letzte Änderung am 5. Januar 2004 | |
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Wie seht ihr dieses erste Jahr Lula Regierung?
Dirceu: Nun, das erstaunliche ist ja, dass - keineswegs nur bei irgendwelchen Umfragen, sondern am Arbeitsplatz, auf der Strasse - die Popularität weitgehend ungebrochen ist, trotz der simplen Tatsache, dass keine positiven Veränderungen zu registrieren sind. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Wahl eine war, bei der die Lula Wählerinnen und Wähler vor allem "das Alte" nicht mehr wollten. Wer die Wahlergebnisse damals genauer angeschaut hat, konnte schnell sehen, daß die ganze altetablierte, parteiübergreifende Riege regionaler "Häuptlinge" entweder nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht wiedergewählt wurde. Zum anderen hat sich niemand "den Sozialismus" oder ähnlich tiefgreifende Veränderungen erwartet, ich denke schon, dass das "Antihungerprogramm" viel eher ein Masstab der Menschen ist, die Regierung zu bewerten.
Araci: Nun ich meine, die Regierung hat schon in einigen Bereichen an Ansehen verloren - bei vielen Staatsangestellten mit der marktkonformen Rentenreform beispielsweise. Sie hat es in anderen Bereichen, nicht zuletzt durch symbolische Massnahmen wieder dazu gewonnen. Symbolische Massnahmen soll dabei zunächst nichts in Richtung Betrug oder so bedeuten, sondern die Ebene der Strukturierung gesellschaftlicher Debatten bezeichnen. Gemeint zum Beispiel: Ab 1.Januar müssen sich US Bürger bei der Einreise fotografieren lassen - eine Art Retourkutsche für die USA, sehr gut angekommen.
Ubirajara: Ich weiss jetzt mit dieser Diskussion, ehrlich gesagt, nicht soviel anzufangen. Ich sehe, dass das eine Jahr Lula-Regierung dazu beigetragen hat, die Spaltungstendenzen in der CUT wesentlich zu verstärken: Durch die Machtpolitik der die Regierung tragenden Strömungen vor allem, aber auch durch die Reaktion von Teilen der Linken, die statt Debatte und Druck von Anfang an auf Konfrontation gesetzt haben und sich damit schon isoliert. Diese Taktik, das Setzen darauf, später sagen zu können "wir haben es ja gleich gesagt" ist schon so oft gescheitert, und jetzt wieder, denke ich. Da hat es beispielsweise die MST wieder einmal - wieder einmal - wesentlich besser hinbekommen, als die Gewerkschaftsbewegung. Die MST hat sachliche, inhaltliche, prüfbare Kriterien aufgestellt - und damit schon einmal die eigenen inneren Differenzen besser austragbar gemacht, aber vor allem eben ein klar definiertes Verhältnis zur Regierung geschaffen, das auch gesellschaftlich vermittelt werden kann und wird.
Welches Echo fanden denn die "5 Sterne Ausschlüsse" aus der PT in den Gewerkschaften?
Dirceu: Nun, wenn man nur die diversen Listen der UnterstützerInnen dieses oder jenes Projekts ansieht, kann man bereits Rückschlüsse ziehen. Die - diversen - Überlegungen zur Neugründung von Parteien, von denen ich persönlich nicht viel halte, haben bisher ungefähr 7.000 Unterschriften publiziert, davon sind mehr als die Hälfte Gewerkschaftsfunktionäre.
Zwischenfrage: Warum hältst Du nichts von Neugründungen bzw Überlegungen dazu?
Dirceu: Nun, einmal konkret, weil es etwas sehr rückwärtsgewandtes hat - wir wollen eigentlich wieder so eine PT, wie sie vorher war. Ohne gross zu fragen, warum sie nicht mehr so ist, wie sie war - beziehungsweise dies nur auf die Schlechtigkeit von Individuen, Verrat oder Ähnliches zurückzuführen. Zum anderen gehöre ich zu jenen, die sich allmählich fragen, ob politische Parteien der klassischen Art überhaupt noch in der Lage sind, etwas Positives zum Leben der Menschen beizutragen.
Araci: Man muss schon auch sehen, dass von den beteiligten Personen her zwei der zentral Handelnden Frauen waren, Heloisa und Luciana, das ist im Macholand Brasilien mit seinen Machogewerkschaften noch lange nicht alltäglich. Von daher kommt auch, dass jene Unterschriften, die Dirceu erwähnt hat, zu einem sehr überdimensionierten Anteil von Frauen kommt, die in den Gewerkschaften aktiv sind. Denn auf der Gegenseite gab es nur die alten Männer der PT, die einst die Bärtigen waren.
Ubirajara: Wir hatten bei uns einige Versammlungen, sowohl mit den damals noch vom Ausschluss bedrohten Abgeordneten, als auch in der Konfrontation mit ihren Verfolgern. Diese Versammlungen waren nicht nur ausgesprochen massenhaft besucht, sondern auch, um es mal neutral zu nennen: sehr lebhaft. Was auch damit zu tun hatte, dass es ja keine Auseinandersetzung "Sozialdemokraten gegen Linke" war, um es mal schematisch zu bezeichnen. Es gab mehrere linke Strömungen die, aus welchen genialen taktischen Überlegungen heraus auch immer, entweder lange geschwiegen haben oder gar Ausschlussmassnahmen mitgetragen. Und es gibt jene, die längst nicht mehr in der PT sind. Und ja, vor allem die Versammlungen mit den weiblichen Abgeordneten waren eben auch sehr stark von sehr empörten Frauen besucht. Und wie Dirceu glaube ich auch nicht, dass die Existenz von zwei oder drei neuen linken Parteien neben den bereits bestehenden konkret etwas Positives werden kann - und prinzipiell ist es auch zweifelhaft. Ich glaube, ich kann es nicht "belegen" aber die Diskussionen zeigen es, dass es wenn überhaupt dann einen "linken Gewinner" dieser Auseinadersetzung gibt, der weit weg lebt und nichts von seinem "Glück" weiss: Ich meine Marcos, der für die Zapatisten steht, die wiederum für einen ganz anderen Umgang mit Politik und Macht stehen als die traditionelle Linke - wobei besonders zu registrieren ist, dass dies zu einem Zeitpunkt kommt, da fast alle offiziellen Berichte sagen, die Zapatisten seien mehr oder minder am Ende.
Also, krass formuliert: In der Koalition mit bürgerlichen Parteien "Reformgesetze" derselben Art durchgesetzt, wie wir sie auch aus Deutschland kennen - antisoziale, ausschliessende - in der Öffnung der politischen und gesellschaftlichen Debatte einiges gemacht und ansonsten zunehmend in Konfrontation gegen Gewerkschaften und soziale Bewegungen? Ist das die Einjahresbilanz?
Dirceu: Könnte man so sagen. Wobei natürlich die gesellschaftliche Druck durch die eigene Wählerbasis zu allen möglichen Verrenkungen führt und zur Suche nach "harmlosen" Alternativen - wie etwa in der Frage der panamerikanischen Freihandelszone. Was im übrigen zu allerersten Diskussionsansätzen im benachbarten Ausland führt, inwieweit das mit Abstand grösste und bevölkerungsreichste Land dessen, was so allgemein wie unangemessen Lateinamerika genannt wird, damit beginnt, seinerseits eine hegemoniale Politik zu entfalten, was ja bisher stets den USA vorbehalten war.
Araci: Nun bei uns war es schon so, dass die Auseinandersetzung um das Rentensystem im öffentlichen Dienst sehr sehr distanziert betrachtet wurde. Denn natürlich sind die Bedingungen im Einzelhandel - der in Brasilien keineswegs eine solche "Frauendomäne" ist, wie in den europäischen Ländern, die ich kenne - wesentlich schlechter. Und die Gewerkschaften schaffen es einfach nicht, weder wir noch andere, und viele bemühen sich auch gar nicht, in den gerade im Handel domnierenden informellen Sektor vorzudringen, wo die Mehrheit der in der Branche Beschäftigten arbeitet - und da sind diese Auseinandersetzungen sehr weit weg. Von daher gibt es hier auch viele, die ihre Bilanz anhand ganz anderer Kriterien ziehen, als in den Gewerkschaften üblich.
Ubirajara: Na ja, krasse Formulierungen sind beliebt aber kaum ergiebig. Was die sogenannten Reformen betrifft stimmt es. Ansonsten - und das sehe ich wie Araci - ist es ja bezeichnend, dass Gewerkschaften und soziale Bewegungen als zwei verschiedene Dinge betrachtet werden, was meist leider auch stimmt. Was schon damit anfängt, dass die meisten GewerkschafterInnen sich der gesetzlichen Vorschrift, sie dürften sich nicht um die Belegschaften von Subunternehmen kümmern, einfach (und vielleicht gerne) unterwerfen. Von da aus müsste aber eine Debatte um Überwindung von sektoriellen gesellschaftlichen Grenzen beginnen, die - vielleicht - in der Lage wäre, Spaltungsprozesse zu vermeiden, oder aber diese klar gesellschaftlich vermittelbar macht, jenseits rein betrieblicher Interessensvertretung. Auch im Metallbereich gab es nämlich diese Distanz zur Rentenauseinandersetzung. Sehr falsch, wie ich finde, aber real. Und in der Tat, das wäre mein Fazit, ist jegliche Lösung, die besagt "zurück zu..." keine. So wie die Konfrontation mit einer linken Regierung für uns neu ist, so müssten es eben auch die Fragen sein, mit denen wir uns befassen und die Massnahmen, die wir versuchen zu ergreifen.
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