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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Tibet - und kein Ende?

Plötzlich interessiert sich alle Welt für Tibet und wieder einmal, weil es politisch passt, für die Menschenrechte. In China, versteht sich. Und die Olympiadebatte wird losgetreten: So weit, so gut - aber hat jemand zum Boykott der Coca Cola Olympiade aufgerufen, als diese 1996 am Geschäftssitz von Killer Coke stattfand, nachdem das Unternehmen "das Event" eingekauft hatte? Zum Boykott der Fußball-WM in der kriegsführenden BRD? Und wie sieht das ganze Problem eigentlich aus, wenn mensch weder neureich noch gläubig ist? Soll mensch sich jetzt zwischen dem Generalsekretär der herrschenden Partei Chinas und dem Generalbuddha von Tibet entscheiden? Eine Entscheidungshilfe, wenn auch nicht unbedingt zu dieser so gestellten Frage soll unsere aktuelle und kommentierte Materialsammlung "Tibetfrage und soziale Frage" vom 29. April 2008 geben.

Tibetfrage und soziale Frage

Viel interessante Beiträge mit historischen und Hintergrundinformationen sind auf der Sonderseite des Essener Asienhauses "Tibet, China und die Diskussion um Olympia" externer Link gesammelt, die dazu dienen sollen, eine differenzierte Diskussion zu ermöglichen.

Da zur sozialen und politischen Entwicklung in der VR China im LabourNet Germany sehr viele Berichte, Materialien und Diskussionsbeiträge vorliegen, soll an dieser Stelle aus der oben erwähnten Asienhaus-Seite vor allem auf den Beitrag "Friendly Feudalism: The Tibet Myth" externer Link von Michael Parenti vom Januar 2007 verwiesen werden, der dem Mythos des freundlichen Feudalismus versucht, mit historischen Fakten zu begegnen, zum Beispiel mit Hinweis auf die Äußerung des 5. Dalai Lama im Jahre 1660, aus Anlaß einer militärisch niedergeschlagenen Revolte, als er forderte, seine Gegner wie "Eier am Felsen" zu zerschlagen und nicht einmal ihre Namen übrig zu lassen...

Einen genaueren Blick hinter die allseits berichteten Ereignisse - militante Demonstrationen, Armeeeinsatz, ethnische Gegensätze der Tibeter gegen Han (in der Autonomen Region Tibet) und Hui (in den Nachbarprovinzen) sowie der wirtschaftlichen Lage Tibets - versucht der Hongkonger Professor Barry Sautman in seinem Beitrag "Protests in Tibet and Separatism: the Olympics and Beyond" externer Link der am 1. April 2008 bei "Black and white cat" publiziert wurde. Zum einen befasst er sich mit den Differenzen zwischen Sepratisten und Autonomisten innerhalb der Tibeter, zum anderen gibt er auch einige Informationen zum ökonmischen Hintergrund in der Region, die seiner Aussage nach keineswegs die Ärmste in China sei, wie oft behauptet - und dass viele der in den letzten 20 Jahren nach Tibet migrierten Hans in Wirklichkeit aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung kämen, deren Versuche, sich mit Handel in den tibetischen Städten über Wasser zu halten in zwei von drei Fällen scheiterten. Die Rivalität von Verlierern der offiziellen chinesischen Wirtschaftspolitik ist in seiner Analyse ein wesentlicher Grund der aktuellen Auseinandersetzung.

Historische Exkurse - wann Tibet wo und wie dazu gehörte, selbstständig war, beherrscht wurde gehören logischerweise zum Verständnis der aktuellen Entwicklung und wurden auch zuhauf, in unterschiedlichsten Interpretationen angeboten. Zumeist mit dem Sprung von 1959 zur Gegenwart. Sehr wenig war zu lesen oder zu hören und sehen von den Jahren dazwischen: etwa darüber, was in Tibet in der Kulturrevolution passierte.

Der chinesische Autor Wang Lixiong - der keineswegs ein Freund der Kulturrevolution ist - bearbeitet in seinem Beitrag "REFLECTIONS ON TIBET" externer Link der in der "New Left Review" vom März/April 2002 erschien, gerade diese Ereignisse. Auch er reisst zunächst knapp die kaiserlich-chinesische Formalherrschaft über tibet ab, die mit der bürgerlichen chinesischen Revolution von 1911 endete - und verweist darauf, dass der Prozeß der Modernisierung Tibets(Armee, Banken, Post, Wirtschaft und Handel) vom Dalai Lama in jenem Moment gebremst wurde, als aus der (britisch beeinflussten) tibetanischen Armee heraus Bestrebungen organisiert wurden, ihn zu stürzen. Die Rebellion der tibetischen Offiziere wurde niedergeschlagen, die Armee faktisch so weit geschwächt, dass sie Kriege gegen chinesische Warlords verlor - worauf Tibet in den 30er Jahren wieder versuchte, Chinas Schutz zu finden. Im Vertrag von 1951 wurde die chinesische Oberhoheit anerkannt, die Politik "ein Land, zwei Systeme" entwickelt und die Lamas in den Volkskongress aufgenommen. (Das alles im Beitrag sehr ausführlich und mit vielen Zahlen). Der Aufstand von 1959 hatte denn auch vor allem zwei Gründe: Zum einen die sozialen Maßnahmen in der gesamten VR China, also auch in den an die Autonome Region Tibet (ART) angrenzenden Provinzen, in denen ja rund die Hälfte aller Tibeter lebte. Zum anderen - obwohl die ökonomischen Strukturen der ART nicht angetastet wurden, einige Maßnahmen, die auch hier galten: kostenlose staatliche Schulen und ein Lohnsystem für die Arbeiter im Straßenbau, das war den in Tibet herrschenden Kreisen schon zuviel.

Das interessante an Lixiongs Artikel ist nun, dass er die Entwicklung nach 1959 keineswegs lediglich in der Konfrontation Tibeter gegen Han analysiert, sondern nachweist, dass es - mit sehr viel Schwierigkeiten aufgrund der religiösen Tradition in einem Volk, dessen männliche Bevölkerung in bestimmten früheren Zeiten bis zu einem Viertel aus Mönchen bestand - sehr wohl eine einheimische Bewegung gab, die sich gegen die traditionellen Verhältnisse wandte. "Importierte" Rotgardisten hätten die spätere breite Bewegung gegen diese Traditionen niemals tragen können, da ihre Zahl dafür immer zu gering gewesen wäre. Diese Bewegung sei erst zum Halt gekommen, als die tibetischen Bauern ihr eben erst erhaltenes Land durch die geplante Einrichtung der Volkskommunen wieder gefährdet sahen. Die spätere Politik der neuen Parteispitze, die Kulturrevolution zu verurteilen führte einerseits zur - ebenfalls oft "ausgeblendeten" - Tibetanisierung der regionalen Führungsposten, und: zur Rückkehr zu den religiösen Autoritäten. Dies sei, so schrieb der Autor 2002, die Voraussetzung für eine abermalige Konfrontation...

Ähnlich "zwischen den Mythen" versucht auch William Wharton beim WW4 Report in seiner Buchbesprechung von "A TIBETAN REVOLUTIONARY - The Political Life and Times of Bapa Phuntso Wangye" von Melvyn C. Goldstein, William R. Siebenschuh und Dawei Sherap erschienen bei der University of California, 2004 zu argumentieren. Die Rezension "MEMOIRS OF A TIBETAN MARXIST" externer Link zeichnet diesen Lebensweg als geradezu exemplarisch für tibetanische Kommunisten nach.

Der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung Chinas und ihren Auswirkungen auf Tibet ist der Beitrag "The Real Reason For The Tibet Protests" externer Link von Yoichi Shimatsu vom 6. April 2008 bei der US-Zeitschrift Asian Week gewidmet. Darin wird unter anderem die Situation der tibetischen Schafzüchter ebenso analysiert wie die ihrer Konsumenten in US-unternehmen in der Chinesischen Hauptstadt...

Der Beitrag "Tension in Tibet: Political dialogue only key to lasting solution" externer Link von Kavita Krishnan, der Anfang April 2008 in der australischen "Links" erschien ist aus zwei Gründen von besonderem Interesse: zum einen ist der Autor Herausgeber der "Liberation" dem Zentralorgan der KP Indiens (M-L) und damit Vertreter einer Strömung, die der heutigen chinesischen Politik sympathisierend gegenübersteht - und Indien ist das Exil des Dalai Lama; zum anderen versucht er, sich von der blanken Repression zu distanzieren, und die alte Politik des "ein Land, zwei Systeme" wieder zu beleben.

In seinem Beitrag "No Shangri-La" externer Link weist Slavoj Zizek am 18.April 2008 bei europe-solidaire darauf hin, dass es einerseits seit 1950 immer wieder Versuche des CIA gegeben habe, die Widersprüche in Tibet auszunutzen, andrerseits der Dalai Lama und seine Herrschaft vor allem in esoterischen westlichen Strömungen als Orientierungspunkt gesehen werde, ohne die Wirklichkeit zu kennen, oder kennen zu wollen. Der autoritäre Einsatz der Staatsmacht sei für China wegen des auch dadurch zustandegekommenen wirtschaftlichen Erfolges - auch in Tibet - naheliegend und vielleicht gar ein Modell für künftige kapitalistische Politik schlechthin, da demokratische Rechte zunehmend störend wirkten.

Auf der anderen Seite: Eine ganze Reihe asiatischer NGOs haben am 3. April 2008 eine gemeinsame Stellungnahme gegen die Unterdrückung der Proteste in Tibet verabschiedet mit der Überschrift "A Statement of Concern on the Situation in Tibet from Asian NGOs" externer Link (ebenfalls bei europe-solidaire veröffentlicht) in der an alle Seiten - zuvorderst an die chinesische Regierung - appelliert wird Deeskalation zu betreiben. Die Aufforderung "mit dem Dalai Lama und anderen Kräften" in einen Dialog zu treten, weist darauf hin, dass es innerhalb der vielen unterzeichnenden Gruppierungen unterschiedliche Auffassungenbezüglich des Dalai gibt.

Nachdem in den Tagen nach den Auseinandersetzungen Youtube in China blockiert war, gab es bei China digital einen Überblick über Reaktionen aus China und Tibet im Netz - mit oft deutlich nationalistischem Einschlag: "Netizens Find Space to Comment on Lhasa Riots" externer Link wurde Mitte April 2008 zusammengestellt.

(Zusammengestellt und kommentiert von hrw)


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