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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Die Bewegung der städtischen Obdachlosen - im Zeitalter "moderner Stadtplanung" Seit über 10 Jahren gibt es inzwischen die MTST, die Bewegung der obdachlosen Arbeiter, die vor allem in den beiden Megastädten Sao Paulo und Rio de Janeiro aktiv ist. Dazu der aktuelle Beitrag "Urbanität, Exklusion und Widerstand in Brasilien- der Versuch einer Einführung in die brasilianische Obdachlosenbewegung "Movimento dos Trabalhadores Sem Teto" (MTST)" von Maike Pricelius vom März 2007 in Langfassung (eine kürzere Fassung war im ak erschienen). Urbanität, Exklusion und Widerstand in Brasilien- der Versuch einer Einführung in die brasilianische Obdachlosenbewegung "Movimento dos Trabalhadores Sem Teto" (MTST) von Maike Pricelius Seit mehr als 10 Jahren organisiert sich in Brasilien eine Bewegung der obdachlosen Arbeiter (MTST - Movimento dos Trabalhadores Sem Teto) und schon seit längerem tritt diese Bewegung aus dem Schatten ihres sehr bekannten großen Bruders MST (Movimento dos Trabalhadores sem Terra). Der MST ist in Europa vor allem als größte NGO der Welt und als prominente Kritikerin der "linken" Regierung Lulas mit ihrer Forderung nach einer Landreform und der Anerkennung der ländlichen Besetzungen bekannt gworden. Die stetig wachsende Urbanisierung Brasiliens, wo bald mehr als 85% der Bevölkerung im urbanen Kontext lebt, und die wachsenden Auseinandersetzungen um alternative Formen der Urbanisierung, sowie die große städtische Armut, verleihen der Beschäftigung mit einer städtischen Wohnungslosenbewegung wie dem MTST heute große Relevanz. Historischer Überblick - von der Krise zur eigenen Bewegung Im Jahre 1996 ging der brasilianische Staat (unter dem Präsidenten und ehemaligen Dependenciatheoretiker Cardoso) zu einem Angriff auf soziale Massenbewegungen über. Bei dem staatlichen Massaker in Eldorado de Carajás wurden im April 1996 allein 19 Mitglieder des MST von der Militärpolizei Paras ermordet. Die gestiegene Repression und die direkten Angriffe bedrohten den MST, seine politischen Aktionsformen, Mitglieder und Besetzungen. In diesem Kontext entstanden Überlegungen, die soziale Massenbasis nicht nur im ländlichen Gebiet zu belassen, sondern auch die stetig wachsenden urbanen Ansiedlungen und städtischen Armen mit einzubeziehen. So kam es 1997 zur Gründung des MTST. Diese städtische Bewegung brachte die Erfahrungen aus den Kämpfen in den ländlichen Regionen und deren Praktiken in die Städte: die basisdemokratischen Formen der Organisierung in Nucleos, Formen der symbolischen Politik und Artikulation, wie die medienwirksamen Kampagnen von Sternmärschen, kollektives Portestcampen vor Regierungssitzen und Kirchen, oft begleitet von direkten Besetzungen ungenutzter Flächen und brachliegenden Landes. Seit seiner ersten Besetzung in Campinas 1997, dem "Parque Oziel", benannt nach dem in Carajás ermordeten jugendlichen Aktivisten Oziel da Silva, steht der MTST für eine eigenständige Antwort auf die dringende Frage nach fehlendem Wohnraum und für die aktive Einforderung von sozialem Wohnungsbau und einer Infrastruktur für Bedürftige. Dem MTST gelang es in Campinas für mehr als 3000 Familien, hauptsächlich arme Bauern und Zuwanderer aus dem Nordosten, dauerhaft ein Zuhause zu errichten. Aufgrund des enormen Einsatzes der Bewohner und Aktivisten gelang es langfristig eine funktionierende grundlegende Infrastruktur mit Strom, Wasser, Straßen und Busanbindung zu errichten von der heute alle der ca. 30 000 Bewohner profitieren. Nach dem Erfolg von Campinas begann der MTST sich im Großraum Sao Paulo zu engagieren und dort größere Besetzungen zu initieren. Besonderen Ruhm erlangte die Besetzung "Santo Dias" in Sao Bernardo do Campo 2003, bei der MTST Aktivisten mit 4000 Familien ein Gelände des Volkswagen Konzerns besetzten. Das Gelände wurde jedoch gewaltsam geräumt, obwohl weit über die Grenzen Brasiliens hinaus Proteste und Solidaritätskundgebungen stattfanden. Trotz solcher Rückschläge gelang es dem MTST über die Landesgrenzen des Bundeslandes Sao Paulo hinaus zu wachsen und in Rio de Janeiro, ebenso wie im Nordosten des Landes, Fuß zu fassen. Auch 2007 war ein bewegtes Jahr für den MTST. Mit der Besetzung "Joao Candido" in Itapecerica da Serra, im Südosten Sao Paulos, wurde erneut auf das Probleme von fehlendem Wohnraum reagiert. Die Immobilienspekulationen, die bewohnbares Land und leerstehende Gebäude ungenutzt lassen, werden von so vom MSTS immer wieder mit der Realität einer enormen Nachfrage an bewohnbarem Raum konfrontiert. Auf einem fiktiven Golfplatz, welcher sich seit mehr als 15 Jahren in Planung befindet, wurden über Nacht hunderte von Zelten, kollektive Küchen und behelfsmäßige Sanitäranlagen errichtet. Die Nachricht dieser Aktion zirkulierte schnell bei den ca. 10 000 Wohnungslosen in Sao Paulo und aus einer kleinen Besetzung wurde in Kürze eine Ansammlung von mehreren 1000 Menschen. Diese Aktion rief eine besonders starke gesellschaftliche Solidarisierung auf den Plan, die die Forderungen einer breiten medialen Öffentlichkeit zugänglich machten. Trotz des sozialen Drucks auf die verantwortlichen Politiker kam es im Mai zur Räumung der provisorischen Siedlung unter der Bedingung, dass die Gemeinde sich zum sozialen Wohnungsbau für die Besetzter verpflichte. Den bedürftigsten 350 Familien, die sonst keine Bleibe finden konnten, wurde ein neues Gelände zugewiesen, auf dem das Projekt "Joao Candido" weitergeführt wird. Bis heute kann diese neue Besetzung auf eine selbstorganisierte Schule, eine Vielzahl an kulturellen Veranstaltungen (z.B. die MTST - Favela Konzert von "A Favela toma conta" im Oktober 2007), die "Joao Candido" Fußballmannschaft und vieles mehr verweisen. Auch in Rio de Janeiro kam es im November wieder zu einer Besetzung eines Häuserkomplexes durch MTST Aktivisten. In einer gemeinsamen Aktion mit dem MST und als Erinnerung an das Massaker von Carajás, beteiligte sich der MTST an der Aktion "Abril vermelho - Roter April" bei der an einem Tag alle Autobahnen des Bundesstaates Sao Paulo symbolisch lahmgelegt wurden und der Verkehr und Teile der auf just in time Produktion angewiesenen Industrien von dem Verkehrschaos und den Lieferschwierigkeiten betroffen waren. Durch weitere Protestmärsche gegen Präfekturen und bundesstaatliche Einrichtungen, samt spektakulären symbolischen Festkettungsaktionen, einer zentralen Großdemonstration mit anderen Massenbewegungen in Brasilia und zuletzt der Kampagne für einen Stromsozialtarif für Arme im Dezember 200? konnte die Aufmerksamkeit auf die Problematik von fehlendem Wohnraum und Formen der Exklusion gelenkt werden. Mit manchen Erfolgen wurde ein kleiner Schritt hin zu sozialen Rechten und für ein menschenwürdiges Leben zurückgelegt. Mit zunehmender territorialer Ausdehnung und wachsender Zahl an Mitgliedern des MTST entstand eine eigene Dynamik der Auseinandersetzungen und damit verstärkt die Forderung nach einer Abgrenzung zum MST. Dass die Bewegung nicht homogen ist, zeigt sich im Vergleich zwischen Rio de Janeiro und Sao Paulo. So ist der MTST in Rio stärker auf die Besetzung von Gebäuden im Zentrum orientiert, während in Sao Paulo das Zentrum der Bewegung in der Peripherie liegt. Über den Zusammenschluss von peripheren Gemeinden und die direkte Zusammenarbeit mit bestehenden kommunalen Vereinigungen, wie Anwohnervereinen und lokalen Kultureinrichtungen, wird eine Politisierung der Peripherie mittels dieses Konzeptes der "Periferia Ativa" angestrebt. Doch gerade durch die Erfolge entstanden verschiedene Probleme. Das schnelle Wachstum der Bewegung überforderte deren Strukturen. Einzelne Ableger der Bewegung lösten sich vom MTST oder gingen in anderen Bewegungen auf. Das größte Problem bestand in der Gefahr einer möglichen Entpolitisierung der Aktivisten, die nach erfolgreicher Auseinandersetzung sozialen Wohnraum erhalten hatten. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurde der Anschluss an andere soziale Bewegungen gesucht und das Themenfeld durch die Thematiken der Prekarität, kultureller Exklusion, ungleicher Verteilung, Rassismus, Bildung und dem Kampf um soziale Rechte ausgeweitet. Diese Forderung nach menschwürdigen Wohnraum bildet den Hintergrund, um für und mit den ausgeschlossenen Vielen für gesellschaftliche Transformation und Emanzipation zu streiten. So sind die erklärten Ziele des MTST in seinem Aktionsplan: erstens ein menschenwürdiges freies Leben und zweitens die Errichtung der faktischen Macht der Bevölkerung, welche mittels der a) Territorialisierung des MTST in Gegenden wo eine sozialen Basis für die Themen besteht und b) die kollektive Aneignung des städtischen Raums geschieht. Darum geht der selbstständige MTST in jüngerer Zeit wieder stärker auf den MST zu und ist breiter an Bündnissen interessiert, welche zur Multiplizierung der Auseinandersetzung beitragen. Basisdemokratische Selbstbestimmung in den Besetzungen Ein erklärtes Ziel des MTST ist die Verbreitung von basisdemokratischen Beteiligungsmöglichkeiten und Praxen, die sich in den Versammlungen, den Treffen der Nucleos (Basisgruppen) und Bildungsveranstaltungen (wie Seminaren, Kongressen und Tagungen) zeigt. Für die Bewohner der Besetzungen und die politisch Aktiven aus den Basisgruppen werden so Erfahrungen gewonnen, die dazu befähigen, selbst politische Prozesse mitzugestalten. Das Konzept der "Deliberation", habermasianisch als verständigungsorientierte Kommunikation gefasst, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Diese schlägt sich in der Praxis im öffentlichen "Diskurs" nieder, als zwanglose, argumentative kollektive Aushandlung von Normen und der Verständigung über Interessen an der möglichst alle Betroffenen beteiligt werden. Die Praxen der politischen Selbstbestimmung, welche sich sowohl in den politischen Diskussionen, den Aktionen und im Organisieren des gemeinsamen Zusammenlebens zeigen, befähigen die Beteiligten, wieder in den politischen Raum zu treten und auf eigene kollektive Praxen einer selbstbestimmten Bevölkerungsherrschaft (poder popular) zu verweisen. Mit diesen Elementen einer partizipativen Demokratie und seinen direkten Aktionsformen steht der MTST skeptisch gegenüber Formen der politischen Repräsentation. Die Bewegung und ihre Mitglieder legen viel Wert auf die Autonomie sowohl vom politischen Parteiensystem, als auch in Bezug zu anderen Massenbewegungen. MTST Mitglieder treten nicht als wählbare Kandidaten für politische Ämter an und umgehen so die politische Korrumpierbarkeit, der viele Führungspersonen von sozialen Bewegungen unter der Regierung Lula erlegen sind. Der MTST besitzt eine Organisationsstruktur, die über räumlich und funktional differenzierte Kollektive und über Nucleos/Räte definiert wird. Zum einen gibt es mit den "Kollektiven der Koordination" (auf Besetzungs - oder Gemeindeebene, regionalen und bundesstaatlichen Ebene) eine Institution, welche die Aufgabe hat, die Bewegung in ihrem Kontext zu Koordinieren. Darunter wird die Planung und Gestaltung der Aktionen, die Koordination der politischen Ziele und Allianzen, wie das bloße Organisieren der Treffen oder der Bau einer kollektiven Küche verstanden. Daneben bestehen Kollektive zu speziellen Gebieten, wie Bildung, Kultur, Kommunikation und Information, als auch für die Zusammenarbeit mit anderen Bewegungen. Als dritter Bestandteil sind die Nucleos zu nennen, in denen sich lokale Basisgruppen organisieren und von denen Interessierte in die Kollektive gehen können. Besonders zu erwähnen ist auch der Hohe Anteil von Frauen, die die Mehrheit der Bewegung darstellen und auf allen Ebenen wichtige Positionen besetzen. Kulturelle Artikulationen und eine Politisierung der Peripherie Der MTST versucht im Rahmen einer eigenen Kulturabteilung, eine Verbindung von Politisierung und kultureller Selbstartikulation zu ermöglichen und sowohl den Menschen in den eigenen Besetzungen und als auch allen kulturell und politische Interessierten in der Peripherie Zugang zu Kultur zu bieten. Dieses Konzept orientiert sich stark an der guerillia cultural der Zapatisten. Mit selbstorganisierten Bibliotheken, Theaterstücken, Gedichtvorträgen, eigenen Filmen und (globalisierungs-)kritischem Kino, Musikabenden mit Hip Hop und Rockkonzerten bis hin zu Ausstellungen und peripherer Literatur wird versucht, neue kollektive Ausdrucksformen und künstlerische Reflexion miteinander zu verbinden. Die meisten Armen Brasiliens haben keinen Zugang zu Kultur und Bildung. Die kulturelle Exklusion (gemäß der Folha de Sao Paulo vom 5.10.2007) zeigt sich daran, dass 92% der Brasilianer noch nie in einem Museum waren, 93,4% noch nie eine Kunstausstellung besucht haben und sogar nur 13% die Gelegenheit haben, mindestens einmal pro Jahr ins Kino zu gehen. Aus diesem Grund spielt die selbstorganisierten Kultur eine große Rolle in der Gesellschaft, die sich zunehmend in Institutionen manifestiert ( zu erwähnen wären Kunstaustellungen wie "Arte na Periferia", die Literatur und Musikreihe "A Favela toma conta", eigene Literatureditionen wie "Literatura da Periferia", das erste Favelamuseum "Museo de Mare" und immer mehr NGOs, die sich der Kultur zuwenden). Neue Felder der Auseinandersetzung - Codierungen des Wohnungmarktes Um einen kleinen Einblick zu geben, wie der Aktionsraum in der Stadt Sao Paulo mit ihren mehr als 20 Millionen Einwohnern aussieht, lohnt es sich einen genaueren Blick auf die Verhältnisse dort zu werfen. In Sao Paulo gibt es "mehr als 1600 Favelas und bis zu 2,5 Millionen Menschen in miserablen Wohnformen bei gleichzeitigem Leerstand von annähernd 254 000 Gebäuden" (Wohnhaus, Fabrik und Hochhäuser, zumeist im ursprünglichen Zentrums Sao Paulo) wie Prof. Nelson Saule Júnior vom Instituto Polis anmerkt. Die prekären Wohnformen umfassen Favelas mit mehr als 1,2 Millionen Bewohnern, welche sich durch fehlende Infrastruktur und meist ungeklärte Eigentumsverhältnisse auszeichnen. Neben den bekannten Favelas wohnen noch einmal um die 1,1 Millionen Menschen in einer Vielzahl von anderen prekären und meist illegalisierten Wohnformen, von illegal bebauten Baulücken und Grundstücken (Lotes) über die Elendsviertel ohne Anerkennung als Favela (den Corticos) hin zu illegal und nur kurzfristig besetzen, leerstehenden Häusern und öffentlichen Unterschlüpfen bis hin zu den bis zu 10 000 Menschen, die direkt auf der Straße leben. Der benötigte Wohnraum von ca. 203 400 Gebäuden könnte also bei weitem von dem Leerstand (von 26,8 % alles verfügbaren Wohnraums), den besagten 254 000 Gebäuden, gedeckt werden. Mit den Vielen in den "roten April" 2008 Am 28. März 2008 haben mehrere Obdachlosenbewegungen in 9 Bundesstaaten Brasiliens erstmals ihre Forderungen gemeinschaftlich im "Manifesto polular 28 de marco" zu Papier gebracht, um auf die desolate Lage der städtischen Armen aufmerksam zu machen. Zentrale Forderung der beteiligten Bewegungen ist es eine soziale Wohungspolitik für die Bedürftigen zu erreichen, ohne umständliche bürokratische Regulierungen und endlich die freistehenden und ungenutzten Flächen und Gebäude im städtischen Raum einer sozialen Funktion als Wohnraum zukommen zu lassen. Das Manifest artikuliert daneben Forderungen nach Sozialtarifen für Wasser und Strom, angemessen und sozial verträglichen (kostenlosen) Nahverkehr und nach ausreichender Kindertagesstättenversorgung und Bildung. Mit manchen Erfolgen wird so ein kleiner Schritt hin zu sozialen Rechten und für ein menschenwürdiges Leben zurückgelegt. Weitere Infos: www.mtst.info www.parque-oziel.de/park.htm http://rhein-zeitung.de/on/03/07/24/topnews/obdach.html Nach dem "Programma de Acao" (2005) Movimento dos Trabalhadores Sem Teto. http://suburbanoconvicto.blogger.com.br http://www.polis.org.br/ |