerseits in Bewegung geraten. Erstmals seit 1974 hat die französische KP auf eine Präsidentschaftsbewerbung aus ihren eigenen Reihen verzichtet und stattdessen den linken Ex-Sozialdemokraten Jean-Luc Mélenchon ins Rennen geschickt. Er besetzt ungefähr den politischen Platz auf der reformistischen Linken, welcher in Deutschland durch Oskar Lafontaine ausgefüllt wird. Im Unterschied zu Lafontaine stach Mélenchon bislang aber nicht durch Folterbefürwortung - wie Oskar Lafontaine 2003 - oder durch rassistische Sprüche wie jener in der Rede über "Fremdarbeiter" von 2005 hervor. Mélenchon vertritt eher klar antirassistische Traditionen, vermischt mit einer Berufung auf Symbole der Französischen Revolution, viel sozialen Forderungen, einer Prise Antiamerikanismus und einer Dosis Etatismus sowie einer Prise Verteidigung der kubanischen und chinesischen Regimes. Er steht - ohne jedoch ein linker Revolutionär zu sein - für einen Reformismus im besseren Sinne, also im Sinne "echter" Reformen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen (im Kapitalismus). Eine Bedeutung, den der Begriff der "Reform" früher hatte, bevor er geraubt wurde, um ihn zum Synonym für soziale Einschnitte und Rückschritte umzudeuten.

Die Tatsache, dass die Restbestände des historischen Parteikommunismus sich nun sagen können, es sei ihnen gelungen, die seit Jahrzehnten gesuchte Einheit mit linken Sozialdemokraten zu vollziehen, hat der zuvor im Niedergang befindlichen Partei zu neuem Leben verholfen. Auch frühere linke Grüne, seien es Abgeordnete - die linksökologische Parlamentarierin Martine Billard wurde eine der Hauptberaterinnen Mélenchons - oder viele bisherige Wähler der Grünen, haben sich inzwischen an Jean-Luc Mélenchon angenähert.

Während die KP aber kein Wort der Kritik an Atomenergie hören wollte und eher auf rauchende Schornsteine denn an den Sinn von Umweltpolitik glaubte, spricht Jean-Luc Mélenchon auch von "ökologischer Wirtschaftsplanung" und Atomausstieg. Formell haben beide Kräfte - die französische KP und Mélenchons "Linkspartei" (Parti de Gauche), die zusammen mit Abspaltungen der NPA und kleineren Linkskräften die "Linke Front" bildeten - sich auf einen Formelkompromiss einigen können: "Volksabstimmung über Beibehalt der Atomenergie oder Ausstieg". Damit können beide Hauptparteien dieses Front de gauche genannten Allianz offiziell gut leben. Angehörige der "Linkspartei" Mélenchons verteilten bei der Großdemonstration von über 100.000 Menschen zum Jahrestag der Pariser Kommune am 18. März, die zur Kraftprobe der Mélenchon-Anhänger in der Hauptstadt geriet, auch Flugblätter für den Atom-Ausstieg.

Auf der Gegenseite wettert die UMP unter Nicolas Sarkozy gegen solcherlei "gefährliche" Pläne. Am dritten Februarwochenende 2012 in PAris ließ die Regierungspartei etwa Wahlwerbezettel an die Windschutzscheiben geparkter Autos kleben, die die Schocker-Aufschrift trugen: "Gigantischer Sozialplan: 400.000 Arbeitsplätze bedroht!" In solch finsteren Farben malte sie die angeblichen Pläne von Sozialistischer Partei und Grünen aus, und ihre behaupteten Auswirkungen in Sachen Beschäftigung.

Hintergründe im französischen Kapitalismus

Der wahre Grund für die harte Polarisierungsstrategie zu dieser Frage dürfte aber wohl darin liegen, dass das französische Kapital derzeit kein gesteigertes Interesse an so genannten "grünen" Wachstumszweigen hat. Denn während wichtige Fraktionen der deutschen Wirtschaft relativ frühzeitig den Einstieg in so genannte green economy-Branchen vollzogen und dadurch eine weltweite Marktführerposition erobern konnten - bei der Herstellung von Solarzellen wird diese jetzt durch asiatische Firmen bedroht -, hinkt das französische Kapital auf diesem Gebiet weit hinterher. Es setzt also auf jene Wachstumsfelder, auf denen es spezifische eigene Vorteile gelten machen kann. Und die planetare Rekordhalterschaft Frankreichs im Atomenergiebereich soll seiner Exportindustrie daher als Trumpf dienen. So erträumt es sich jedenfalls Nicolas Sarkozy. Dumm nur, dass ihm einige in jüngerer Zeit angeworbene Kunden wie Muammar al-Kaddafi oder Bascher Al-Assad abhanden kamen oder als Käufer auszufallen drohen.

Ein schrecklich netter Atomkandidat.

Nie um eine kleine "Notlüge" - oder eher um eine vermeintlich opportune politische Lüge - verlegen, behauptete Nicolas Sarkozy jüngst sogar, er sei derart für die Auswirkungen des nuklearen GAU in Japan sensibel gewesen, dass er sogar als einziger ausländischer Regierungschef kurz nach der Reaktorkatastrophe "Fukushima besucht" habe. Eine glatte Unwahrheit: Sarkozy hatte sich zwar am 18. März 2012 für die kurze Dauer von drei Stunden die japanische Hauptstadt Tokyo aufgesucht - wo die damalige Chefin des französischen Nuklearkonzerns AREVA, Anne Lauvargeon (inzwischen zugunsten eines Sarkozy-Spezis, Henri Proglio, geschasst), den Japanern das Know-How ihrer Atomfirma zur Unfallbewältigung anzudrehen versuchte. Doch in Fukushima hielt er sich nie auf. Sein Herausforderer bei der Präsidentschaftswahl, François Hollande, grief diese Anekdote jüngst amüsiert auf (vgl. http://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2012/article/2012/04/11/fukushima-hollande-ironise-sur-le-voyage-imaginaire-de-sarkozy_1683592_1471069.html ) Nicht zum ersten Mal übrigens hat Sarkozy sich in die Nesseln gesetzt, indem er sich in historische Situationen hinein fantasierte. So hatte er vor nunmehr zweieinhalb Jahren aus Anlass des Jubiläums zu "zwanzig Jahren Sturz der Berliner Mauer" behauptet, er selbst sei im November 1989 in Berlin dabei gewesen, als die Mauer eingefallen sei. Ebenfalls eine glatte Lüge: Sarkozy hielt sich zwar einige Woche später - eher Ende November '89 - zusammen mit Alain Juppé und anderen bürgerlichen Parteifreunden in Berlin auf, um das Ende der DDR und des sowjetischen Blocks zu bejubeln. Bei dem historischen Moment am 09.11.1989 war er jedoch mitnichten dabei gewesen, wie französische Zeitungen quer durch den Blätterwald alsbald akribisch (und unter Berufung auf Erinnerungen Juppés) nachwiesen...

.und noch einer

Am heftigsten tritt Sarkozy jedoch nicht einmal auf, wenn es darum geht, Pro-AKW-Positionen einzunehmen. Ihn übertrumpft dabei sogar noch ein anderer Kandidat, der 72jährige Jacques Cheminade. Jener träumt nicht nur von einem Ausbau der Atomenergie und einem direkten Übergang in eine gigantische Nutzung der Kernfusion. Geht es nach ihm, wird Frankreich zusammen mit anderen Nationen - dank der dabei gewonnenen riesigen Energiemengen - gleich auch noch einen "Korridor" für ständige Transporte zwischen Erde und Mond schaffen. Und "den Planeten Mars kolonisieren". Bei den Wählern gilt Cheminade mit seinem extremen AKW-, vor allem aber seinem Marsfimmel eher als Exot. Bei seiner letzten Kandidatur zu einer Präsidentschaftswahl, 1995, erhielt er unter 0,3 Prozent der Stimmen. Er vertritt das Imperium des US-Verschwörungstheoretikers Lyndon LaRouche, in Frankreich bekannt unter dem Namen Solidarité & Progrès, in Deutschland als "Bürgerbewegung Solidarität", früher auch "Schiller-Institut" oder "Europäische Arbeiterpartei". Müsste die französische Atomindustrie sich auf ihn verlassen, dann wären wohl auch ihre Tage endlich gezählt.

Vgl. auch: zum Optimismus der französischen Atomindustrie bezüglich ihrer Zukunft: http://www.lemonde.fr/planete/article/2012/03/10/l-industrie-nucleaire-croit-en-son-avenir_1655935_3244.html#ens_id=1493262 und zur Skepsis der öffentlichen Meinung diesbezüglich: http://www.lesechos.fr/opinions/analyses/0201943570771-fukushima-et-les-doutes-du-nucleaire-francais-302041.php Sowie zu einer Rundfunk-Besetzung zum Jahrestag des Reaktorunfalls von Fukushima in Frankreich: http://podcast.blog.lemonde.fr/2012/03/11/incident-nucleaire-sur-france-inter/

B. Schmid,12. April 2012


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