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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Selbstorganisation Begriff, Konzepte, Erfahrungen – ein deutsch-chinesischer Austausch, Teil I 200 Millionen WanderarbeiterInnen, die kaum soziale und politische Rechte haben; ein Gewerkschaftsdachverband, der zwar der größte der Welt ist, aber in Privatunternehmen kaum Fuß fasst und im Übrigen eng an die Direktiven der Partei gebunden ist; keine Koalitionsfreiheit für die Beschäftigten und miserable Arbeitsbedingungen: eine Melange, die es in sich hat, zumindest im vergangenen Jahr eine Vielzahl von Arbeitskonflikten provozierte – und offensichtlich Eigeninitiative herausfordert. In kürzester Zeit sind in China eine Reihe von unabhängigen Initiativen entstanden, die auf die defizitäre Situation reagieren und die Interessenvertretung der Beschäftigten »selbstorganisiert« in die Hand nehmen. Einmal mehr ließe sich also fragen, was von China lernen heißen könnte. Vom 9.-24. Oktober 2010 fand im Rahmen des Projekts »Forum Arbeitswelten« eine Begegnungsreise zum Thema »Selbstorganisierung in China und Deutschland« statt. Auf chinesischer Seite beteiligten sich neun TeilnehmerInnen,[1] allesamt VertreterInnen sog. »NGOs«, die sich in unterschiedlicher Weise der Unterstützung von WanderarbeiterInnen widmen. Sie hatten im Rahmen des zweiwöchigen Programms Gelegenheit, mit KollegInnen aus Gewerkschaften, antirassistischen und Erwerbslosen-Initiativen, Kulturzentren, MigrantInnen-Vereinen, Anlaufstellen für Undokumentierte und prekär Beschäftigte u.ä. in Deutschland zu diskutieren. Das Anliegen war durchaus ambitioniert: Schon in der deutschsprachigen Debatte ist alles andere als klar, wofür der philosophisch und politisch aufgeladene Begriff Selbstorganisation steht, schon gar: warum und wozu auf entsprechende praktische Konzepte rekurriert wird und wie diese in eine übergreifende gewerkschafts- und gesellschaftspolitische Perspektive eingebettet sind. Kontroversen sind in diesem Zusammenhang wenig überraschend, der Verständigungsbedarf scheint hoch. Überraschungseffekte ergaben sich erfreulicherweise jedoch quer zur Herkunft der TeilnehmerInnen. Letztere müssen wir hier, auch aus Rücksicht auf unsere Gäste, leider anonymisiert wiedergeben, da die chinesische Regierung sich alles andere als lernfähig im Umgang mit Kritik an der Partei zeigt, wie die jüngste Verhaftung eines »Promis« wie dem Künstler Ai WeiWei demonstriert. Einen Höhepunkt der zweiwöchigen Reise bildete der Workshop »Begriff und Praxis der Selbstorganisation: Konzepte und Erfahrungen« vom 15.-17. Oktober im Tagungshaus St. Georg / Köln. Arbeitsthese für die Konferenz war die Annahme, dass es durch den Prozess der Globalisierung auch zu einer weltweit feststellbaren Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse komme. Diese äußere sich allerdings unterschiedlich: Während in den entwickelteren Industriegesellschaften, ausgehend von einem oftmals höheren Niveau sozialstaatlich abgesicherter Ansprüche der Lohnabhängigen, eher ein Abbau von sozialen Rechten zu konstatieren sei, würden Lohnabhängigen in aufstrebenden ökonomischen Entwicklungszentren soziale Rechte, die historisch vielfach als automatisch mit der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse verbunden assoziiert werden, von vornherein vorenthalten. In beiden Fällen treffe dies zunächst migrantische Arbeitsverhältnisse, die insofern als Experimentierfelder für künftige Entwicklungen gelten können. Trotz bzw. unabhängig von dieser Parallele bestehe in der ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung eine Vielzahl unterschiedlicher Vorstellungen, Kulturen und historischer Erfahrungen, wie dem allgemeinen Ziel einer sozialen Emanzipation von Unterdrückung und Ausbeutung zu begegnen sei. Diese unterschiedlichen Kulturen, Auffassungen und Praktiken zu verstehen und vor dem Hintergrund der aktuellen ökonomischen Situation die Frage nach adäquaten, eventuell sogar gemeinsamen Formen von Organisierung, Interessenartikulation und -vertretung zu diskutieren, war zentrales Ziel des Workshops. Eine Voraussetzung für diese Diskussion und die damit verbundenen Anliegen war die Klärung der Frage, ob und inwiefern sich die vermuteten Zusammenhänge zwischen Globalisierung, Prekarisierung und Migration in China und Deutschland vergleichen ließen – und welche Erfahrungen, Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich der praktischen Implikationen für Interessenvertretung hierzu vorliegen. Ein interessantes Experiment zu Beginn des Seminars machte dabei die unterschiedlichen biographischen »Betroffenheiten« deutlich: Während (fast) alle deutschen TeilnehmerInnen angaben, Mitglied in einer Partei oder parteiähnlichen politischen Gruppe zu sein oder gewesen zu sein, galt dies für die meisten chinesischen Gäste nicht. Nahezu spiegelverkehrt verhielt es sich dagegen hinsichtlich der Erfahrungen mit Diskriminierung... In seinem Auftaktbeitrag bezog sich ein Vertreter der in Hongkong ansässigen Organisation »Gobalization Monitor« auf exemplarische Selbstorganisationsansätze vor 1949 – für die Phase danach könne sinnvoll nicht von Selbstorganisation gesprochen werden. In den frühen 1920ern jedoch habe es Proteste in der Arbeiterbewegung gegeben, die von einem beachtlichen Maß an Selbstorganisierung gekennzeichnet gewesen seien. Er erinnerte etwa an den Streik der Seeleute 1920-21, der die Grundlage für den 16 Monate dauernden Generalstreik 1925/26 in Hongkong und Kanton mit mehreren 10000 TeilnehmerInnen, vor allem HafenarbeiterInnen und Beschäftigten aus Verkehrsbetrieben, gebildet habe. Mit diesem Streik hätten sie ihren Teil zur Beseitigung der britischen Kolonialherrschaft beitragen wollen, indem sie unter dem Slogan »Wir gehen zurück nach Kanton«, dem Herkunftsort der meisten Beschäftigten, damit gedroht hätten, die Ökonomie Hongkongs lahmzulegen. Die KP habe diesen Streik zwar unterstützt, und auch die Kolonialherren hätten die KP dafür verantwortlich gemacht und kritisiert. Dagegen verwies der Referent darauf, dass die KP Anfang der 1920er-Jahre landesweit rund 60 und in Hongkong nur zehn Mitglieder gehabt habe – ein klarer Fall von Überschätzung ihrer organisatorischen Fähigkeiten. Wesentlich für das Begreifen von Arbeiterselbstorganisierung sei jedoch nicht das ›Etikett‹ oder die ›Fahne‹, unter der diese aufträten, sondern dass solche Prozesse des »Selbstlernens« stattfänden. So seien viele der in den Streik involvierten ArbeiterInnen in diesem Fall gar nicht Mitglied einer Gewerkschaft oder gar der KP gewesen, sondern hätten sich erst im Laufe ihres Kampfes gegen den Kolonialismus und des Streiks zu einer revolutionären Bewegung mit spezifischen Organisationsformen entwickelt – ähnlich wie die Sowjets 1917 in Russland oder die Räte 1919 in Deutschland. Willi Hajek (TIE-Bildungswerk e.V.) gab einen kurzen Rückblick auf die Geschichte der Selbstorganisation und erinnerte daran, wie eng die Idee der Selbstbestimmung historisch mit der Arbeiterbewegung verbunden sei. Dies komme u.a. in dem Slogan der Internationale (»kein Gott, kein Kaiser noch Tribun ... ») zum Ausdruck, aber auch in der Massenstreikdebatte Rosa Luxemburgs, in der der Streik als Lernerfahrung und politische Artikulationsform in einem thematisiert worden sei. Nicht erst, aber vor allem in der 1968er-Bewe-gung und anschließend sei es zu einem Aufbruch in den Betrieben gekommen, der sich in einer Vielzahl »wilder« Streiks, u.a. in dem berühmten 1973er-Streik bei Ford in Köln gezeigt habe. Die Arbeiterbewegung sei neu bzw. wieder entdeckt worden, viele StudentInnen seien in die Betriebe gegangen. Politisch sei es vor allem um die Idee eines Selbstverwaltungssozialismus in Abgrenzung zur »alten« Arbeiterbewegung und den »staatssozialistischen« Erfahrungen in bzw. mit der DDR und der Sowjetunion gegangen. Ganz anders dagegen die Situation, die er etwa für die letzten zehn Jahre konstatierte: Heute stelle sich die Idee der Selbstorganisierung aufgrund des Absentismus der klassischen Vertretungsorganisationen – Gewerkschaften und Parteien – neu. Dies äußere sich in einer Vielzahl vereinzelter, teils individueller, teils betrieblicher Auseinandersetzungen bis hin zur Neugründung oder Verselbständigung von Gewerkschaften – etwa der SUD in Frankreich, der GDL in Deutschland. Während die anschließende Debatte einerseits von einer durchgängigen Sympathie für die Idee der Selbstorganisation getragen war, zeigte sich andererseits, dass damit durchaus Unterschiedliches verbunden wurde. So galt das Interesse zunächst der Frage nach den Gründen für die Attraktivität der »großen« Arbeiterorganisationen, der Gewerkschaften und Parteien: Warum etwa sei es zu einem Niedergang der Studentenbewegung und zur Absorption der Arbeiterproteste der 60er-/70er-Jahre gekommen? Warum sei es nicht gelungen, diese Unabhängigkeit ›auf Dauer‹ zu stellen? Oder – mit genau entgegengesetzter Perspektive: Wie könne es gelingen, spontane Formen der Selbstorganisierung in kontinuierliche Organisationsformen zu überführen? Gegen die These von dem Bewusstsein bzw. der Idee der Selbstbestimmung, die aller Aktion vorangehe, wurde auf Bedingungen und Voraussetzungen verwiesen, die Prozesse der Selbstorganisation beförderten oder behinderten. Der GM-Mitarbeiter etwa sah in der restriktiven rechtlichen und politischen Situation Chinas ein entscheidendes Hemmnis für eine Verbreiterung der bisherigen, spontan entstehenden und isoliert bleibenden Arbeitskämpfe. Zwar sei das Entstehen von Streiks trotz hartnäckiger Bemühungen seitens der Regierung nicht mehr per se durch die jeweiligen Regierungsebenen bzw. die Polizei verhinderbar. Doch selbst wenn es den ArbeiterInnen punktuell gelänge, den Arbeitgebern Konzessionen abzuringen, führe dies nicht zu einer substantiellen Änderung der Arbeitsbeziehungen. Dafür seien langfristige Organisierungsbemühungen und die Entwicklung eines Klassenbewusstseins insbesondere unter den WanderarbeiterInnen notwendig, wozu auch die Vermittlung eines Bewusstseins für die legitimen und die Weiterentwicklung der gegebenen Rechte zähle. Bildung und Rechtsbewusstsein stellten für ihn wichtige Ansatzpunkte zur Entwicklung von Klassenbewusstsein dar. Ein Kollege von einer Beratungsorganisation für ArbeitnehmerInnen in Guangzhou vertrat dagegen die Position, dass das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen sich nur in und durch Kämpfe bilde und nicht ›verordnet‹ werden könne. Christian Frings sah in den Streiks bei Honda einen Beleg für diese »spontane Intelligenz« und bescheinigte den Arbeiterunruhen im Frühjahr und Sommer 2010 eine »weltgeschichtliche Bedeutung«, da diese u.U. auch die westlichen Hoffnungen, durch die Entwicklung der chinesischen Märkte einen Weg aus der Krise zu finden, erschütterten. Insgesamt war das Interesse an einer Einordnung der jüngsten Arbeiterunruhen in China sowohl unter deutschen wie chinesischen TeilnehmerInnen groß. Bezug genommen wurde dabei u.a. auf eine These Lin Yanlings, Professorin am Gewerkschaftsinstitut in Beijing, die 2008 mit einer Gruppe von AkademikerInnen und Gewerkschaftern auf Einladung des Otto Suhr-Instituts der FU Berlin und der Asienstiftung durch Deutschland gereist war: Sie hatte im Rahmen eines Vortrags anlässlich des Union Summers deutscher Gewerkschaften in Berlin 2010 auf die Bedeutung des Honda-Streiks für die Reform der bzw. Bildung von Gewerkschaften verwiesen. Da der staatlich kontrollierte ACFTU (All-Chinesische Gewerkschaftsbund) den Kontakt zu den Beschäftigten verloren habe, komme es zunehmend zu eigenständigen Aktionen der ArbeiterInnen, die – entgegen der bisherigen Praxis einer Einsetzung der betrieblichen Interessenvertretungen von oben – u.a. auch die Wahl gewerkschaftlicher Betriebskomitees durch die Beschäftigten selbst forderten. Könne also, so die Frage Bodo Zeuners, davon ausgegangen werden, dass der ACFTU, über die bisherigen Zugeständnisse in Form des kürzlich neu geschaffenen Arbeitsvertragsgesetzes hinaus, durch diese Arbeiterunruhen in ganz anderer Weise unter Reformdruck gesetzt werde, als der Gewerkschaftsdachverband und die Regierung sich dies erhofften? Der Reformdruck sei bekannt und anerkannt, doch zugleich sei gerade deshalb, so erläuterten verschiedene chinesische Gäste, eine erhöhte Sensibilität der Behörden festzustellen: Das Budget für innenpolitische Sicherheit sei aufgestockt worden, die Videoüberwachung des öffentlichen Raumes nehme ebenso zu wie Repressionen gegenüber NGOs und unabhängigen Aktivisten der Arbeiterbewegung. Unterschiedlich hingegen war die Einschätzung bezüglich der Entwicklungen des ACFTU. Während einige TeilnehmerInnen hier deutliche Zeichen für mehr Bewegungsfreiheit – etwa im Fall Wal Mart oder Ole Wolff – sahen, verneinten andere die Reformierbarkeit der Staatsgewerkschaft nicht nur grundsätzlich aufgrund ihrer fehlenden Unabhängigkeit vom Regierungsapparat, sondern auch, weil der ACFTU ohnehin nur noch in einem Bruchteil von Unternehmen, den ehemaligen oder noch existierenden Staatsbetrieben, präsent sei. Für das Gros der Beschäftigten, die vor allem in Privatunternehmen beschäftigten WanderarbeiterInnen, habe der ACFTU keinerlei Relevanz und biete auch keine Perspektive. Gerade die zweite Generation der WanderarbeiterInnen, die – im Unterschied zu jenen, die nach der marktwirtschaftlichen Öffnung der 80er-Jahre in die Sonderwirtschaftszonen kamen – in den Städten bleiben wollten, statt in ihre Herkunftsregionen zurückzukehren, sei vollständig unorganisiert, habe »keine Identität« und verfüge auch über »keinerlei politische Orientierung«. Jenseits der Frage nach der Reformierbarkeit des ACFTU war damit eine von fast allen geteilte Aufgabenstellung für die chinesischen Projekte benannt. Der Samstag war vor allem der Präsentation der acht chinesischen und fünf deutschsprachigen Initiativen (eine davon aus der Schweiz) gewidmet. Dabei zeigten sich, neben einer Reihe von Gemeinsamkeiten, deutliche Unterschiede nicht nur in der Begründung der jeweiligen Ansätze und im Selbstverständnis, sondern auch in den Perspektiven, die mit dem Begriff Selbstorganisation verbunden werden – und zwar unabhängig davon, ob die TeilnehmerInnen aus China oder Deutschland bzw. der Schweiz stammten. Nahezu durchgängig wurde die Gründung der chinesischen Initiativen auf das Fehlen adäquater Interessenvertretungsstrukturen für Lohnabhängige, insbesondere aber WanderarbeiterInnen zurückgeführt. Während einige dies jedoch eher für ein Übergangsphänomen hielten, sahen andere darin ein systematisches Problem, das einerseits mit dem erwähnten Charakter des ACFTU als eng an die Regierung gebundene Staatsgewerkschaft und dem Fehlen elementarer Rechte wie der Koalitionsfreiheit, andererseits mit der besonderen Situation der WanderarbeiterInnen begründet wurde. Als »MigrantInnen im eigenen Land« sei diesen der Zugang zu Sozialversicherungen und Bürgerrechten an ihren Arbeitsorten aufgrund des Hukou-Systems, einem Einwohnermeldesystem, das Sozialversicherungen an den Herkunfts- als Meldeort bindet, weitgehend versperrt – ein Charakteristikum migrantischer Arbeitsverhältnisse auch in Europa, wie deutsche Teilnehmer bemerkten. Einige wenige Städte experimentierten zwar mit der partiellen Gewährleistung sozialer Rechte, wie etwa Schulzugang für die Kinder der WanderarbeiterInnen, Krankenversicherung, einer minimalen Arbeitslosenunterstützung. Doch nach wie vor, so berichteten die chinesischen Gäste, sei das Gros der rund 200 Mio. WanderarbeiterInnen von allen sozialstaatlichen Leistungen, die die Risiken der Lohnabhängigkeit abfedern könnten, ausgeschlossen. Am Job hängt somit alles: nicht nur das unmittelbare Einkommen, sondern auch Sozialleistungen, die zum Teil von den Unternehmen finanziert werden. In Verbindung mit der hohen Fluktuation unter den WanderarbeiterInnen – im Durchschnitt blieben die ArbeiterInnen rund 1,5 Jahre an einer Arbeitsstelle – sahen die VertreterInnen der chinesischen Initiativen darin denn auch die zentrale Herausforderung für ihre Arbeit. Denn so sehr die Zunahme von Streiks als Zeichen einer wachsenden Konfliktbereitschaft unter den Beschäftigten zu begrüßen sei, so sehr mangele es nach wie vor an »Rechtsbewusstsein«, »stabileren Organisationsformen« und »längerfristigen Perspektiven«. Aufklärung über bestehende Rechte und Bildungsarbeit mit der Perspektive, die ArbeiterInnen zur Inanspruchnahme ihrer Rechte zu befähigen, stehen entsprechend im Mittelpunkt der Aktivitäten der jeweiligen Initiativen. Vielfach wird dabei die gesundheitliche Situation am Arbeitsplatz als Ansatzpunkt auch für weitergehende Organisierungsbemühungen genutzt: So bietet ein 2004 gegründetes Service-Netzwerk im Perlfluss-Delta mobile Hilfe bei Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Fragen der Arbeitssicherheit. Die vier MitarbeiterInnen fahren mit ihrem Info-Bus in die Viertel der WanderarbeiterInnen und halten Schulungen vor Ort, auf der Straße oder in Ausnahmefällen auch in den Fabriken, unter Einbeziehung des Managements, ab. Das Interesse der Unternehmen an einem Monitoring von Unternehmenskodices, das oft Unfallprävention und Arbeitssicherheit beinhaltet, kann so genutzt werden, um Zugänge zu den Beschäftigten zu erschließen und dann etwa auch Fragen der betrieblichen Interessenvertretung zu thematisieren. Ein wesentliches Ziel der eigenen Aktivitäten bestehe darin, MultiplikatorInnen unter den Beschäftigten zu bilden, denn ohne eine Verbreiterung der Basis lasse sich der immense Bedarf an Beratungsarbeit nicht decken, so die Mitarbeiterin des Netzwerks. »Symptombehandlung statt Ursachenbekämpfung«, das war auch das selbstkritische Fazit des Vertreters eines Zentrums für Gemeinwesenarbeit in Hongkong, das sich um die Unterstützung von Staublungen-PatientInnen und deren Angehörigen in ländlichen Regionen Chinas kümmert, aber auch Schulungen für aufgeschlossene Beamte, Sozialarbeiter, Lehrer und Management-Vertreter anbietet. Neben der generell schlechteren medizinischen Versorgung der ländlichen Bevölkerung und – auch aus anderen Ländern bekannten – Auseinandersetzungen mit Behörden um Verursachungszusammenhänge von Berufskrankheiten und entsprechende Entschädigungszahlungen erschwere der Umstand, dass viele Beschäftigte ihre Arbeitsplätze in besonders gefährdeten Industrien mangels Alternativen nicht wechseln könnten, die eigene Arbeit. Community Care beinhalte daher neben der gesundheitlichen Rehabilitierung vor allem die Entwicklung einer »Gemeinschaftskultur«, z.B. durch partizipative Methoden der Theater-, Musik- und Kulturarbeit, wie sie etwa aus Lateinamerika bekannt seien. Die darin zum Ausdruck kommende Hoffnung, mittels Kulturarbeit breitere Kreise der arbeitenden Bevölkerung zu erreichen, in Verbindung mit einem Multiplikatorenkonzept, das auf dem Prinzip wechselseitiger Hilfe basiert, kennzeichnete auch andere Initiativen. So versucht etwa eine Handvoll AktivistInnen in einer Stadt im ostchinesischem Jiangsu mit einer »Arbeiterbibliothek«, eigenen Theaterproduktionen, einer Literaturgruppe und einer Zeitung, kulturelle Bildung als Mittel der »Identitätsfindung« einzusetzen. Dies nicht etwa, weil das allgemeine Bildungsniveau so gering wäre: Der Mitarbeiter berichtete, dass – bei neun Jahren Schulpflicht – rund 80 Prozent der WanderarbeiterInnen 9-12 Jahre schulische und nachschulische Ausbildung hinter sich hätten (davon ca. 52 Prozent neun Jahre, ca. 27 Prozent zwölf Jahre; Anm. KH). Doch gerade junge WanderarbeiterInnen der Nach-80er-Ge-neration, die »von klein an die Zerstörung einer nur auf Profit ausgerichteten Kultur« erlebt hätten, »soziale Verantwortung und sozialstaatliche Leistungen nicht mehr kennen« würden, hätten kein geschichtliches Bewusstsein ihrer Situation. Ihre gesellschaftliche Verortung falle ihnen schwer, da sie gewissermaßen »zwischen Land und Stadt« lebten, sich weder da noch dort zugehörig fühlten und kaum dafür zu gewinnen seien, sich zu organisieren. Als Beleg verwies er auf eine kürzlich erschienene Studie, nach der nur einer von zwanzig Befragten sich noch als »Bauernarbeiter« verstehe – eine durchaus abwertend verwendete Bezeichnung für die vom Land stammenden WanderarbeiterInnen, die noch einen traditionell agrarischen Hintergrund haben. Alle anderen verstünden sich als »neue Bürger« – denen allerdings, wie erwähnt, die Rechte der Stadtbürger vorenthalten werden. Erschwerend komme noch hinzu, dass Zwölf-Stunden-Schichten, die willkürliche Festlegung freier Tage durch die Unternehmer und insgesamt wenig Freizeit kaum ›Luft‹ ließen, um sich regelmäßig zu engagieren. Damit sich wenigstens in Hinsicht auf die vorhandenen Arbeitsrechte etwas ändert, praktiziert die Handvoll AktivistInnen Krankenhausbesuche, um verletzte ArbeiterInnen über deren Rechte zu informieren und zu beraten, in der Hoffnung, dass diese selbst aktiv werden und ihr Wissen weitergeben. Einen ›Kulturkampf‹ ähnlicher Art führt auch eine weitere, in der Provinz Fujian (gegenüber von Taiwan) ansässige Organisation: Während die Regierung Kulturförderung entweder für Propagandazwecke instrumentalisiere oder, insbesondere Literatur, als Gegenstand »individueller Erbauung« betrachte, biete der Verein, den dessen Vertreter explizit nicht als Organisation verstanden wissen wollte, auf seiner Homepage und in einem Jahrbuch (Auflage: 500) die Möglichkeit der Veröffentlichung eigenständiger literarischer Produktion. Damit könnten die WanderarbeiterInnen ihren Erfahrungen unzensiert einen Ausdruck geben und, mittels Internet-Forum, gemeinsam über künstlerische bis hin zu politischen Fragen debattieren. Das reichte den Behörden offenbar, um die Website zu schließen. Dazu beigetragen haben mag vielleicht die Übersetzung ausländischer Texte, vor allem zur französischen und russischen Revolution, die ebenfalls auf der Homepage erschienen. Möglicherweise war es auch die Devise des Literatur-Blogs: »Unser Fundament sind die Werkstätten«, die einen allzu engen Bezug zwischen Kunst und Kritik nahelegte. Der Mitarbeiter des Vereins zeigte sich zwar skeptisch hinsichtlich des Einflusses dieser Art von kultureller Bildungsarbeit auf die unmittelbare Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, war zugleich jedoch davon überzeugt, dass die Entfaltung künstlerischer Phantasie und sozialer Visionen ein »Element zur Bildung von Klassenbewusstsein« auf dem langen Weg des »Kampfs gegen das Kapital« sein könne. Kirsten Huckenbeck Teil II in der nächsten Ausgabe Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 03-4/11 Einem wurde von der Deutschen Botschaft die Einreise verwehrt, da er als prekär beschäftigter Wissenschaftler ohne ordentlichen Einkommensnachweis nicht glaubhaft machen konnte, dass er nach seinem Aufenthalt in Deutschland wieder nach China zurückkehren würde. |