letzte Änderung am 12. Mai 2003 | |
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Manchmal wird man alte Bekannte einfach nicht los, auch wenn man es zu gern würde. So scheint es den Algeriern mit Ahmed Ouyahia zu gehen.
Der 51jährige Verwaltungsfachmann und Diplomat stand seit Jahren auf der politischen Bühne vorne. Ab 1996 hatte er bereits zwei Jahre lang als Premier amtiert, später dann als Justizminister (1998 - 2002) und schließlich als persönlicher Repräsentant des Staatspräsidenten. Am vorigen Freitag - der in Algerien und anderen muslimischen Ländern den wöchentlichen Feiertag bildet - stellte der frisch zum Premierminister ernannte Ouyahia seine Regierungsmannschaft vor.
Vielen Algeriern gilt er als "Mann für die schmutzigen Aufgaben", vor allem im Hinblick auf antisoziale Wirtschaftsreformen und den Abbau bisheriger sozialer Errungenschaften. Daher mutmaßten viele Beobachter in der vorigen Woche vor allem wirtschaftspolitische Hintergründe, als am vorletzten Montag bekannt wurde, dass Ouyahia den seit August 2000 amtierenden Premier Ali Benflis ablösen würde. "Bei diesem Wechsel wird um die Ökonomie gespielt", meinte etwa am Dienstag die Tageszeitung La Tribune, die für ihre Hintergrundinformationen renommiert ist.
Ein weiteres Indiz dafür scheint zu sein, dass das für Privatisierungen und Investitionsanreize zuständige Ressort nunnmehr direkt dem Regierungschef unterstellt wird. Es fällt in der neuen Regierung dem Staatssekretär Karim Djoudi zu, dessen Abteilung direkt dem Premier zuarbeitet. In der vorherigen Regierung Benflis war dieses Aufgabenfeld dem Minister für Wirtschaftsreformen Abdelhamid Temmar zugefallen, der jetzt nicht mehr dem Kabinett angehört. "Ouyahia hat die Hände frei zum Privatisieren", schrieb folgerichtig La Tribune am Sonntag (11. Mai).
Die Analyse dürfte zwar mittelfristig stimmen. Dennoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft zu einem scharfen Politikwechsel auf diesen Gebieten kommen wird. Denn oin elf Monaten finden in Algerien die nächsten Präsidentschaftswahlen statt. Und der Amtsinhaber Abdelasis Bouteflika, der am vorletzten Montag seinen bisherigen Premier entließ, schickt sich an, zu seiner Wiederwahl zu kandidieren. Deswegen wird er wohl kaum soziale Grausamkeiten in den nächsten Monaten begehen, jedenfalls nicht vor der Wahl im Frühjahr 2004.
Die wirklichen Hintergründe der Auswechslung des Regierungschefs hängen mit der Vorbereitung dieses Ereignisses zusammen. Im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfs geht es derzeit um die Kontrolle der wichtigsten politischen Apparate im Land. Ali Benflis amtiert als Generalsekretär des FLN (Front de libération nationale, Nationale Befreiungsfront), der ehemaligen Einheitspartei aus der staatssozialistischen Periode nach der Unabhängigkeit, die derzeit auch die stärkste Koalitionspartei im Regierungsbündnis aus vier Parteien darstellt. Der FLN ist, nach Jahren der Krise infolge des Zusammenbruchs des alten Regimes im Oktober 1988, wieder zur wichtigsten politischen Kraft geworden. Er ist eine der wenigen echten Massenparteien in Algerien, die nicht nur um eine charismatische Führungsfigur herum aufgebaut wurden, sondern ein echtes Parteileben - mit verschiedenen Strömungen in seinem Inneren - aufweisen.
Ouyahia hingegen steht dem RND (Rassemblement national démocratique, Nationale demokratische Sammlung) vor. Der RND wurde Mitte der Neunziger Jahre, aus einer Abspaltung des FLN hervor gehend, zur neuen Staatspartei aufgebaut und führte nach den Parlamentswahlen 1997 die Geschicke des Landes. Er weist jedoch, neben den Karrieristen und Technokraten in seinen Reihen, bei weitem nicht dieselbe Massenbasis auf wie der FLN. Seit den letzten Parlamentswahlen vor einem knappen Jahr ist er deutlich hinter die ehemalige Staatspartei zurückgefallen, deren schlechte Kopie er bildet.
Ali Benflis, an der Spitze des FLN, wollte dem zu seiner Wiederwahl antretenden Bouteflika in der jüngsten Zeit nicht einfach das Feld räumen. Presseberichten zufolge soll der Präsident dem FLN-Chef deswegen ein Ultimatum gesetzt haben: Entweder er verzichte auf eine eigene Kandidatur und unterstütze Bouteflika, oder er werden sein Amt einbüßen.
Die, dem kabylischen Milliardär Ibrahim Rebrab gehörende, Tageszeitung Liberté verbreitete Mitte voriger Woche die Information, der Armeegeneral Larbi Belkheir - der Bouteflika nahe steht - habe dem Premier diese "Erpressung" übermittelt. Der Betreffende, der normalerweise kaum an die Öffentlichkeit tritt, hat dies jedoch energisch dementiert. Tatsächlich scheint das Gerücht nicht plausibel, die Armee habe auf diese Weise die Weichen gestellt.
Im Gegenteil scheinen die Generäle bisher das Rennen zwischen verschiedenen "Kaziken" offen zu lassen, und sich nicht offensiv einzumischen. Dem Quotidien d¹Oran zufolge hat gerade dies dazu beigetragen, dass die Ambitionen des FLN-Apparats gewachsen sind, Bouteflika einen eigenen Kandidaten gegenüber zu stellen. Eine pseudo-kritische Berichterstattung, in Algerien wie in Frankreich, kapriziert sich gar zu gerne völlig auf die Rolle der Armee, um zu "vergessen" oder zu verschweigen, dass auch in Algerien eine nationale wie internationale Bourgeoisie sich mit eigenen Interessen zu Wort melden und die politischen Weichenstellungen beeinflussen. (Auch wenn die algerische Bourgeoisie derzeit ihren Reichtum nicht hauptsächlich daraus schöpft, dass sie produzieren würde oder ließe, sondern - im Gegenteil - vor allem aus dem Importieren von Waren aus westlichen Metropolenländern. Wodurch sie zur Zerstörung eigener Produktionskapazitäten des Landes beiträgt. Es handelt sich daher vor allem um eine Geschäftsbourgeoisie. Teile von ihr tragen halbmafiöse Züge, doch ist dieses Phänomen bei weitem nicht so weit fortgeschritten wie im derzeitigen Russland. Die Mafiotisierung des Staatsapparats, dessen tragende - aber nicht alleinige - Säule tatsächlich die Armee darstellt, hat sich nicht so sehr entwickelt wie in der ehemaligen UdSSR.)
Mutmaßlich aufgrund dieses Konflikts mit Präsident Abdelasis Bouteflika musste Benflis seinen Sessel räumen. Die sich nunmehr herausschälende Konstellation ist dadurch geprägt, dass der FLN versucht, die Enttäuschten und die Kritiker der wirtschaftsliberalen Anpassungs- und Öffnungspolitik der jetzigen Staatsführung um sich zu sammeln. Ein Teil des Funktionärskaders des früheren Einheits- und immer noch mit Abstand wichtigsten Gewerkschaftsverbands, der UGTA (Allgemeine Union der algerischen Arbeiter), scheint dabei mitzuziehen.
So besuchte UGTA-Generalsekretär Abdelmadschid Sidi-Saïd am Donnerstag, dem algerischen Wochenende, den geschassten Premierminister Benflis. Im Anschluss wurde ein Kommuniqué veröffentlicht, dem zufolge "die UGTA mit den Positionen des FLN solidarisch ist", was die "wichtigsten Fragen für die algerische Gesellschaft, und vor allem die Sorgen der Arbeiter und ihrer Familien" betreffe.
Allerdings hatte die UGTA offiziell zugleich die Nomierung des neuen Regierungschefs Ouyahia begrüßt. Eine Erklärung findet dies darin, dass die Führungsetagen der Arbeiter-Union im Wesentlichen zwischen FLN- und RND-Repräsentanten aufgeteilt sind. Die Union générale des travailleurs algériens wurde im Jahr 1956, mitten im Unabhängigkeitskrieg, als verlängerter Arm der algerischen Nationalbewegung - aus der dann in der Folgezeit der FLN herauswuchs, der 1956 noch eine kleine Keimzellenorganisation war - gegründet. Deswegen war die UGTA als solche nie eine unabhängige Klassenorganisation, wie das etwa auf die tunesische UGTT (historisch) tendenziell zutrifft. Allerdings lässt die UGTA sich auch heute nicht auf ihren Apparat und dessen politische Funktionäre reduzieren: Die Machtfülle dieses Apparats beruht eben auch darauf, immer wieder eine soziale Basis mobilisieren zu können. Und auch in Algerien funktioniert das nicht auf Knopfdruck, wenn keine "echten" sozialen Widersprüche vorhanden sind. Die UGTA hat derzeit 1,3 Millionen Mitglieder, auch wenn die Zahl (unter anderem aufgrund der Massenentlassungen seit den Neunziger Jahren) rückläufig ist. Auch linke Strömungen arbeiten innerhalb der UGTA, während die vorhandenen unabhängigen Gewerkschaften (außerhalb der UGTA) oftmals eher weiter rechts stehen.
Die UGTA kann im Hinblick auf 2004 einem der beiden voraussichtlichen Kandidaten - wahrscheinlich eher jenem des FLN - anbieten, die immense soziale Wut und Frustration im Land zu seinen Gunsten kanalisieren. Denn spätestens seit dem Scheitern des politischen Islamismus auf Massenebene gibt es keine andere gesellschaftliche Kraft, die das in vergleichbarem Maße könnte. Allerdings sollte man sich nicht über die Natur der jüngsten Regierungspolitik des FLN täuschen, zumal diese Partei auch unter Ouyahia nach wie vor die Mehrzahl der Minister stellt.
Die "amerikanischen" Minister - jene Technokraten, die zuvor jahrelang beim Internationalen Währungsfonds Dienst taten und die "Öffnung" der algerischen Ökonomie für westliche und vor allem US-Interessen vorantreiben - , die der UGTA am meisten verhasst waren, gehörten auch der Regierung Benflis an. Etwa Abdelhamid Temmar, der jetzt nicht mehr im Kabinett vertreten ist, oder der Öl- und Energieminister Chakib Khelil.
Letzterer büßte soeben seinen Nebenjob als Generaldirektor der nationalen Erdölgesellschaft Sonatrach ein. Allerdings bietet auch sein Nachfolger Dschamal-Eddine Khene die Gewähr dafür, dass die bisherige Politik fortgesetzt wird, die mittelfristig zu einer Öffnung der - Anfang der Siebziger Jahre nationalisierten - Erdölindustrie für private Investoren, vor allem US-Interessen, führen soll. Nordamerikanische Ölkonzerne sind seit einem Jahrzehnt in Algerien äußerst aktiv, wo sie durch technische Aushilfe und Expertisen Fuß fassen konnten. Unter massivem Druck der UGTA musste zum Jahreswechsel ein Gesetz zur Teilprivatisierung der Sonatrach zurückgenommen werden. Die politische Klasse bleibt dazu gespalten ; aus strategischen Gründen hatte sich allerdings auch Ouyahia damals dem Gesetzentwurf hörbar widersetzt.
Neben den sozialen Fragen wird die Regierung Ouyahia in den nächsten Monaten mit anderen schwierigen Dossiers konfrontiert sein. Da ist die Krise in der Unruheregion der berbersprachigen Kabylei. Nach wie vor gibt es dort Proteste, die sich jetzt gegen die Repression richten - seit Oktober sitzen ehemalige Anführer der Protestbewegung von 2001 in Untersuchungshaft, und ihrer Gallionsfigur Belaïd Abrika soll bald der Prozess gemacht werden. Allerdings vermochte es die kabylische Bewegung nicht, dem in ganz Algerien rumorenden gesellschaftlichen Unmut eine Perspektive zu bieten (obwohl die Hunderttausenden Demonstranten des April, Mai und Juni 2001 vor allem durch das soziale Elend motiviert waren), unter anderem aufgrund ihrer Mischform aus traditionellen Organisationsformen der überkommenen kabylischen Gesellschaft (auf Dorfebene) und Repräsentationsformen moderner sozialer Bewegungen. Und ihr Niedergang hat längst eingesetzt, bereits seit dem Sommer 2001.
Im Hintergrund lauern in der Kabylei derzeit die Ethno-Nationalisten auf eine Chance, die eine Lostrennung von den arabischsprachigen Landesteilen - in Form der Forderung nach verstärkter Autonomie, für (derzeit wenige) Hardliner gar nach Unabhängigkeit - propagieren. Eine ziemliche Irrsinnsidee, da die rohstoffarme Bergregion sich dadurch gerade von jeder Verfügungsmöglichkeit über die Reichtümer Algeriens - die Bodenschätze liegen im Süden Algeriens - abschneiden würde. Bisher haben sie sehr geringen Einfluss, und die "berberistischen" Nationalisten sitzen eigentlich nur im Pariser Exil, wo einige unter ihnen einen ausgeprägten anti-arabischen Rassismus kultivieren. Die Führungsfigur der - wesentlich moderater als in Paris auftretenden - Autonomisten in der Kabylei selbst ist der ehemalige Sänger Ferhat Mehenni (auch M-henni geschrieben, mit Apostroph), der vor zwei Jahren den MAK - Mouvement pour l¹autonomie de la Kabylie (Bewegung für die Autonomie der Kabylei) - begründete. Einige von dessen Führungsfiguren träumen davon, aus der Kabylei den nächsten Kosovo zu bereiten, und die Unterstützung westlicher Führungsmächte wie Frankreichs und der USA gegen den algerischen Zentralstaat zu gewinnen. Glücklicherweise erfahren solche Thesen in der Öffentlichkeit - auch der Kabylei - bis heute nur ein geringes Echo. Auch die Bewegung seit dem Frühjahr 2001 konnten ihre Vertreter bisher nicht entscheidend prägen. Allerdings könnten ihre "Ideen" vielleicht verstärkt Gehör finden, wenn die derzeitigen Wortführer des Protests endgültig am Ende ihrer Perspektivlosigkeit angelangt sind.
Ein anderes heißes Eisen bildet die Affäre der insgesamt 31 Touristen, die zwischen Mitte Februar und Mitte März dieses Jahres in der algerischen Wüste verschwanden. Diese - 15 Deutsche, 10 Österreicher, 4 Schweizer, ein Schwede und ein Niederländer - waren zuvor auf eigene Faust und ohne ortskundige Führung über die tunesische Grenze eingereist waren. Mehrere Gruppen wurden nacheinander entführt. Über die Identität der Entführer, die laut jüngsten Enthüllungen der Westschweizer Zeitung L¹Hebdo rund 30 Millionen Dollar Lösegeld fordern, besteht Unklarheit.
Die restriktive Informationspolitik der algerischen Behörden, die Amtshilfeangebote aus Berlin und Bern - höflich, aber bestimmt - ausschlugen, trägt dazu bei. Bisher ist nicht einmal definitiv bekannt, ob (und worüber) mit den Entführer verhandelt wird. Tourismusminister Lakhdar Dorbani wurde letzte Woche zunächst mit den Worten zitiert, Verhandlungen seien im Gang ; Innenminister Yazid Zerhouni dementierte prompt. Als wahrscheinlichste Vermutung wurde bisher verbreitet, es handele sich um die bewaffnete islamistische Gruppe GSPC von Hassan Hattab - eien Abspaltung der GIA (Islamische Bewaffnete Gruppen), die etwas weniger allgemein die Zivilbevölkerung terrorisiert und ausplündert als letztere, um ihren Kampf noch halbwegs als "politischen" darstellen zu können. Das österreichische Nachrichtenmagazin Profil behauptete aber vorige Woche unter Berufung auf Sicherheitskreise des Landes, es handele sich um "unpolitische" Banditen, die in der Wüste Schmuggel betreiben und lediglich ein Lösegeld erpressen wollten.
Nähere Aussagen dazu müssen bisher notwendig spekulativ bleiben. Wahrscheinlich aber ist, dass die Affäre - und das Dunkel, das um sie herum besteht - einem Kalkül der algerischen Führung dient. Diese glaubt, in dem Kontext nach dem 11. September 2001 damit verstärkt auf Unterstützung der westlichen Führungsmächte drängen zu können. Der GSPC gilt als Mitgliedsorganisation des Netzwerks Al-Quïda.
Bernhard Schmid, Paris
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