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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Frankreich : Zwei bis drei Millionen demonstrierten am Dienstag gegen die Renten« reform » - Aber wie geht es nun weiter ? Halbherzig ausfallender Beschluss des Gipfels der verschiedenen französischen gewerkschafts-Dachverbände am Mittwoch Nachmittag: Nächster Streik- und Aktionstag am 23. September - Bis dahin wird die Nationalversammlung die «Reform» schon in erster Lesung angenommen haben, ihre Verabschiedung soll am 15. September stattfinden - Manche Gewerkschafter/innen hatten sich einen neuen «Aktionstag» schon kommende Woche erhofft - Dennoch könnte sich die Mobilisierung bis dahin auf hohem Niveau aufrecht erhalten - Die «Zugeständnisse» Nicolas Sarkozys vom Mittwoch, in drei Punkten, überzeugten jedenfalls niemanden Kommt ein Opi mit weißen Haaren und Rauschebart ins Altersheim, und trifft dort auf einen zweiten Opi mit weißen Haaren und Rauschebart. Fragt der erste: "Na, bist Du neu hier im Heim?" Antwortet der zweite: "Ja, ich wurde soeben als Pflegehelfer eingestellt". So wurde die Situation in Frankreich nach der Renten"reform" auf einem Plakat bei der Demonstration an diesem Dienstag (o7. September) in Paris bildlich dargestellt. Solche und ähnliche Zukunftsvisionen bewegten zahlreiche Französinnen und Franzosen im Angesicht der drohenden Renten"reform", deren Entwurf in Bälde im Parlament verabschiedet werden soll. Am Dienstag, vorgestern, begannen die Debatten dazu in der französischen Nationalversammlung, dem "Unterhaus" des Parlaments. Da die Regierung für ihren Entwurf das "Eilverfahren" für Notfallbeschlüsse gewählt hat, wird er im Eiltempo verhandelt - schon am kommenden Mittwoch (15. September) wird die Nationalversammlung in erster Lesung darüber abstimmen. Und aufgrund der "Eilprozedur" wird es, nachdem auch das "Oberhaus" - der Senat - dem Entwurf zugestimmt haben wird, nur noch eine einzige weitere Vorlage in der Nationalversammlung geben. (Im Normalverfahren wären drei Lesungen erforderlich.) Anfang Oktober wird das "Reform"gesetz dann schon unter Dach & Fach sein. Zu seinem Inhalt vgl. unsere Labournet-Ausgabe vom 18. Juni 2010, im Special "Frankreich - Streiken für die Rente". In erwartet großer Zahl, und sogar vielleicht noch darüber hinaus, strömten die Protestierenden am Dienstag dagegen in ganz Frankreich auf die Straße. Allein in Paris demonstrierten laut realistischen Schützungen rund 150.000 bis 200.000 Menschen, auf drei parallelen Demonstrationsrouten (Polizei: "80.000", die Veranstalter sprachen zunächst von 250.000, später war gerüchteweise auch mal von "500.000" die Rede). Einen davon hatte die CGT, die allein rund 60 Prozent der Demonstrierenden stellte, für sich allein gewählt; er führte direkt vom Auftaktort (der Place de la République) zur Place de la Nation, wo der Protestzug sich auflöste. Die, an der Spitze rechtssozialdemokratische, CFDT hatte knapp 10.000 ihrer Mitglieder und Anhänger/innen mobilisieren können. Der Zusammenschluss linksalternativer Basisgewerksdchaften (vom Typ SUD), Union Syndicale Solidaires, stellte in einem sehr kämpferischen Block allein weitere 10.000 Demonstrierende. Frankreichweit bezifferten das Innenministerium die Zahl der Demonstrierenden auf 1,12 Millionen. Seitens der Gewerkschaften gab es ein aufgefächteres Spektrum von Angaben: Die CFDT sprach in einer ersten Reaktion von 2,5 Millionen Teilnehmer/inne/n; die CGT bezifferte sie auf 2,735 Millionen und die Union Syndicale Solidaires auf drei Millionen. In jedem Falle war die Zahl der Demonstrierenden frankreichweit deutlich, um rund 35 bis 40 Prozent, höher als bei der letzten Demonstration zum Thema, die am 24. Juni stattgefunden hatte. Sie lag auch höher als bei den Streiks von November 1995 (gegen den Angriff auf die Rentenregimes in den öffentlichen Diensten) und im Mai/Juni 2003 (gegen die bislang letzte Stufe der allgemeinen "Rentenreform"). Allein die Bewegung gegen die Angriffe auf den Kündigungsschutz brachte in in ihrer Schlussphase, Ende März und Anfang April 2006, noch mehr Menschen auf den Asphalt. Auffällig war - im Fall Paris, aber nicht nur dort - auch die verhältnismä b ig hohe Anzahl von "Normalbürger/inne/n", die offenkundig nicht im Block einer Organisation eingereiht liefen, sondern aus allen Himmelsrichtungen (und oft auch in Gegenrichtung laufend) zu der Demonstration stießen. Neben den üblicherweise bei Gewerkschaftsdemonstrationen stark vertretenen öffentlichen Diensten war auch die Privatindustrie, besonders bei der CGT (chemische Industrien, Renault, Peugeot, Citroën) sowie der CFDT (Metall, eine relativ linke Sektion der CFDT) mit sichtbaren Abordnungen vertreten. Die immer weiter ausufernde Korruptionsaffäre, die den (noch?) amtierenden Arbeitsminister Eric Woerth mit der Steuer hinterziehenden Multi-Milliardärin Liliane Bettencourt verbindet - Labournet berichtete ausführlich -, hat sicherlich dazu beigetragen, den Unmut noch zu steigern. 60 Prozent der Befragten waren in einer Umfrage der Auffassung, der Minister solle den Abgang machen und habe keine Legitimität, um die "Reform" vorzulegen. Doch Nicolas Sarkozy meint offenkundig, auch ein derart "verbrannter" Minister könne noch gut den Kopf hinhalten - so braucht er schon keinen zweiten Minister zu "verschwenden". Aufgrund dieser Konstellation ging das Kalkül der Regierung, die Sommerpause zu nutzen, um den Protest "absacken" zu lassen, überhaupt nicht auf. Ihrerseits waren die Gewerkscharten in der Urlaubszeit nicht untätig geblieben, in Bayonne bspw. kreiste im August ein Hubschrauber über den Stränden und zog ein Transparent hinter sich her, das zur Teilnahme an den Demonstrationen vom o7. September aufrief. 70 Protest der Französinnen und Franzosen unterstützten, laut Umfragen vom Wochenbeginn, den Streik- und Aktionstag. Die Mogelpackung der französischen Sozialdemokratie Auch die französische Sozialdemokratie nutzte ihr Auftauchen in den Demonstrationen - wo sie erstmals seit Jahren äu b erst massiv Präsenz zeigte -, um sich ein neues politisches Image als "echte soziale Oppositionskraft" zuzulegen. Doch der Teufel steckt, wie so oft, im Detail. Auf ihren Flugblättern warb sie etwa mit großen Druckbuchstaben vorne dafür, dass sie für eine Beibehaltung eines gesetzlichen Renten-Mindestalters von 60 plädiere - und im Falle eines Regierungswechsels 2012 dessen Rückkehr garantiere. Aber man musste besser auch das Kleingedruckte auf der Rückseite lesen. Dort stand nämlich, wie die Partei sich die Sache mit den Beitragsjahren so vorstellt. Und ihre Zahl dazu lautet: Rente mit 41,5 Beitragsjahren (dorthin wird die Beitragsdauer durch die aktuelle Reform erst angehoben, von derzeit 40) ab 2020, zuzüglich einer möglichen weiteren Erhöhung über dieses Datum hinaus "um die Hälfte des durchschnittlichen Anstiegs der Lebenserwartung". Dadurch akzeptiert die stärkste parlamentarische Oppositionspartei eines der Kernstücke der Reform, nämlich die Anhebung der Beitragsdauer. Doch innerparteilich sind die Widersprüche zu dieser Frage, zwischen der Parteilinken (etwa Arbeitsrechtsexperte Gérard Filoche) und ihrem möglichen Präsidentschaftskandidaten für 2012 - sowie aktuellen IWF-Direktor - Dominique Strauss)Kahn, gigantisch. Sarkozys "Zugeständnisse" Am Mittwoch im Anschluss an die wöchentliche Kabinettssitzung präsentierte Nicolas Sarkozy seine "Zugeständnisse" an die Protestierenden. Zu ihnen zählt eine "Erleichterung für Schwer Arbeitende". Das Zugeständnis beinhaltet allerdings das Gegenteil dessen, was die Gewerkschaften fordern, nämlich eine Anerkennung der Möglichkeit für ganze Berufsgruppen, aufgrund besonderer (körperlicher oder psychischer) Anforderungen in der Arbeit relativ frühzeitig in Rente gehen zu können. Im Gegensatz dazu möchte Sarkozy nur individuelle Ausnahmeregelungen für frühere Pensionierungsfälle zulassen. Bisher schon vorgesehen war eine solche Möglichkeit für jene Lohnabhängigen, die aufgrund einer ärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit - die einer Invaliditätsrate in Höhe von mindestens 20 % entspricht - aus medizinischen Gründen nicht länger arbeiten können. Nun lautet Sarkozys neuestes "Zugeständnis", diese Quote auf 10 % abzusenken, aber nur in besonders begründeten Fällen und wenn eine auf Branchenebene eingerichtete paritätische Kommission aus Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern dies für sinnvoll erachtet. Nächster Aktionstag Ein gemeinsames Gipfeltreffen der französischen Gewerkschaftsverbände am Mittwoch Nachmittag beschloss, einen nächsten Streik- und Aktionstag auf den Mittwoch, 23. September zu legen. Um Druck auf die dann noch ablaufende Debatte im Senat auszuüben. Doch die Abstimmung in der Nationalversammlung wird daran bereits gelaufen sein. Dies komme zu spät, meint etwa die Union syndicale Solidaires, die deswegen auch das Abschlusskommuniqué nicht mit unterschrieben hat. Doch ein Teil der anwesenden Gewerkschaften wollte offenkundig abwarten, ob bis dahin noch weitere "Öffnungen" auf Regierungsseite erzielt werden können. Auch herrschten innerhalb der CGT erhebliche Konflikte. Denn ein Teil ihrer Branchenverbände drängten auf einen, über einen 24stündigen Streik hinaus verlängerbaren und nicht von vornherein befristeten, Streik (,Grève reconductible'). Diese Idee wird bislang vor allem durch die Union syndicale Solidaires, durch den - politisch unberechenbar und populistisch-schillernden - Gewerkschaftsbund FO (Force Ouvrière) sowie durch den linken Flügel in anderen Dachverbänden (CGT, Bildungsgewerkschaft FSU) vertreten. Auch aktuell lag die Idee schon in der Luft: Bereits vor bzw. beim vorgestrigen Aktionstag wurde eine solche, vorläufig noch befristete, Verlängerung des Streiks über den Aktionstag vom Dienstag hinaus u.a. durch drei (von insgesamt acht) Gewerkschaften bei der Bahngesellschaft SNCF sowie in zwei Raffinerien des Konzerns TOTAL beschlossen. Doch das Gewicht dieser Sektoren allein reichte noch nicht aus, um eine Streikbewegung über den Dienstag hinaus hinzubekommen. Die CGT-Führung möchte bislang noch das Szenario einer solchen <<Grève reconductible>> (die bei Regierung und Arbeitgebern besonders gefürchtet ist, letztes erfolgreiches Beispiel war der Streik in den öffentlichen Diensten im Spätherbst 1995) vermeiden und verhindern. Deshalb mochte sie auch unverzüglich wieder zu sofortigen neuen Aktionstagen aufrufen. Allerdings steht sie offenkundig selbst unter mächtigem Druck. In der Freitags-Ausgabe der Pariser Abendzeitung ,Le Monde' droht ihr Chef Bernard Thibault: "Je mehr die Unnachgiebigkeit auf der einen Seite anhält, desto mehr wird die Idee der ,Grève reconductible' auf der anderen Seite sich Bahn brechen." Dennoch, auch ohne formellen Aufruf, dürfte es übrigens auch am kommenden Mittwoch (dem Tag der Abstimmung in der Nationalversammlung) einigen "Lärm" um das Thema geben. Artikel von Bernard Schmid vom 9.9.2010 |