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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Algerien in den ersten Wochen 2005: Soziale Revolten, Streiks und Repression Bericht von Bernhard Schmid (Paris)
...Und demnächst Ausführlichers zur heftigen Privatisierungskontroverse bei den UGTA-Gewerkschaften. Der Jahresbeginn 2005 in Algerien ist von teilweisen heftigen Auseinandersetzungen um wirtschafts- und sozialpolitische Weichenstellungen und um die Konsequenzen der existierenden Massenarmut geprägt. Ein kleiner Überblick, bei dem es sowohl um das in den letzten Jahren sich rapide ausbreitende Phänomen der <émeutes>, ein Zwischending zwischen Elendsrevolte und Bürgerprotest, als auch um gewerkschaftliche Konflikte und Debatten gehen soll. „72 302 Personen leben in Algerien in Prekarität“. Sozialminister Djamel Ould Abbès hat sie anscheinend genau gezählt, und so verkündete er Anfang Januar 05 in einem Radioauftritt gleich auch noch: „Wir haben keine Armut mehr in Algerien“. Arme gibt es nicht mehr - sondern nur „Mittellose“ oder „Prekäre“, so die gleichzeitig ausgegebene Sprachregelung des Ministers. Knapp 600.000 von ihnen hätten sich im Laufe des vorigen Jahres bei seinen Dienststellen gemeldet, aber nach genauer „Überprüfung und Untersuchung“ seien eben nur noch 72.000 übrig geblieben. Ja, da gebe es noch diese Obdachlosen, die – ein neues Phänomen - für alle sichtbar in den Straßen von Algier und anderer großer Städte übernachten. „Unsere Dienste sammeln diese Personen (...) Tag und Nacht ein, waschen und verpflegen sie. Aber sie finden immer wieder Mittel und Wege, dorthin zurück zu kehren, wo wir sie aufgelesen haben.“ Ohne bösen Willen kann es eben wirklich nicht zugehen, wenn Leute, die sich keine Wohnung mehr leisten können, „immer wieder“ auf der Straße landen [1] . A propos Armut, ein/e jede/r mache sich selbst ein Bild:
Der gesetzliche Mindestlohn SNMG (Salaire national minimum garanti) in
Algerien beträgt derzeit umgerechnet 120 Euro im Monat. Sozialleistungen
beispielsweise für Arbeitslose gibt es kaum, oder nur für einen
harten Kern ehemaliger Mitarbeiter von Staatsbetrieben, die aus betrieblichen
Gründen entlassen wurden; von ihnen erhalten eine Million Menschen
zwischen 10 und 30 Euro monatlich. Zum Jahreswechsel betrug die Arbeitslosenquote
nach offiziellen Angaben noch 23 Prozent, womit sie aber gegenüber
dem Beginn dieses Jahrzehnts (damals erreichte sie einen Spitzenwert von
30 Prozent) tatsächlich gesunken ist. Ein kleines Portrait der algerischen „Ökonomie“ In den Staatskassen liegen derzeit 40 Milliarden Dollar an Devisenreserven aus dem Erdöl- und Erdgasverkauf ein, die nicht ausgegeben werden. Ursächlich dafür sind die wirtschaftlichen Zwänge, die auf dem algerischen Staat lasten. So machten die internationalen Finanzinstitutionen Druck auf Algier, diese Devisen als Rücklage für die Bezahlung seiner Schulden bei westlichen Gläubigern zu behalten. Hinzu kommt die extreme Importabhängigkeit des Landes, nachdem der Versuch einer Diversifizierung der bisher allein von Erdöl und –gas abhängigen Ökonomie in den 70er Jahren unter anderem an den Zwängen von Weltmarkt und internationaler Arbeitsteilung scheiterte. 17 Milliarden Dollar wurden allein im Vorjahr 2004 für den Import von Konsumgütern ausgegeben (gegenüber 13 Milliarden im Jahr 2003. Drei Milliarden muss der algerische Staat an jene westlichen Konzerne, die bereits im algerischen Erdölsektor präsent sind, wenngleich bisher in minoritärer Position, abdrücken. Weitere 5 Milliarden wurden für die Zahlung von Schulden sowie Zinsen an westliche Gläubigerstaaten, -firmen und –banken und internationale Finanzinstitutionen aufgebracht [2] . Wehe also, wenn die Öl- und Gaseinnahmen demnächst nicht mehr so sprudeln sollten wie in den letzten vier Jahren. Dann ist es sofort vorbei mit der derzeitigen „Hochform“ der algerischen Ökonomie. Einen Ausweg aus der Armutsfalle bietet die derzeitige „Hochphase“ also für die große Mehrheit nicht. Reich dagegen wird in Algerien vor allem, wer im (legalen oder illegalen) Importgeschäft tätig ist. Während zu Anfang des Jahrzehnts 75 bis 80 Prozent der im Lande vorhandenen Produktionskapazitäten (die meist während der staatssozialistischen Ära aufgebaut wurden) ungenutzt brach lagen, bereichern sich jene, die den Warenüberschuss westlicher bzw. nördlicher sowie teilweise auch asiatischer Konzerne ins Land bringen. Nach Schätzungen der algerischen Tageszeitung „Le Quotidien d’Oran“ vom September 2004 sind 60 Prozent der Handelsaktivitäten im Land „illegaler Natur“. Der „informelle Sektor“ weist einen größeren Umsatz auf als der produzierende Sektor. Man spricht auch von „Bazarökonomie“, ein aus dem Mittleren Osten importierter Begriff (einen traditionellen Wochenmarkt nennt man dort Bazar, im Maghreb hingegen „Souq“), da beispielsweise im Iran ähnliche Strukturen vorhanden sind. Das Ganze funktioniert deswegen, weil die vom Staat abgeschöpfte Erdölrente die (namentlich über das Bankensystem) bevorzugt an die Importateure verteilt wird, bisher die Finanzierung dieser ansonsten chronisch defizitäre „Import-Import-Ökonomie“ finanziert. Nutznießer ist einerseits die neue Bourgeoisie, die aus der einst unter dem Staatssozialismus sich breit machenden Schattenwirtschaft hervorging und die hauptsächlich an Vermittlergeschäften ihr Geld verdient. Zum Zweiten sind es hohe Angehörige der staatsbürokratischen Nomenklatura und des Militärs, die über die teilweise illegal (und manifest gegen die Interessen des eigenen Landes) handelnden Import- und Schwarzmarktgrößen ihre schützende Hand halten. Die große Brücke, die vom Hafen von Algier ins Stadtzentrum führt, nennt man auch die „Brücke der Generäle“, und man spricht vom „General des Zuckers“ oder dem „General des Kaffees“... So bereichern sich die Spitzen der Armee oftmals über die, direkte oder indirekte, Patronage für solche parasitären Wirtschaftssektoren. Und drittens profitieren natürlich (beispielsweise) europäische oder ostasiatische Konzerne mächtig davon, dass sie über diese Kanäle der parasitären Wirtschaft ein ständiges Surplus ihrer Produktion in einem Land wie Algerien abladen können. Dabei in Kauf nehmend, dessen eigene Ökonome (außerhalb des Öl- und Gassektors, der den ganzen Mechanismus finanziert) zu zerstören. Revolten gegen Gas- und Treibstoffpreise – Und was das mit der WTO zu tun hat Eine Revolte, die daraus resultiert, dass viele Bürger sich Gasflaschen zum Heizen und (aufgrund gestiegener Treibstoffpreise) die täglichen Busfahrten nicht mehr leisten können: Das hätte man in einem Land, das zu den größten Exporten von Erdöl und Erdgas weltweit zählt, nicht unbedingt erwartet. Dennoch erschütterten solche Unruhen in den vergangenen beiden Wochen größere Teile Nordalgeriens. In den Bezirkshauptstädten Djelfa, Bouria, Tlemcen und Tiaret wurden zahlreiche staatliche Gebäude angegriffen oder abgefackelt. Straßen wurden mit brennenden Autoreifen blockiert. Die herbei gerufenen Polizei und Anti-Aufstands-Einheiten setzten Tränengas und Hunde gegen aufgebrachte Demonstranten ein, konnten der Situation jedoch nur mühsam Herr werden [3] . Am 14. Januar 05 war die jüngste Preiserhöhung für Butangasflaschen, die vor allem durch die ärmeren Haushalte zum Heizen und Kochen benutzt werden, und für Dieselkraftstoff in Kraft getreten. Die Gasflasche kostet nunmehr 200 Dinar (rund zwei Euro) statt zuvor 157 Dinar, was einer plötzlichen Erhöhung um mehr als ein Fünftel entspricht. Eine Familie benötigt im Winter etwa sechs Gasflaschen pro Monat. Der gesetzliche Mindestlohn SNMG in Algerien beträgt derzeit umgerechnet 120 Euro; Lehrer verdienen etwa das Doppelte davon und höhere Angestellte circa das Dreifache. Der Dieselkraftstoff, der bisher 12 Dinar pro Liter kostete, wird um fast zwei Dinar teurer. Das Kabinett unter Premierminister Ahmed Ouyahia hatte ihn ursprünglich gleich um fünf Dinar erhöhen wollen, war damit aber im November 04 im Parlament gescheitert, das die Verteuerung des vor allem von öffentlichen Verkehrsmittel benutzten Diesels auf einen Dinar begrenzen wollte. Daraufhin hatte die Regierung die Erhöhung aber am 12. Januar 05 jedoch per Verordnung, also am Parlament vorbei, durchgesetzt und ihr auch gleich noch Rückwirkung bis zum Jahresbeginn verschafft. Die Ankündigung erfolgte zum denkbar schlechten Zeitpunkt: In derselben Woche erfolgte ein in diesem Ausmaß in Algerien kaum gekannter Kälteeinbruch, in der Nordhälfte des Landes schneite es bis auf 200 Höhenmeter herunter – und das im Landesinneren bis in die Saharastadt Ghardaïa. Vor allem auf den Hochplateaus des Atlasgebirges herrschen damit bittere Temperaturen, und dort kam es auch zu den ersten Zornesausbrüchen. Die durch die Regierung beschlossene Preiserhöhung hängt eng mit dem internationalen Kontext zusammen. Nach einem seit drei Jahren währenden, zeitweise heftigen Konflikt mit dem Gewerkschafts-Dachverband UGTA will die Regierung nunmehr im März 05 endgültig den Gesetzentwurf zur Öffnung der algerischen Erdöl- und Erdgasindustrie ins Parlament bringen. Dieses Herzstück der algerischen Ökonomie, von dem 97 Prozent der Deviseneinnahmen des Landes abhängen, sollte in früheren Jahrzehnten die Mittel bereitstellen, um – im Kontext staatssozialistischer Rahmenplanung – das Land zu entwickeln und seine Produktion zu diversifizieren. Dieser Versuch scheiterte vor allem an den Zwängen, die aus der Einbindung in die internationale Arbeitsteilung, der wachsenden Staatsverschuldung und den Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) resultierten. Derzeit hängt Algeriens Souveränität und finanzielle Liquidität fast ausschließlich an diesem Sektor. Aufgrund der Panik, vom internationalen Investitionszufluss abgeschnitten zu werden und den so wichtigen Sektor nicht mehr technologisch modernisieren zu können, ist ein Teil der im Lande herrschenden Oligarchie deswegen zu einer Öffnung für ausländische Investitoren und teilweisen Privatisierung bereit. Die für das Land höchst riskante Operation spaltete zunächst auch die Oligarchie in zwei Flügel, deren privatisierungsfeindlicher Teil sich auf die UGTA stützen konnte. Doch die Ergebnisse der Präsidentenwahl vom April 2004 sowie die jüngst durch UGTA-Chef Abdelmajid Sidi-Saïd erklärte Kapitulation des Gewerkschaftsbunds in dieser Frage (dazu demnächst Ausführlicheres) haben der Regierung den Weg geebnet. Die Naftal, der für die Vermarktung der Ölprodukte zuständige Ableger des bisherigen Erdöl- und Erdgasmonopolisten Sonatrach, soll möglicherweise schon bald für westliches Kapital geöffnet werden. Deswegen sollen jetzt ihre Gewinnmargen erhöht werden, so dass aus Sicht der Regierung eine Erhöhung der seit 1998 „eingefrorenen“ Preise für die Raffinerieprodukte Butangas und Diesel geboten schien. So schreibt die Tageszeitung „Le Quotidien d’Oran“: „(Die neuen Preise) stärken das finanzielle Wohlergehen des Unternehmens, das seit 1998 über seine Umstrukturierung verhandelt, um sich darauf vorzu bereiten, mit der Konkurrenzöffnung konfrontiert zu werden. (...) Die ungenügende Gewinnspanne bildete, laut Leitungsmitgliedern der NAFTAL, eine Abschreckung für private Investoren...“[4] Hinzu kommt der Druck der Welthandelsorganisation (WTO), der Algerien beitreten will – die Verhandlungen dazu werden in der letzten Februarwoche in Genf wieder aufgenommen. Die WTO klagt Algerien wie auch Russland an, im Inland andere Energiepreise als beim Export zu praktizieren: Darin bestehe eine nach WTO-Handelsregeln unzulässige Diskriminierung gegenüber wirtschaftlichen Akteuren aus dem Ausland. Darauf antwortete Algerien zunächst, indem es die im Inland praktizierten Tarife vereinheitlichte - so dass nach Argumentation der Regierung in Algier die Diskriminierung wegfällt, weil ein ausländischer Investor in Algerien ebenso günstige Versorgungspreise vorfinde wie algerische Betriebe oder Privathaushalte. Ob das Argument durch die WTO akzeptiert wird, bleibt noch unklar [5]. Dennoch beschloss die Regierung zugleich auch eine schrittweise Anhebung der Preise für Energieprodukte im Inland. So schreibt die Tageszeitung „Liberté“ im Januar 05: „Durch diese Preiserhöhungen will die Regierung schrittweise die (Steuer-)Subventionen für Energieprodukte abschaffen, um sich den Regeln der WTO und den Prinzipien der Öffnung des Energiemarkts anzupassen. (...) Die Erhöhung der Treibstoffpreise wird sich über mehrere Jahre hinziehen, um mittelfristig die freien Preise (Anm.: auf den Weltmärkten) zu erreichen.“[6] Sollte sich das bewahrheiten, dann wäre der Auslöser der jetzigen Revolten freilich nur der Anfang. Repression und Justiz gegen Riots – und gegen Streikbewegungen (von Studenten, Lehrern, Ärzten...) Gemäß der Richtlinie, die sich das algerische Regime nach der Präsidentenwahl vom 8. April 2004 gesetzt hat, sollen die Teilnehmer oder jedenfalls die „Rädelsführer“ von Elendsrevolten oder Bürgerprotesten nicht mehr straffrei ausgehen. Seit dem Frühjahr 2001 ist es zu einer Vielzahl lokaler, oft spontaner Erhebungen gekommen. Am vorigen Dienstag (25. Januar) wurden so 33 Angeklagte oft jugendlichen Alters aus El-Birine im Bezirk Djelfa abgeurteilt, sechs von ihnen erhielten je achtmonatige Haftstrafen ohne Bewährung [7]. Rund 20 weitere Angeklagte warten noch die Vorführung vor das Gericht, in einigen Fällen vor den Jugendrichter. Auch im westalgerischen Tiaret werden am kommenden Dienstag (8. Februar) 26 „Aufrührer“, unter ihnen alte Männer, ihr Strafmaß erfahren [8] . Die Härte der Justiz sowie der Polizei bekamen jüngst auch die unruhigen StudentInnen an der geserllschaftswissenschaftlichen Universität von Ben Aknoun (in Algier) zu spüren. Am 13. Dezember waren anlässlich von Spannungen im Wohnheim mehrere Studenten, die gegen die korrupte Universitätsverwaltung protestierten, verhaftet worden. Letztere soll u.a. ansehnliche Summen, die angeblich für die Instandsetzung der beim Erdbeben vom 21. Mai 2003 beschädigten Hochschul- und Wohnheimgebäude investiert worden sind, eingesackt haben. Seitdem sitzt der Student Hamitouch Marzouke im Gefängnis von El-Harrache (Stadtteil von Algier), vorgeblich weil er sich Sachbeschädigungen im Wohnheim zu Schluden kommen ließ. In Wirklichkeit war der Student, der zum Sprecher seiner Kollegen im Wohnheim gewählt worden war, der Verwaltung deswegen ein Dorn im Auge. Am 10. Januar riefen deswegen das „Kollektiv der autonomen Studentenkomitees“ (CCA, Collectif des comités autonomes des universités d’Alger) und die Studierendenvereinigung Nedjma (Stern) zum Streik auf, der sich im Laufe des Montag auch auf andere Universitäten innerhalb von Algier wie Bouzaréah und Beni Messous ausweitete. Und sie besetzten daraufhin den Campus der Fakultät für Politikwissenschaft und Journalismus. In Tizi-Ouzou, Boumerdès (östlich von Algier) und der ostalgerischen Metropole Constantine fanden gleichzeitig Solidaritätsstreiks statt. Dagegen riefen rechte Studentenvereinigungen wie die UGEL, die der an der Regierungskoalition beteiligten, „moderaten“ islamistischen Partei MSP-Hamas nahe steht, zum „Boykott“ der Streikbewegung auf. Aus der rechten Ecke und von offizieller Seite her machte man viele Studenten glauben, es handele sich um „ein Problem der Kabylen (Berber)“, um auf diese Weise Ressentiments und Spannungen zwischen „Arabern“ und „Berbern“ zu provozieren und für Entsolidarisierung zu sorgen. Aus diesem Grund schlossen sich viele der nicht im Wohnheim lebenden, auswärtigen Studierenden der Solidaritätsbewegung nicht an. Doch in der Nacht von Montag auf Dienstag (11. Januar ) räumte ein Großaufgebot von Polizei die besetzten Universitätsgebäude. Normalerweise darf die Polizei rechtlich nicht auf den Campus vordringen, da dieser eine Art Autonomiestatut (franchises universitaires) genießt. Doch in diesem Falle hatte die Verwaltung nach den Ordnungskräften gerufen, angeblich weil studierwillige Studenten am Arbeiten gehindert würden. 22 männliche und 2 weibliche Studierende wurden festgenommen, unter ihnen auch vier Angehörige einer Solidaritätsdelegation aus Tizi-Ouzou (Bezirkshauptstadt in der Berberregion Kabylei, und in den letzten Jahrzehnten häufiger Zentrum kämpferischer Studentenbewegungen, seitdem an der dortigen Universität im April 1980 der „berberische Frühling“ ausbrach). 20 von ihnen wurden bis am übernächsten Tag freigelassen, aber ein Strafverfahren kann im Prinzip jederzeit gegen sie eingeleitet werden; zwei blieben in Polizeigewahrsam und wurden in eine Haftanstalt überstellt. Am 12. Januar demonstrierten mehrere tausend Studierende in Algier gegen die Repression und für die Solidarität mit den Eingesperrten [9] . Fast die gesamte Presse zeigte sich ebenfalls solidarisch. Aber auch gegen Streikbewegungen von abhängig Beschäftigten und Arbeitsniederlegungen wird in den jüngsten Monaten immer öfter die Justiz bemüht, um sie für illegal erklären zu lassen. Der algerische Ministerrat hatte am 20. Oktober 2004 den Beschluss gefasst, künftig „nicht rechtskonforme“ Streiks und ihre einzelnen Teilnehmer systematisch gerichtlich zu verfolgen. Nur drei Tage nach diesem Kabinettsbeschluss erfolgte auch bereits ein entsprechender Gerichtsentscheid, den das Gesundheitsministerium gegen den Ausstand der Krankenhausärzte angestrengt hatte. Ab dem 18. Oktober 2004 hatten die Mediziner im öffentlichen Gesundheitssystem die Arbeit niedergelegt, es ging um Lohnforderungen und gegen die Sparpolitik im Gesundheitsbetrieb. Doch am 23. Oktober 04 untersagte ein Gericht in Hussein-Dey (einem Stadtteil von Algier) die Fortführung des Ausstands, den die autonome Gewerkschaft der Krankenhausärzte SNPSSP organisiert hatte und der daraufhin abgebrochen werden musste. Aber am 12. Januar 05 annullierte die algerische Justiz die damalige Verbotsverfügung: Das Gericht von Hussein-Dey, so befand der Gerichtshof von Algier, sei dafür nicht zuständig gewesen. Das Urteil wurde also aufgrund von Formmängeln kassiert, in der Sache selbst ist hinsichtlich der Recht- oder Unrechtmäßigkeit des damaligen Streiks noch nicht entschieden worden [10] . Eine Wiederaufnahme des Ausstands in nächster Zukunft erscheint im Augenblick eher unwahrscheinlich. So sollte beispielsweise am 9. und 10. Januar 05 ein Ausstand der Lehrer/innen an Oberschulen in 46 von insgesamt 48 wilayat (Verwaltungsbezirken) Algeriens stattfinden. Die Streikbewegung sollte durch die autonome (d.h. außerhalb des Dachverbands UGTA stehende) Lehrergewerkschaft CNAPEST organisiert wird; einen entsprechenden Beschluss hatten die Delegierten von 60.000 Lehrern und Lehrerinnen am 25. Dezember gefasst. Das Kürzel der Organisation steht für ‚Conseil national autonome des professeurs de l’enseignement secondaire et du technique‘ (Autonomer landesweiter Rat der Lehrer an Oberstufen- und Berufsschulen). Der Hauptgrund für den vorgesehenen Ausstand waren die Nichteinhaltung im vorigen Jahr gegebener Versprechungen, es ging u.a. um die Bezahlung von Überstunden der Lehrer/innen. Ferner ging es aber auch explizit darum, das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Betätigung anerkennen zu lassen, und zwar auch für die nicht dem Dachverband UGTA – der vor dem Ende des Einparteienstaats 1988/89 die Staatsgewerkschaft und den „Transmissionsriemen“ der Einheitspartei FLN bildete – angehörenden Zusammenschlüsse von Beschäftigten. Das Recht auf „gewerkschaftlichen Pluralismus“ ist in Algerien theoretisch seit 1990 anerkannt und im Gesetz verankert. Doch in der Praxis tut die Staatsmacht (trotz Ermahnungen durch die ILO) fast alles, um den Dachverband UGTA als Ansprech- und „Sozialpartner“ zu bevorzugen. Doch die Justiz erklärte den Ausstand bereits vorab für illegal. Insbesondere deswegen, weil der CNAPEST nicht dazu berufen sei, eine gewerkschaftliche Aufgabe wie die Organisierung von Streiks wahrzunehmen. Anders als in Frankreich benötigt ein Streik, um durch die Justiz als rechtmäßig anerkannt zu werden, in Algerien im Prinzip eine gewerkschaftliche Unterstützung. Der CNAPEST hatte bereits zuvor einen Antrag auf offizielle Zulassung als Gewerkschaft gestellt, der jedoch vom Arbeitsministerium wegen angeblicher Formmängel abgelehnt wurde. Daraufhin hatte der ‚Autonome Rat...‘ die vorgeblichen Mängel in seinen Statuten korrigiert; so ist dort nun nicht mehr die Rede von der Organisierung von „Streiks“, sondern (wie vom Ministerium gefordert) nur noch von „Arbeitsniederlegungen“. Und der Paragraph, der vorsah, dass im Falle einer Auflösung der Gewerkschaft ihre Güter an „associations (Vereine und Initiativen)“ vermacht werden sollen, wurde um das Wörtchen „zugelassene Association“ ergänzt, wie es das Ministerium ebenfalls verlangt hatte. Der neue Antrag wurde am 22. November 04 gestellt, blieb aber ohne Antwort. Am 6. Januar 05 fiel eine Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts von Algier, das den drei Tage später geplanten Ausstand per Einstweiliger Verfügung verbot. Bereits in den Tagen zuvor hatte der algerische Bildungsminister Boubekeur Benbouzid in einer Verwaltungsanordnung an seine untergebenen Dienststellen im ganzen Land angeordnet, in dem Fall, dass es zu dem Ausstand komme, den Streikteilnehmern Anteile von ihrem Lohn abzuziehen und die Beteiligten gerichtlich zu verfolgen [11] . Dem CNAPEST blieb nichts anderes übrig, als den geplanten Streik abzusagen – nicht ohne nunmehr seinerseits die Justiz anzurufen, aber auch die ILO (Internationale Arbeitsorganisation) wegen Nichtrespekt der gewerkschaftlichen Rechte. Unterstützung erhielt der vor allem außerhalb von Algier in verschiedenen Städten des Landes vertretene CNAPEST vom ebenfalls autonomen „Rat der Oberschulen von Algier“ (CLA, Conseil autonomes des lycées d‘Alger). Beim CLA handelt es sich um eine dezidiert linke Basisgewerkschaft, die derzeit nur Lehrer/innen im Hauptstadtbezirk Algier organisiert; sein Wortführer ist der unabhängige Marxist Redouane Osmane (auch Othmane geschrieben, je nach Transkription aus dem Arabischen). CLA und CNAPEST hatten von September bis Dezember 2003 zusammen einen drei Monate andauernden, „harten“ Lehrerstreik angeführt. Damals ging es vor allem um Lohnerhöhungen, mit der Hauptforderung nach einer Anhebung der Lehrergehälter um – 100 Prozent. Hintergrund dafür ist, dass (laut Redouane Osmane) ein Oberstufenlehrer 1990 noch circa das Fünffache des gesetzlichen Mindestlohns SNMG verdiente, 2003 aber nur noch das 1,8-fache infolge eines Jahrzehnts sozialer Regression. Deshalb gäben viele Lehrer/innen außerhalb der regulären Unterrichtsstunden noch Privat- oder Nachhilfestunden, um materiell überleben zu können, da ein Lehrergehalt in der Familie (wenn kein/e arbeitende/r Partner/in vorhanden ist) heute in Algier kaum ausreicht, Wohnungs- und Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Redouane Osmane etwa lebt, im Alter von bald 50 Jahren, deswegen bei seiner Mutter. Das genannte Phänomen führte aber dazu, dass der kollektive Schulunterricht immer bedeutungs- und niveauloser wird und viele Lehrer/innen notgedrungen versuchen, sich vor allem auf den Privatunterricht zu konzentrieren. Ergebnis der Streikbewegung vom Herbst 2003 war, dass die Lehrerlöhne tatsächlich um 5.000 Dinar oder 50 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns angehoben wurden. Aber auch, dass Mitglieder von CLA und CNAPEST gerichtlich verfolgt und, in zunächst 200 bis 300 Fällen, aus dem Schuldienst entlassen wurden. Das Protokoll zum Streikende vom 7. Dezember 03 sieht dann aber die Rücknahme der Entlassungen vor. Der CLA hatte den Streik innerhalb der Hauptstadt Algier angeführt, der CNAPEST in den übrigen Städten. Einen Zusammenschluss zu einer einheitlichen Organisation lehnte der linke CLA damals ab, da er befürchtete, darin einige progressive „Eigenheiten“ aufgrund der konservativeren Praktiken in der „Provinz“ zu verlieren. So sind 60 Prozent der Delegierten des CLA, bei dem eine ständige Ämterrotation praktiziert wird, Frauen. (Interview des Autors mit Redouane Osmane, 6. Mai 2004) In der jüngsten Affäre um den gerichtlich annullierten Streik ging vor allem der hauptstädtische CLA schnell in die Offensive. Er ergriff die Initiative zu einem (nicht angemeldeten) Sit-in vor dem Rektorat von Algier am 10. Januar, das eine halbe Stunde lang für einen Stau auf der Avenue Mohammed V sorgte und dann unter dem Druck der (friedlich bleibenden) Polizei in Ruhe aufgelöst wurde. Daran nahmen etwa 50 bis 100 AktivistInnen teil [12] . Der CLA schlägt ferner vor, einen Streiktag zu den Fragen des Gewerkschafts- und Streikrechts zu organisieren. Auch die, ebenfalls autonome und eher linke, Hochschullehrergewerkschaft CNES, die seit längerem an den Universitäten aktiv ist, scheint dafür aufgeschlossen zu sein. Diese autonomen Gewerkschaftsorganisationen sind auch in einem „Landesweiten Rat für gewerkschaftliche Freiheiten“ (CNLS) zusammen geschlossen. Neben den progressiven autonomen (Basis-)Gewerkschaften à la CLA oder CNES sind allerdings nicht alle außerhalb der UGTA stehenden Organisationen auch kämpferisch und fortschrittlich. Unter den Lehrern und sonstigen Staatsbediensteten gibt es weitere Gewerkschaften (SATEF, CNAPAST, ..), die zwar dem bürokratischen Apparat der UGTA „entfliehen“ wollen, aber ansonsten oftmals ein eher moderates bis gelbes Profil aufweisen. Neben den mehr oder minder gewerkschaftlich organisierten Streikbewegungen bilden die „émeutes“, also jene Mischung aus Elendsrevolte und Bürgerbewegung, eine typische Protestform im Algerien der letzten Jahre. Ähnlich wie die jüngsten Unruhen aufgrund der Erhöhung der Gas- und Treibstoffpreise (siehe oben) kam es so in den letzten Jahren zu einer Fülle spontaner, aber zumeist räumlich begrenzter Unruhen. Ihre charakteristischen Merkmale sind die Abwesenheit einer längerfristigen Organisierung und eines strukturierten, „politischen“ Diskurses, ihr lokaler Charakter und ihr meist sponates und eruptionsartiges Anschwellen. Ihre Ursache ist die flagrante Nichtbefriedung eines oder mehrerer, elementarer sozialer Bedürfnisse. Aber den Anlass können vielfältige Ereignisse, wie auch mitunter Gerüchte, liefern. Eine Sonderstellung nehmen die Riots aus Anlass der Vergabe von Sozialwohnungen ein, die in Algerien seit dem Jahr 2000 zum chronischen Dauerzustand geworden sind. Ursprünglich brechen diese lokalen Unruhen meist aus, wenn die Liste mit den Namen der Empfänger staatlich zugeteilte Sozialwohnungen errichtet wird. Oftmals gibt es dabei auch einen guten Grund, denn in häufigen Fällen finden sich tatsächlich „nicht wirklich“ oder jedenfalls nicht vorrangig Bedürftige auf diesen Listen – der Cousin dieses oder die Tochter jenes Kommunalparlamentariers, oder der Bekannte vom Vetter vom... Dabei ist diese Dynamik mittlerweile aber zum Selbstläufer geworden, denn es ist in vielen Kommunen mithin schlechterdings unmöglich geworden, überhaupt noch mit öffentlichen Mitteln errichtete Sozialwohnungen zu verteilen: Wenn es im Durchschnitt 100 „Angebote“ und 8.000 Anträge von Bedürftigen gibt, dann existiert schlechthin keine Lösung, die zumindest einer relevanten Anzahl unter den Beteiligten als halbwegs gerecht erscheinen könnte. Eine Mehrheit von Betroffenen wird sich stets benachteiligt fühlen. Bei diesem Verhältnis von Bedarf und zur Verfügung stehenden Sozialwohnraum wird jede Verteilung als Lotterie erscheinen müssen. Zuletzt kam es deswegen im Dezember zu heftigen Unruhen in El-Kerma, im Hinterland der westalgerischen Metropole Oran. Anscheinend war tatsächlich auch Vetternwirtschaft seitens der beteiligten Kommunalparlamentarier im Spiel. Zunächst protestierten die abgewiesenen Antragsteller für staatlich erbaute Sozialwohnungen, deren Anträge teilweise auf den Tod des Präsidenten Houari Boumedienne zurückgehen (und der starb im Dezember 1978), vor und im Rathaus. Als das nichts fruchtete, zogen sie los und blockierten die Überlandstraßen und brennenden Autoreifen. Der Wali (Präfekt) der Regionalmetropole Oran musste schließlich schlichten und versprechen, eine Überprüfung der im Rathaus ausgehängten Listen durch eine Schiedskommission werde stattfinden. Doch am 12. Dezember kam es zur Eskalation, nachdem die „Aufrührer“ – deren Profil einem Querschnitt aus der örtlichen Bevölkerung entsprechen dürfte – nunmehr den Rücktritt des Bürgermeisters und des gesamten Kommunalparlaments wegen Korruption und Vorzugswirtschaft forderten. Die Protestierer, vor allem die jüngeren unter ihnen, lieferten sich ein paar Stunden lang Straßenschlachten mit den Polizeikräften und der herbei gerufenen Verstärkung. Der Innenminister in Algier, Yazid Zerhouni, hatte nach unbestätigten Angaben bis dahin persönlich angeordnet, die ursprüngliche Liste zur Verteilung der Sozialwohnungen zu annullieren [13] . Derzeit ist die Neuuntersuchung noch beim Bezirksparlament in Oran anhängig, doch einige Bürger glauben nicht mehr an eine gerechtere Lösung und sprechen etwa von einem Offizier, der um jeden Preis sein Töchterlein auf der Liste der BezieherInnen der umstrittenen Sozialwohnungen halten wolle. Anlässlich der Ereignisse von El-Kerma wurden auch
eine Reihe von Festnahmen vorgenommen. Als Konsequenz aus diesen neuerlichen „Wohnraum-Riots“, denen bereits 2000 und 2001 heftige örtliche Unruhen vorausgingen, hat die Zentralregierung nunmehr eine weitgehende Neuordnung der Vergabe von Sozialwohnungen beschlossen. Den Kommunen wird diese Vollmacht nunmehr entzogen, da einerseits zu viel (Verdacht von) Vetternwirtschaft und andererseits zu wenig Autorität auf ihrer Seite stehe. Stattdessen wird die Verteilung nunmehr auf der Ebene der Daïra (Kreis, Unterpräfektur) bei einer „Technokratenkommission“, wie es ziemlich offiziell heißt, angesiedelt (Wohnungsbauminister Mohamed Hamimid: „Ein Team von Technokraten könnte das erledigen“). Diese hat zugleich den Vorzug und den Nachteil, wesentlich weiter weg von den örtlichen „Verteilungskämpfen“ zu sein: Einerseits bestehen weniger Verbindungen zu den unmittelbar Betroffenen und damit vielleicht auch weniger Versuchungen, diesem oder jener Bekannten um jeden Preis die von so Vielen dringend benötigten Sozialwohnungen zuzuschustern. Auf der anderen Seite wird bemängelt, dass auch die bisher (theoretisch) erforderte Sozialuntersuchung, in Gestalt einer Diskussion im kommunalen Ausschuss über die konkreten sozialen Situationen der einzelnen Antragsteller, nunmehr im Prinzip entfällt: Entschieden wird künftig nach Aktenlage [16] . Zum Jahresende 2004 waren insgesamt 55.000 Sozialwohnungen „aufgelaufen“, deren Verteilung sich aus den genannten Gründen als momentan unmöglich erwies, 2.000 davon in der Hauptstadt Algier. Diese Wohnungen, die im Laufe der Zeit zu zerfallen drohen und für deren Zuteilung normalerweise der vergangene 31. Dezember die „Deadline“ bildete, sollen nunmehr auf dem „technokratischen“ Wege verteilt werden. Auf fernere Sicht hin soll ein von Staatspräsident
Abdelaziz Boutefliqa aufgelegtes Bauprogramm Abhilfe schaffen: In der
laufenden Amtsperiode sollen, im Zeitraum 2005 – 2009, insgesamt
1, 075 Millionen Wohnungen (davon circa 300.000 Sozialwohnungen) neu errichtet
werden. Das erlaubt im Prinzip der derzeit hohe Rohölpreis auf den
Weltmärkten, der im Moment für volle Staatskassen sorgt. Noch
aber sind die Wohnungen nicht gebaut, die bürokratischen Mühlen
des Staatsapparats mahlen langsam, dort wie in der Privatwirtschaft grassiert
die Korruption – und wehe, wenn die Ölgelder vielleicht demnächst
nicht mehr so üppig sprudeln sollten... Siehe auch: Algerien - Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land. Informationen zum Buch von Bernhard Schmid (ISBN: 3-89771-019-6) beim Unrast Verlag (1) Vgl. Le ministre de la Solidarité
nationale réfute l’existence de la pauvreté en Algéerie,
in: La Tribune (Algier) vom 06. Januar 05. |