letzte Änderung am 21. Januar 2004

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Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover: Zu den Ereignissen nach dem Anschlag auf diverse Vorortzüge und den Bahnhof von Atocha in Madrid mit 200 Toten und noch mehr Verletzten am 11.3.2004, der offenbar von einer Zelle der Al Qaida als Reaktion auf die spanische Beteiligung an der "Koalition der Willigen" verübt wurde, schickte der Genosse Antonio Doctor aus Zaragoza u.a. dem Gewerkschaftsforum Hannover den folgenden Brief, der zeigt wie die Ereignisse dieser Tage bis hin zu den Wahlen von einem langjährigen Aktivisten der spanischen radikalen Linken und der Gewerkschaftslinken wahrgenommen und eingeschätzt werden. Der zweite Teil des Briefes enthält darüber hinaus zahlreiche, hierzulande wenig bekannte, Detailinformationen über die spontanen Proteste gegen die gezielten Medienmanipulationen und die generelle Politik der nun abgewählten Aznar-Regierung. Antonio Doctor ist den Lesern der im November 2003 erschienen und nach wie vor hochaktuellen Gewerkschaftsforumsbroschüre "Die europäische Gewerkschaftslinke" (74 Seiten DIN A 4, 3 Euro, zu beziehen u.a. über: gewerkschaftsforum-H@web.de) bereits bekannt, weil er dort das ausführliche Interview zu Spanien gab. Antonio ist 67 Jahre alt, kommt aus einer kommunistischen und Arbeiterfamilie und ist Industrieelektriker von Beruf. Von 1963-72 lebte und arbeitete er in Brasilien und war politisch in der damals vom Militärregime in den Untergrund gezwungenen brasilianischen Linken aktiv. Von 1973-79 war er als Arbeitsimmigrant in Deutschland in der Automobilindustrie beschäftigt und nach seiner Rückkehr nach Spanien von 1985-1990 Gewerkschaftsvertreter im Opel-Werk von Zaragoza. Die ehemals kommunistischen Arbeiterkommissionen (CCOO) hat er nach langjähriger Mitgliedschaft wegen deren massiven Abdriftens nach rechts verlassen und arbeitet nun am linken Basisgewerkschafts-Netzwerk Intersindical von Aragon mit.

Ein Brief aus Spanien

Zaragoza, 15.März 2004

Liebe Kollegen,
hier eine kurze Zusammenfassung und Einschätzung der Ereignisse nach dem Attentat in Madrid:
Die Art und Weise und das Ausmaß des Anschlages machte für mich, gleich am Donnerstagmorgen klar, dass das nichts mit ETA zu tun hatte. Meine ersten Gedanken dazu habe ich kurz darauf auf der Website von Indymedia Madrid veröffentlicht und verschiedenen Kollegen per E-Mail zugesandt. Der Titel lautete "No huele a ETA” (Es riecht nicht nach ETA). Kurze Zeit später erklärten verschiedene Minister und Regierungschef Aznar selbst, das sei ein weiteres Attentat der ETA gewesen, daran gäbe es keinen Zweifel. Mir war klar, dass dies eine rein politische Entscheidung war. Zwei Tage vor den Wahlen, war es für die Volkspartei (PP) lebenswichtig, das drohende Gespenst Al Qaeda und den Eroberungsfeldzug im Irak aus der Diskussion herauszuhalten. Alle Manöver der Regierung waren auf dieses Ziel ausgerichtet und dafür setzten sie drei Tage lang alle Mittel ein, über die sie verfügten. Aber: Welche Mittel ? Die Außenministerin hat alle spanischen Botschafter per Rundbrief angewiesen, überall zu verbreiten, dass ETA der Täter sei. Sie hat auch alle in Madrid vertretenen Korrespondenten der bekanntesten Zeitungen der Welt angerufen, um ihnen einzureden, dass niemand außer der ETA hinter dem Anschlag stecke. (Jetzt, am Montag, den 15.3.2004, soll es ein Treffen der Auslandsjournalisten geben, um gegen diese gezielten Fehlinformationen zu protestieren, denn solchen "Nonsens", wie sich einige ausdrückten, hätten sie noch nie erlebt.) Über die laufenden Untersuchungen und Ermittlungsergebnisse der Polizei wurde zunächst weder im staatlichen Fernsehen noch von den Privatsendern berichtet. Das staatliche Fernsehen hat jede Menge Reportagen über alte Attentate der ETA gesendet und die rechten Journalisten eingeladen, diese zu kommentieren. In der restlichen Zeit, wurden Bilder der zerstörten Waggons, von Toten und Schwerverletzten mit Großaufnahmen der Verletzungen gezeigt. Ab und zu, erschein der Innenminister im Fernsehen, um zu bestätigen, dass trotz des Wagens, den die Polizei in der Nähe des Anschlagsortes mitsamt einem Tonband in arabischer Sprache gefunden hatte und trotz der Entdeckung einer Tasche mit einer nicht explodierten Bombe, deren Sprengstoff nicht mit dem von ETA verwendeten übereinstimmt, ETA dennoch der Täter sei. So ging das den ganzen Freitag lang.

Für Freitag hatte die Regierung Großdemonstrationen vorbereitet. Die linken Zeitungen und die überall zirkulierenden Informationen aus dem Internet, überzeugten mehr und mehr Leute davon, dass es sich um eine politisch motivierte Kampagne der Regierung handelte. Die Regierung wurde gezwungen, ihre Pläne zu ändern. Anstatt eines Transparentes mit ihrer geliebten Parole "ETA NO !" wurde das Motto nach einer Verhandlungsrunde mit den Oppositionsparteien in "Las victimas con la Constitución, por la derrota del terror !” (Die Opfer sind mit der Verfassung ­ Für die … des Terrors !) abgeändert. Denn die Verteidigung der spanischen Verfassung war schon vor Monaten die Hauptwaffe gegen die ETA und damit gegen Basken und Katalanen. Dieses Motto richtet sich (außer dass es indirekt wiederum die ETA in Erinnerung bringt) gegen jede Art von nationalistischen Bestrebungen gegen den spanischen Staat ­ egal ob von Basken, Katalanen oder Galiziern. Deshalb hat es die PNV im Baskenland abgelehnt unter diesem Motto zu demonstrieren und in Katalonien, wo die linke Regierung ein anderes Motto wählte, verschwanden die Vertreter der PP ganz hinten in der Masse der Demonstranten. Dabei hatten sie die Risiken ihres Auftrittes etwas unterschätzt und am Ende musste sich ein Großteil von ihnen unter Buhrufen in ein unterirdisches Parkhaus flüchten.

Auf mehreren Demos tauchten Transparente mit der Parole "No a la guerra !" (Nein zum Krieg !) auf und in Madrid haben viele Teilnehmer Aznar niedergeschrien und ihn als "Mörder" bezeichnet. Am Samstag, den 13.März, fanden wir dasselbe Bild im staatlichen Fernsehen wie am Vortag. Wieder ETA, Verletzte, weinende Verwandte der Schwerverletzten, wieder jede Menge Blut, zerstörte Waggons, eine Liste der Namen aller Gestorbenen und Verletzten und.... keinen Ton über die laufende Untersuchungen, über die Erklärung von Al Qaida, über das Dementi der ETA. (…) Samstagabend musste der Innenminister im Fernsehen eine Pressekonferenz geben, um über den letzten Stand der Ermittlungen zu informieren. Die Polizei habe 5 Leute festgenommen, drei Marokkaner und zwei Inder. Eine Telefonkarte, die in der nicht explodierten Tasche lag, hatte die Polizei auf ihre Spur geführt. Aber noch immer wollte der Minister ETA als Täter nicht ausschließen: "Wir wissen noch nicht wer die Täter sind, es ist noch zu früh" usw. usf. Nur er hatte ein Mikrofon. Es waren nur seine Antworten zu hören, nicht aber die Fragen der Journalisten. Eine skurrile Szene. Nach sechs oder acht Fragen, die er immer mit derselben Litanei beantwortete, war Schluss und er verließ eilig das Studio.

Inzwischen wurde im Internet der Aufruf verbreitet, alle sollten sich um 18 Uhr vor dem Parteigebäude der PP versammeln. Um 18 Uhr waren mehr als 1.000 Leute da. Um 22 Uhr waren es schon über 3.000. Dasselbe fand auch in anderen Städten statt. Zum Beispiel in Barcelona, Zaragoza, Malaga, Sevilla und Bilbao. Ungefähr um 22 Uhr trat der Spitzenkandidat der PP im Fernsehen auf, um zu verkünden, dass alle diese Demonstrationen illegal seien und alle sofort nach Hause gehen sollten. Die Demonstranten riefen: "Wir wollen die Wahrheit wissen bevor wir morgen zur Wahl gehen.” Um Mitternacht war die Menge bereits auf mehr als 15.000 Menschen angewachsen, die das Zentrum von Madrid eroberten. Die Demos dauerten bis 4 Uhr früh. In Barcelona protestierte auch eine große Anzahl von Leuten ebenfalls bis 3 oder 4 Uhr. Der Kandidat der PP gab der sozialdemokratischen PSOE die Schuld daran, als ob sie diese Demo organisiert hätte. Das war nicht der Fall, denn die PSOE hat ständig versucht als "Partei der Ordnung” zu erscheinen, um Stimmen von normalen PP-Wählern einzuheimsen. Aber auch weil die PSOE genauso viel Angst vor spontanen Volksbewegungen hat wie die PP. Leider muss ich auch sagen, dass der Spitzenkandidat der Izquierda Unida (Vereinigte Linke ­ IU)), Llamazares, und der Sekretär der spanischen KP (die PCE stellt den Hauptteil der IU - Gewfo), Frutos, in der ersten Reihe in den Chor der PP mit einstimmten. Auch sie behaupteten, ETA sei schuld. Diese Stellungnahme verbreitete sie gleich Donnerstagmorgen via Internet. Die PSOE, die gleich die hervorragende und unerwartete Gelegenheit spürte, die Wahlen zu gewinnen ­ denn die PP war offensichtlich in eine heikle Situation geraten ­ hielt einfach den Mund und ließ die PP immer weiter im Schlamassel versinken. Samstagabend als die Strassen vieler Städte voller Demonstranten waren, rief der Innenminister der Regierung Aznar die PSOE an, um eine offene Erklärung von ihr zu verlangen. Im Fernsehen trat daraufhin ein Mann aus der zweiten oder dritten Reihe der PSOE auf, um kurz und lakonisch zu fordern, die PP solle mehr Informationen über die Ergebnisse der Ermittlungen veröffentlichen. Kein einziges Wort über die Demos.

Bei der Demonstration in Madrid anwesend war nur ein Privatsender, Tele 5. Der Rest der Medien ignorierte sie völlig. Selbst in der großen linksliberalen Tageszeitung "El País" vom Sonntag stand kein Wort darüber. Kein Bild, nichts. So ist das, wenn im Kapitalismus das Volk das Wort ergreift, selbst wenn es nur kurz und vorübergehend passiert. Die anderen, rechten Zeitungen, wie "El Mundo”, erwähnten die Demo nur kurz, um zu behaupten, dies sei ein schmutziges Manöver der PSOE, die die Demos ganz geheim organisiert habe. Aber auch hier kein Bild und keine Angaben über die Zahl der Demonstranten oder über die Dauer der Aktion. (…) Die linken Webseiten sind nun ganz euphorisch, weil an vielen Orten der Protest spontan mehrere Stunden lang die Innenstädte eroberte und wollen die PSOE dazu zwingen, mehr Reformen (nicht Gegenreformen !) durchzuführen als sie überhaupt will. Was das Wahlergebnis anbelangt musste die IU (Vereinigte Linke) deutliche Verluste hinnehmen. Ihr Wähleranteil sank von 6% auf 5% die Zahl ihrer Abgeordneten in der Cortes (dem spanischen Parlament) reduzierte sich von 9 auf 5. Die katalanischen Linksnationalisten (ERC) die vorigen Monat Geheimgespräche mit der ETA in Frankreich führten (die u.a. zu einem Waffenstillstand der ETA für die Region Katalonien führten-Gewfo) und damit einen Skandal provozierten, legten deutlich zu. Sie hatten bisher einen Abgeordneten und kommen nun auf 8. Die PNV aus dem Baskenland hat ihre 7 Abgeordnete behalten. Der BNG (Bloque Nacionalista Gallego) hatte 2 Abgeordnete und verfügt jetzt über 3. Die ganze Anti-Terror-Politik (das Mäntelchen für die Verfolgung der Linksnationalisten (und die massive Einschränkung der demokratischen Rechte - Gewfo) hat damit einen herben Reinfall erlebt.

Bei all dem sollen wir allerdings nicht vergessen, dass der PP noch immer 9.585.237 Stimmen erreicht hat…

Viele Grüsse, Antonio

Einfügungen in Klammern von Gewerkschaftsforum und Ag sind mit -Gewfo gekennzeichnet

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