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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Als wenn ein Renault einen Ferrari verfolgt"
Erinnerungen an Klassenkampf und Putsch in Chile

Carlos Sanhueza-Bunge ist 1974 aus Chile exiliert und lebt seit Anfang der 1980er Jahre in Hamburg. Zur Zeit der Unidad Popular war er Aktivist des MIR[1] in der süd­chilenischen Provinz Concepción. Im Gespräch mit Dirk Hauer erinnert er sich an die sozialen Konflikte während der Regierungszeit Allendes, an die Debatten zwischen den Organisationen der Linken und an die Zeit des Putsches.

Carlos, wie alt warst Du am 11. September 1973? Welche Zukunftsperspektiven hattest du damals für Dich?

Ich war 26 Jahre alt. Wie jedes Mitglied des MIR damals war ich vollkommen erfüllt von den Ideen von Gerechtigkeit, eine gerechtere Heimat zu schaffen mit einem menschenwürdigen Lebensstandard für alle, nicht nur für einige. Ich war damals gerade aus Los Angeles [2] zurück nach Concepción gekommen. Ich hatte studiert und mein Studium aus Geldmangel abgebrochen. In Concepción arbeitete ich in einer Baufirma an der Uni als Vermessungsgehilfe. Ich blieb dort nichtzuletzt auch deswegen, weil ich dort geheiratet hatte.

Hat der Putsch eigentlich "in der Luft gelegen" oder kam er für euch überraschend? Hat sich die Linke in irgendeiner Weise darauf vorbereitet?

Ich würde sagen, es gab überhaupt keine Vorbereitung, auch wenn z.B. der MIR ein Organisationsprinzip hatte, das auf eine drohende Illegalität vorbereiten sollte. Es gab Strukturen, die unabhängig voneinander und teilweise auch abgeschottet gearbeitet haben.

Am 6. August 1973 sind Matrosen und Marineangehörige in Valparaiso, Talcahuano und Punta Arenas verhaftet worden, Soldaten, die sich offen auf die Seite der Unidad Popular gestellt hatten. Allein in Talcahuano sind innerhalb von drei Tagen über 350 Leute festgenommen worden, und wir hatten durchaus Kontakt zu ihnen gehabt. Wir hatten also schon Informationen, die darauf hindeuteten, dass ein Putsch vorbereitet wurde.

Aber das war erst einen Monat vorher. Vorher habt ihr da nicht mit gerechnet?

Die Gerüchteküche brodelte natürlich, und die Zusammenarbeit der Rechten mit dem Militär war selbstverständlich bekannt. Die Frage war eher: Wann würde es knallen? Wir hatten schon damit gerechnet, dass ein Putsch möglich war. Aber wir haben geglaubt, dass eine massive Volksmobilisierung, immer mehr, immer größere Demonstrationen und Besetzungen der UP-Regierung Handlungsspielräume, auch gegen die Rechten und das Militär, eröffnen könnte. Doch statt mit dem Volk ist die Regierung häufig genug gegen das Volk vorgegangen, um die Rechten zu beschwichtigen. Die UP wollte das Militär und die Leute, die das Geld hatten, besänftigen.

Das hört sich ein bisschen an wie die Situation 1936/37 während des Spanischen Bürgerkrieges, wo POUM und AnarchistInnen die Revolution im Bürgerkrieg vorantreiben wollten, während Kommunisten und Sozialisten aus Rücksicht auf Bourgeoisie und Großgrundbesitz eher abgewiegelt haben.

Ja; ich habe vor einiger Zeit Ken Loachs "Land and Freedom" gesehen und habe sofort an Chile denken müssen. Die Unidad Popular war gebunden, sie musste Rücksicht nehmen auf die Christdemokraten und die Ultrarechten. Es hat damals ein Geheimabkommen zwischen der Regierung und den rechten Parteien gegeben, ein "estatuto de garantias", worin Allende zugesichert hatte, Institutionen wie das Schulwesen, die Medien, die Kirche und die Armee zu "respektieren". Dieses Abkommen ist nie veröffentlicht worden, selbst unter den Parteien der UP nicht.

Allende ist im Frühjahr 1970 gewählt worden, und im Oktober 1970 wurde die UP-Regierung vereidigt. Wie würdest Du die Zeit in Chile von 1970-1973 beschreiben? Was für ein gesellschaftliches Klima war das?

Das ganze war ein gewaltiger Aufbruch, gerade unter den Fabrik- und LandarbeiterInnen. Alle Veranstaltungen wurden zu Formen einer gewaltigen Massenmobilisierung. Im Kulturbereich, überall wurde etwas gemacht, wie ein Vulkan war das. Ich erinnere mich an die Busfahrten zu meiner damaligen Arbeitsstelle, eine Stunde hat das gedauert. Es gab immer politische Diskussionen in den Bussen. Alle Strömungen und Ansichten waren vertreten, selten gab es Keilereien, die Debatten waren in der Regel sachlich, aber leidenschaftlich. Manchmal wolltest du gar nicht aussteigen, weil das so gut war.

Dabei ging die Politisierung von den Städten aus, dem städtischen und dem industriellen Proletariat. Die Provinz Concepción war die "rote Provinz" Chiles, und ich erinnere mich, dass es da vor allem die Arbeiter aus den Kohlebergwerken waren, die seit Jahren die linke Speerspitze waren mit einer kommunistischen Gewerkschaft seit den 1930­er Jahren.

Die Agrarfrage war nicht so entscheidend?

Sie war schon wichtig, aber sie war damals nicht der Fokus der sozialen Auseinandersetzungen. Die Landbevölkerung war längst nicht so politisiert wie die Menschen in den Städten. Auf das Land ist das erst nach den Wahlen 1970 übergeschwappt. Da haben auch die enorm politisierten StudentInnen eine wichtige Rolle gespielt, die jeden Sommer aufs Land gefahren sind, Alphabetisierungskampagnen gemacht haben, auf dem Land gearbeitet haben oder im Süden mit den Mapuche-Indianern in Nacht- und Nebelaktionen die Zäune der Ländereien versetzt und so neue "Landbesitzer" geschaffen haben.

Welche Rolle haben in diesem Prozess die Parteien der Linken gespielt?

Innerhalb der Linken wurde sehr intensiv darüber diskutiert, wie man die Massen organisieren und letztlich auch führen sollte. In Concepción z.B. wurde die "asamblea del pueblo", gegründet, 2.000 ArbeiterInnen aus allen möglichen Sektoren. Aber man hat schnell festgestellt, dass die Regierung die Volksbewegung nicht gestärkt, sondern gebremst hat. Die UP hat unglaublich zögerlich agiert, jeder Schritt musste geplant und abgesprochen werden.

Aber in der Zeit war die gesellschaftliche Dynamik so, dass es die Land- und FabrikarbeiterInnen waren, die mit autonomen Aktionen vorgeprescht sind. Die haben gesagt: Wir wollen die Fabrik verstaatlichen. Aber bis wir das beantragt haben, hat der Fabrikbesitzer alles abgebaut, verkauft und mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest ist. Also besetzen wir sofort und warten nicht erst den Regierungsplan ab. Und dann haben die das gemacht, egal, was die Parteien oder die Gewerkschaften gesagt haben. Selbst der MIR hinkte der selbstständigen Initiative dieser Avantgarden oft nur hinterher. Das war eine Situation, die wir im MIR nicht immer genau diskutiert hatten. Wir mussten feststellen, dass wir viel zu wenig Kraft, zu wenig Leute hatten, um diese Aktionen zu unterstützen.

Galt das auch für die Situation auf dem Land?

Ja, durchaus. 1972 z.B., ich war noch Student, kam eine Gruppe von LandarbeiterInnen zu uns, die sich zu ei­ner Landbesetzung entschlossen hatten. Die hatten aber keine Ahnung, keine Erfahrung, was sie da wie machen sollten. Die sind in die Provinzhauptstadt zur KP gegangen, aber die hat nur gesagt "Damit wollen wir nichts zu tun haben." Danach sind sie zur PS gegangen, aber die hatten angeblich keine Leute. Und schließlich sind die bei uns gelandet. Für mich persönlich war das eine ganz neue Geschichte. Ich habe damals zum ersten Mal mit LandarbeiterInnen zusammengearbeitet. Ich habe bei dieser Besetzung keine besondere politische Arbeit gemacht, sondern nur genau das, was alle anderen auch gemacht haben: Ich bin um 6 Uhr morgens aufgestanden, habe den ganzen Tag Steine geschleppt, auf dem Feld gearbeitet.

Die Agrarreform der UP war ja im Kern dieselbe wie die der christdemokratischen Vorgängerregierung. Die Großgrundbesitzer wurden entschädigt und durften die besten Böden, Gebäude und Geräte behalten. Als die verteilten Böden bearbeitet werden sollten, mussten die ArbeiterInnen das praktisch mit den bloßen Händen tun. Sie selbst haben dann erkannt, dass das so nicht geht. Und dann ging das los mit den Landbesetzungen.

Im Gegensatz zu der Regierung Frei ist das aber geduldet worden.

Es ist geduldet worden, solange sich diese Aktionen im Rahmen des von der Regierung erarbeiteten Nationalisierungsplans bewegten. Danach war das nicht mehr so geduldet. Die Massen sind einfach nach vorne gegangen, haben Land besetzt, Fabriken besetzt, haben alles mögliche besetzt.

In Chris Marcers großartigem Film "Rot ist die blaue Luft" wird u.a. gezeigt, wie Allende vor FabrikarbeiterInnen spricht und die Notwendigkeit von Produktivität, Arbeitsdisziplin und Mäßigung betont, natürlich vor dem Hintergrund von Devisenmangel und ökonomischer Probleme. Wie sind denn solche Appelle damals von den ArbeiterInnen aufgenommen worden?

Man muss sehen, dass das erste Jahr der UP ein sehr gutes Jahr für die ArbeiterInnen war. Es gab mehr Geld, man konnte sich mehr kaufen, du konntest leben als Arbeiter. Was danach kam, war problematisch, natürlich auch objektiv. Aber der Regierung ist nichts anderes eingefallen, als die sog. "Ultralinken" in Schach zu halten: "Hört nicht auf sie!" Aber das hat unter den ArbeiterInnen nur bei denen funktioniert, die in den Gewerkschaften organisiert waren. Die standen ja fest an der Seite der UP-Regierung, und die Orientierung der ArbeiterInnen an den Gewerkschaften war die einzige Möglichkeit, sie zu disziplinieren.

Also haben die ArbeiterInnen sich in ihren Aktionen faktisch sowohl gegen die linken Parteien als auch gegen die Gewerkschaften gewandt.

Nicht offen und direkt, aber praktisch ja. Sie haben das einfach anders gesehen als die Parteien und Gewerkschaften. Die Notwendigkeit, etwas zu machen, hat sie nach vorne getrieben. Danach kamen die Parteien, die die Kommunisten immer als "Ultralinke" bezeichnete hatte - der MIR, die MA­PU [3], Teile der Sozialisten - und ganz am Schluss erst die Parteien der UP-Regierung, die schon seit 1971 keine Fabrik- und Landbesetzungen mehr wollte. Das war, als wenn man vorne mit einem Ferrari und hinten mit einem Renault gefahren wäre. Aber viele gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen haben natürlich schon auf die Gewerkschaften und die UP gehört. Die haben dann z.B. an den cordones industriales [4] nicht teilgenommen.

Welche Kontroversen gab es zwischen dem MIR und den Parteien der Unidad Popular?

Vor allem haben wir im Gegensatz zu den anderen immer wieder die Frage gestellt, welche Rolle die Armee im gesellschaftlichen Prozess spielt. Die Armee war nie neutral, sie hat nie die Armen verteidigt. Deshalb haben wir gesagt, man muss auch in der Armee agitieren, sie als Instrument der Konterrevolution zersetzen. Die Revolution musste in unseren Augen bewaffnet abgesichert werden. Wir hielten es für einen schweren Fehler, dass das (reaktionäre) Militär die einzige bewaffnete Kraft im revolutionären Prozess war. Die Kommunisten lehnten das ganz klar ab. Die Regierung hat Ende 1972 ein Gesetz erlassen, wonach es erlaubt war, alle Fabriken nach Waffen zu durchsuchen. Sie ging immer massiver gegen die Elendsviertel und gerade die kämpferischsten Teile der ArbeiterInnen vor. Die Parole der UP war immer "El Pueblo unido jamas será vencido!" [5]. Dagegen haben wir immer gesagt: "El Pueblo armado jamas será aplastado" [6].

Kommen wir zurück zum Putsch. Wie hat die Linke auf den Putsch reagiert? Welche unmittelbaren strategischen und taktischen Antworten sind ausgerufen worden?

Erstmal würde ich sagen, dass niemand politisch oder gar militärisch auf den Putsch vorbereitet war. Chile ist ein langes, schmales Land. Damals gab es eine zentrale Straße und eine zentrale Eisenbahnlinie, die Militärs konnten jede Provinz sehr gut abriegeln und kontrollieren. Deshalb ist nach dem Putsch für alle linken Gruppierungen erstmal die alte Partei- und Kommunikationsstruktur vollkommen zusammengebrochen. Jede einzelne Zelle und manchmal jede einzelne Person musste komplett für sich selbst klarkommen.

In unserer Stadt z.B. bestand der MIR aus drei Sektoren, und in einem Sektor waren von 180 Leuten 178 festgenommen worden. Weil wir bereits vorher in Gefahr waren, haben wir gesagt: "Erstmal müssen wir uns in Sicherheit bringen", und so haben viele gedacht und gehandelt. Zuerst ging es im Untergrund um eine Möglichkeit, wo du wohnen und möglicherweise länger bleiben kannst. Dann ging's um eine Arbeitsmöglichkeit und um Geld und dann schließlich um eine Tarnung, unter der du weiter politisch arbeiten konntest. Aber am Ende hast du festgestellt, dass politische Arbeit gar nicht mehr möglich war.

Kann man sagen, dass die Repression viel stärker gewesen war, als ihr das jemals gedacht hattet?

Ganz eindeutig. Unsere ganze Stärke vor dem Putsch war mit einem Schlag dahin. Vor dem Putsch war jedeR politisch tätig, nach dem Putsch niemand mehr. Aus der Linken sind die Leute massenhaft festgenommen worden, und viele haben sich auch ergeben. Zwei Tage nach dem Putsch ist die Universität von Concepción vom Militär besetzt worden, und sie haben jeden, wirklich jeden, den sie greifen konnten, mitgeschleppt. Ich war da und habe die Lastwagen gesehen, mit denen die Gefangenen zu Schichten gestapelt abtransportiert wurden.

So nach sechs Monaten ungefähr fing dann eine eher selektive Repression an, gezielte Schläge gegen AktivistInnen, die die Parteien wieder aufbauen wollten. Nach dem Putsch war die gesamte Linke also erstmal völlig gelähmt, dann brauchte sie Zeit, um sich zu reorganisieren, und dann sind die Differenzen keineswegs weniger, sondern eher stärker gewesen.

Unter dem Druck der Repression und des Putsches ist es also nicht zu einer Annäherung unter den Parteien der Linken gekommen?

Die Erfahrung, die ich selbst gemacht habe, sah so aus, dass ich in dieser Zeit am meisten Unterstützung von Christdemokraten bekommen habe, von der MA­PU, der christlichen Linken oder der Kirche. Das war für mich und meine damalige Frau wichtig. Die haben uns das Leben gerettet. Das waren Basisleute, und ich denke, unten an der Basis haben sich schon alle über Parteigrenzen hinweg geholfen. Die Probleme lagen eher bei den Parteiführungen, wo die unterschiedlichen politischen Ansichten viel stärker zum Tragen kamen. Die KP Chile z.B. gab die Schuld an dem Debakel dem MIR. Sie haben nie eingesehen, dass sie selbst Verantwortung tragen für das, was passiert ist. Und dieses Problem blieb insofern nach dem Putsch bestehen, weil es darüber nie eine klärende Diskussion gegeben hat. In den Parteien konnte nach 1973 darüber auch kaum diskutiert werden, außer im Ausland.

Im Nachhinein ist man natürlich immer klüger, aber denkst Du, dass der Aufbau einer Guerilla-Front gegen das Militär und die bewaffnete Konfrontation mit den Militärs damals eine wirklich realistische Perspektive in Chile gewesen ist?

Zunächstmal muss man sagen, dass sich in Chile sehr schnell herausgestellt hatte, dass es in nennenswertem Umfang gar keine Waffen gab. Ich habe davon gehört, dass Leute auf Waffen gewartet haben, es kamen aber einfach keine, weil es keine gab. Und zwar unabhängig von den Parteien. Im MIR gab es einige Waffen, aber das war angesichts des Militärs und angesichts dessen, was für einen Guerilla-Krieg notwendig gewesen wäre, absolut lächerlich. Aber selbst mit Waffen wäre ein klassischer Guerilla-Krieg auf Grund der geographischen Situation nahezu unmöglich gewesen. Erst viel später, so Anfang der 1980­er Jahre, hat es einen ernsthafteren Versuch gegeben, eine Guerilla in Südchile aufzubauen. Das war aber ein rein militärischer Ansatz, und er endete in einer Katastrophe; alle sind ermordet worden.

Es gab beim MIR eine erhebliche Selbstüberschätzung, was die Untergrundarbeit anging. Das Geld, das wir aus dem Ausland geschickt hatten, ist für die Organisation des alltäglichen Lebens und Überlebens gebraucht worden, für Wohnungen, Identitäten, Sicherheit. Da war dann nicht mehr viel mit Waffen und Guerilla. Trotzdem wurde verkündet: "Die Präsenz des MIR in dem Viertel XYZ ist unglaublich stark." Dabei haben sich nur zwei Klandestine zufällig getroffen und gemerkt, dass sie nicht allein sind. Oder es wurde erzählt, dass die BewohnerInnen eines Elendsviertel Hunde darauf abgerichtet hätten, Soldaten anzufallen. So ein Schwachsinn! Jeder weiß, dass in einem Elendsviertel die Hunde nachts auf jedes beliebige Geräusch sofort reagieren. Wenn Militärpatrouillen verbellt wurden, war das überhaupt nichts Sensationelles. Aber das sind Beispiele dafür, wie der MIR sich damals auch in die eigene Tasche gelogen hat.

Es ist ja ein bekanntes Phänomen, dass es zu Entfremdungen, Misstrauen, Missverständnissen zwischen den Teilen von linken Organisationen kommt, die ins Exil gegangen sind und denjenigen, die in den jeweiligen Ländern im Untergrund geblieben sind. Das war bei euch auch so?

Ich würde sagen, im Allgemeinen nicht. Die Mitglieder des MIR waren eigentlich sehr diszipliniert; ich auch. Nur: Ich wollte die Wahrheit wissen. Ich wollte, dass ehrlich gesagt wird: "Wir haben diese und diese Probleme. Das und das läuft nicht so, wie wir uns das gedacht haben. Das und das kriegen wir nicht hin. Dazu sind wir nicht in der Lage." Deswegen spreche ich von einer Selbstüberschätzung. Wegen meiner Zweifel und meiner Kritik wurde ich natürlich zur Sau gemacht.

Und dann kam die Aufforderung, die Leute des MIR im Ausland sollten zurück nach Chile, zum Kämpfen. Und ich habe gesagt: "Nein, das mache ich nicht. Ich habe Angst". Dafür bin ich dann als das allerletzte Mitglied des MIR im Ausland bezeichnet worden. Ich habe nachher vieles über diese Rückkehrorganisierung erfahren. Der Weg sollte über Kuba laufen, da sollte noch eine militärische Ausbildung gemacht werden. Fast alle GenossInnen, die über diesen Weg nach Chile eingeschleust wurden, sind abgegriffen worden. Wahrscheinlich hatten die Militärs einen Informanten auf Kuba, auf jeden Fall wussten die genau über die Leute Bescheid, die nach Chile kamen.

Carlos, wann bist Du ins Exil gegangen? Ich habe in Erinnerung, dass das relativ früh war, '73, '74 oder so?

Ja; nach dem Putsch sind meine Ex-Frau und ich erst in die Nachbarprovinz gegangen und dann nach Santiago. Santiago war sehr gefährlich, vor allem die Innenstadt. Dort haben sich die meisten Leute bewegt, und du wusstest im Endeffekt nicht, wen du da treffen würdest. Neben GenossInnen aus meiner Provinz hätte ich genauso gut Soldaten begegnen können, die aus Concepción stammten und mich kannten.

Also musste ich die Innenstadt weitestgehend vermeiden. Als ich nicht mehr wusste, was ich machen sollte, habe ich mich entschlossen, ins Ausland zu gehen. Ich hatte auch kein Geld mehr, keine Wohnung, hatte keine politischen Kontakte. Gewisse Kreise der katholischen Kirche haben mich dann in die ungarische Botschaft geschleust. Da waren wir mehr als 80 Leute. Irgendwann kamen dann Leute aus der deutschen Botschaft und haben einige von uns befragt - komischerweise wussten die alles über mich - , und Ende Januar 1974 bin ich dann nach Deutschland gekommen.

Das war ja für Dich eine existenziell absolut bedrohliche und auch neue Situation gewesen. Was waren damals die Dinge, die Dich als politischen Flüchtling unmittelbar beschäftigt haben? War Politik überhaupt noch ein Thema, oder ging es erstmal darum, das Überleben zu sichern, Dich in einem neuen Land zurecht zu finden?

Die erste Erfahrung, die wir in der Botschaft gemacht haben, war die, dass jeder, der ohne Erlaubnis der Partei in eine Botschaft geflohen war, vom MIR als Verräter eingestuft wurde und faktisch als Mitglied suspendiert wurde.

Das galt also auch für Dich?

Ja natürlich; ich hatte ja keine Kontakte mehr, über die ich um Erlaubnis hätte fragen können. Als wir in Deutschland waren, haben wir dann erstmal so reagiert: Okay, wir sind jetzt keine regulären Mitglieder des MIR mehr, aber im Herzen sind wir noch MIRisten. Wir wollten unsere Erfahrungen aus Chile weitergeben und weiter was für den MIR machen, und das habe ich auch jahrelang getan. Bis ich irgendwann darin keinen Sinn mehr gesehen hatte und die konkrete Parteilinie auch nicht mehr mitgetragen habe.

Von wann bis wann dauerte dieser Entfremdungs- oder Distanzierungsprozess bei Dir?

Also ich würde sagen, eine totale Entfremdung gab es nie. Ich glaube immer noch, dass vieles von dem, was der MIR damals gemacht hatte in Chile, richtig war. Allein schon in der Frage des Militärs und der bewaffneten Sicherung der Revolution. Aber das, was danach passiert ist, die ganzen Spaltungen des MIR nach dem Putsch, das hat schon dazu geführt, dass für mich irgendwann mit der konkreten MIR-Politik Schluss war. Aber was ich nie vergessen werde, ist das, was ich im MIR und in Chile gelernt habe: den Kampf um Gerechtigkeit, der Kampf für ein besseres Leben für alle. Das ist geblieben.

Du hast dann irgendwann den Gedanken, nach Chile zurückzugehen, aufgegeben und Dich entschieden, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Ist diese Überlegung mit dem Übergang von der Militärdiktatur zur bürgerlichen Demokratie noch mal ins Wanken geraten?

Nein. Ich glaube, ich bin einer der wenigen, die sehr früh schon, in den 1980­er Jahren, beschlossen hatte, hier in Deutschland sich in "deutsche Politik" einzumischen. Dabei unterstütze ich immer noch Projekte und GenossInnen in Chile. Aber ich habe mein Leben hier. Ich bin 23 Jahre nach dem Putsch, 1996, zum ersten Mal nach Chile zurückgekehrt, und für mich war alles fremd, das Land, die Atmosphäre, selbst die Sprache. Einige Leute aus meiner Stadt waren noch da, andere waren weg. Einige GenossInnen waren ermordet worden, andere verschwunden. Viele waren im Gefängnis. Pinochet hat das Land leergeräumt und frei gemacht für den Neoliberalismus. Und wie das dort durchgeführt wurde, das merkt man überdeutlich.

Das Interview war erschienen in ak – analyse und kritik Nr. 475

Anmerkungen:

1) Movimiento de Izquierda Revolucionaria - Bewegung der revolutionären Linken, unter dem Einfluss der kubanischen Revolution und Che Guevaras 1965 gegründete Partei der radikalen Linken in Chile; außerparlamentarische Orientierung, stark geprägt durch die revolutionären Ideen der 1968­er Bewegung in Chile

2) Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Süden Chiles

3) Movimiento de Acción Unitaria - Bewegung der einheitlichen Volksaktion, linke Abspaltung der Christdemokraten

4) Stadtteilkomitees, meist in den Industriezonen der Städte, die von FabrikarbeiterInnen und Stadtteilbevölkerung gemeinsam gebildet wurden.

5) Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden!

6) Das bewaffnete Volk wird niemals unterworfen werden!


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