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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Motoboys: Manche sterben halt..."

Motorrad-Kuriere sind keine neue Erscheinung des immer eiligeren Kapitalismus, zumindest in Südamerika nicht. Die explosionsartige Zunahme von Menschen, die gezwungen sind, einen der gefährlichsten Jobs der Gegenwart auszuüben, allerdings schon. In Brasiliens drittgrösster Stadt Belo Horizonte gibt es, bei 2,3 Millionen EinwohnerInnen (4,5 Millionen im Ballungsraum) mindestens 35.000 Motoboys. Was eine Bankrotterklärung der Autogesellschaft ist - und ein ständiger Gefahrenherd für viele Menschen. Wie die Fahrer ihre Arbeit, ihr Leben und die Gesellschaft sehen und erleben, was sie von Regierung und Gewerkschaften halten - dazu: "Motoboys: Manche sterben halt..." - eine Reportage über zwei Tage auf dem Rücksitz des Adlers ("Aguiar Expresso").

"Manche sterben halt..."

...sagt Everaldo und zuckt die Schultern. Weiterfahren. Weiterfahren nach kurzem Halt an einer Unglücksstelle der Avenida Contorno, die Ringstraße, die das Zentrum von Belo Horizonte umschliesst. Ein Motorradfahrer wurde soeben, in offensichtlich kritischem Zustand, in den Rettungswagen gebracht. Ob er es sein wird? Der Eine, der jede Woche in BH stirbt? 54 waren es im letzten Jahr. Es war wohl, meint Everaldo, ein "Autónomo" ein "Selbstständiger", den es da erwischt hat. Woran sieht er das? "Am Sturzhelm - ein ganz billiger, nützt gar nichts".

Everaldo ist 28 Jahre alt und seit 10 Jahren Motoboy. Angestellt bei der Kurierfirma "Aguiar Expresso", die sowohl Kurierdienste aller Art als auch Erledigungen bei Behörden anbietet. Einer von 66 Motoboys, die da arbeiten, womit Aguiar einer der grossen Betriebe dieser Art ist, von denen es rund 150 geben soll. Sie fahren alles: von Blutkonserven über immer eilige Dokumente bis zu Einkäufen aus Supermärkten, die die (kostenlose) Auslieferung meist schon an Subunternehmen vergeben. Sie fahren rund um die Uhr, schnell und: gefährlich. Für sich und andere.

Die pausenlosen Spurwechsel zwischen den Autos hindurch lassen mir Gefühle wie in der Achterbahn hochkommen, dann, wenn man nicht sieht, was hinterm Berg ist...

Leben im programmierten Verkehrschaos

2,3 Millionen EinwohnerInnen hat die eigentliche Stadt Belo Horizonte - und 835.000 angemeldete Fahrzeuge, davon über 70.000 Motorräder, von denen rund die Hälfte professionell genutzt wird - Kuriere. Noch einmal ebensoviele Menschen wohnen in den direkt angrenzenden Städten, die mit BH zusammen den Ballungsraum bilden, der eine gemeinsame "Verkehrsplanung" hat, und da die Menschen in diesen Städten etwas ärmer sind, gibt es zusammen "nur" ca 1,5 Millionen Fahrzeuge. Immer neue Straßen werden gebaut - und sind bald schon wieder überfüllt, verstopft, verbraucht - was Baustellen bedeutet. In der morgendlichen "hora do rush" kann es schon mal 10 Minuten dauern, bis mensch nahe der Stadtmitte die zweispurige Einbahnstraße Pouso Alegre überqueren kann, in der die Kurierfirma Aguiar ihren Sitz hat. Sie sieht man von weitem: Jede Menge Motorräder davor, und auf der Straße sitzen Gruppen meist junger Männer in Lederkleidung.

Und weil ich um die Ecke davon wohne und jeden Tag da vorbeikommen, kommt man ins Gespräch und so auch auf Ideen. Everaldo war es, der mir nach meinen Fragen vorschlug, doch mal mit ihm zu fahren, 1-2 Tage lang. Everaldo, 1976 geboren, heisst so - wegen Everaldo natürlich. Der beste Verteidiger der brasilianischen Fußballgeschichte (Weltmeister 1970) kannte nur eine Hälfte des Spielfeldes - die, in der kein anderer den Ball haben durfte. Er starb 1974 bei einem Verkehrsunfall...

Als wir die Absprache treffen, fahren auf den beiden Spuren minutenlang immer drei Autos nebeneinander - und dazwischen Motorräder. "Würdest Du das auch machen?" frage ich, von leisem Zweifel berührt - "Anders geht es nicht".

Also, abgemacht. Dienstagmorgen 4.30 Uhr, tiefe Nacht, trete ich an: Aushilfe der Aushilfe. Den Helm leiht mir Tiago "meinen besten, paß auf ihn auf, wie er auf dich". Tiago ist der Älteste der Aguiarboys - 42 Jahre alt, zwei Kinder. Wer noch eine neue Abkürzung braucht, fragt ihn - kein Taxifahrer kennt die Stadt auch nur entfernt so gut wie er. Seit 19 Jahren "im Beruf". Eine (rituelle) Umarmung - und los gehts: Everaldos erster Auftrag lautet "Vespasiano" - eine Stadt im Großraum, ca 35 Km zu fahren. Er fährt - wie alle bei Aguiar - Honda 250.

Kalt ist es, verdammt, bin ich in Brasilien, oder was?

Die Avenida Christiano Machado raus, Richtung Flughafen - die einzige Strasse Brasiliens, die ich kenne, mit Extraspur für Busse, vielleicht gibt es im Süden noch welche - Buslinien gibt es in BH inklusive Großraum 412.

Was transportieren wir eigentlich Everaldo, frage ich, woher soll ich das wissen sagt er, ich weiss nur, dass es punkt 6 Uhr da sein muss, sonst gibt es Ärger, sagt er, und ich meine, das muss doch reichen und er sagt wart mal ab, was da noch kommt. Auf der Höhe der Metrostation São Gabriel ein erster fetter Stau - Unfall. Scheisse, sagt Everaldo, die Bullerei ist schon da, wir müssen einen Umweg fahren, weil wenn die da sind, kann man nicht "durchtanzen". Sprichts und zieht die Maschine über den Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn, um die Abbiegung zu bekommen, die er will, nicht ohne die Mütter zweier Autofahrer zu beschimpfen. Es sollte auf dieser Fahrt der einzige Stau bleiben und Everaldo findet das ausgesprochen wenig. Deshalb sind wir auch rechtzeitig da, und können einem Zollagenten irgendwelche Papiere in die Hand drücken, die dieser Wort- und Grußlos entgegennimmt - Anlaß genug, Everaldo zu erklären, dass die deutsche Sprache eher Fäkal-Ausdrücke benuzt, als Mütter zu beschimpfen...

Kurz nach 7 Uhr sind wir wieder zurück und der heiße Kaffee, ganz traditionell gleich mit (viel) Zucker gekocht, tut richtig gut.

Wir sitzen mit 5 Mann in der allmählich wärmenden Morgensonne. Was passiert eigentlich, wenn jemand zu spät kommt, frage ich in die Runde, wenn es der Kunde nicht meldet - gar nichts, sagt Zé Maria, wenn er es aber doch meldet, sagt er, dann kriegst Du beim ersten Mal einen Anschiss und beim zweiten mal innerhalb einer Woche einen Abzug vom Gehalt, sagt er. Und dann geht er auch schon - neuer Auftrag. Wie hoch sind denn die Abzüge, frage ich, bis zu 20 Prozent vom Monatslohn sagt Batista, mir haben sie letzten Monat 100 Reais abgezogen (ca 30 Euro) weil ich dreimal zu spät war, sagt er, das ist so ungefähr der Preis, sagt er, 30 bis 35 Reais pro Verspätung. Bei einem Monatslohn von etwa 900 Real kann das ziemlich teuer werden sage ich, was glaubst Du, warum wir fahren wie die Wahnsinnigen, sagt er. Aber wir sind besser dran, als die Autonomen, sagt Emerson, wenn bei denen der Kunde unzufrieden ist, zahlt er nicht und fertig, und sie haben trotzdem die ganzen Kosten.

Selbstständig oder angestellt - ein Glaubenskrieg?

Viele der Autonomen verdienen wesentlich weniger, als die Aguiarboys, wenn erstmal die Unkosten abgezogen sind. Und arbeiten länger. Denn zu den Säulen der Arbeit, die es bei Aguiar gibt: fahren, warten, Karten studieren, Verkehrsnachrichten im Lokalsender hören kommt bei den Autonomen noch die Wartung der Maschinen hinzu, die bei Aguiar 4 Mechaniker übernehmen. Mit TelefonistInnen, Büromenschen und den Vorgesetzten hat Aguiar insgesamt 85 Beschäftigte.

Aber ein Autonomer ist sein eigener Herr, jedenfalls in der Ideologie, sagt Batista, der sowieso immer liest, wenn er wartet - und warten tut man nicht nur hier in der Zentrale, sondern meistens auch beim Kunden, der was verschickt - immer brandeilig, so gut wie nie fertig. Ja, sagt Emerson, sein eigener Herr - bis auf die Polizei, die Verkehrspolitik und das Diktat der Kunden. Dafür kannst Du aber auch einfach "Nein" sagen, wenn Dir was nicht passt, sagt Baldomiro, das hat auch seinen Vorteil sagt er, aber zu oft kannst du das auch nicht sagt Batista. Etwa die Hälfte aller Motoboys sind Autonome, etwa 5.000 sind als solche registriert, mindestens doppelt so viele nicht.

Woher kriegen eigentlich die Autonomen ihre Aufträge, frage ich Everaldo, während die Anderen ihre Grundsatzdebatte fortführen, was glaubst Du sagt er, von Unternehmen wie Aguiar natürlich, woher denn sonst sagt er, die haben hier 80 Leute aber setzen bis zu 150 ein, die werden pro Auftrag bezahlt, keine Nebenkosten und meist auch keine Abrechnungen sagt er, und die Autonomen haben irgendwo ein Telefon und nehmen Aufträge entgegen und vergeben sie weiter sagt er, und dann gibt es noch welche, die kein eigenes Motorrad haben und dafür gibt es wiederum informelle Verleihzentren, sagt er.

Wenn ich jetzt richtig zusammenrechne, so ist Aguiar auch ein Subunternehmen von Supermärkten, welches sein Subunternehmen in Form einer Telefonnummer hat, die ihr Subunternehmen in Form von Fahrern hat, die einen Teil des Honorars bekommen...

Und dann ist es nach 9 Uhr und nach 2 Stunden warten der nächste Auftrag: Innenstadt, Material für ein Laboratorium holen und hinbringen bis 9.45 Uhr. Die ersten 250 Meter macht Everaldo auf dem Gehsteig, denn noch ist Berufsverkehr und dann geht es ab ins Vergnügen und bei der roten Ampel, die wir kurz vor dem Viadukt über die Metro mißachten sehe ich, wie ein kleiner Fiat uns rammt, aber er trifft uns nicht. Als wir an dem Großhandel ankommen, weiss niemand von nichts und Everaldo betätigt sein zweitwichtigstes Arbeitsgerät, das Handy. Nach einigen hektischen Telefonaten bekommen wir unsere Ware und Everaldo rennt los und ruft mir zu "te segura aí" - festhalten!. Was ich auch verzweifelt tue und weil er im Haltverbot aufgrund anwesender Staatsmacht nicht halten kann, springe ich ab und liefere aus - 9.46 Uhr. Uff. Da ich überraschenderweise Trinkgeld bekommen habe, gehen wir das jetzt erst mal auf den Kopf hauen. 2 Kaffee, 2 Schnaps, 2 Zigaretten, keine Macht den Drogen.

Diesmal gibt es kein Gespräch, noch nicht einmal eine Rückfahrt, Everaldos Handy klingelt mitten in der Debatte um eine zweite Runde Cachaça: Belvedere, Hochhausstadtteil der Kategorie teuer, überhalb der Stadt an der Serra do Cural, wo man den besten Blick auf die Stadt hat und eine Ahnung davon bekommt, warum diese Stadt bei ihrer geplanten Gründung 1897 Schöner Horizont benannt wurde. Die lange Avenida Nossa Senhora do Carmo hoch, wo sie fast alle Ampeln weggemacht haben, weil das bevorzugte Punkte für Überfälle gewesen seien, heisst es. Durchschnittsgeschwindigkeit 140, erlaubt sind 70, aber wir haben es eilig. Es ist die Strasse die zur Autobahn nach Rio wird...Everaldo war noch nie dort. Und da gehe ich auch nicht hin sagt er, weil Du ja nie weisst ob nicht wieder eine verirrte Kugel daher kommt. Irgendjemand hat etwas zuhause vergessen, was er im Büro braucht, wir kriegen eine Aktentasche. Und wohin? In die Cidade Industrial - ganz auf der anderen Seite, das heisst: Autobahnring, Anel Rodoviário. Everaldos beide Brüder arbeiten dort in Metallfirmen, das wäre nichts für mich sagt er, den ganzen Tag in so einer dunklen Bude sagt er, und dann der Gestank, aber sage ich, hier stinkt es auch ziemlich, das sind nur die Alkoholautos sagt er, das macht nichts.

Immer noch ein Drittel aller Autos in BH fährt mit Alkohol - einst waren es fast zwei Drittel, auf dem Höhepunkt des "proalcool" Programms der Militärdiktatur, als es plötzlich Zuckerrohrplantagen im Staat São Paulo nebenan gab, die doch immer mit dem Armenhaus des Nordostens verbunden waren. Da sind ein paar Tausend Leute so reich geworden, dass ein früheres Paulistaner Provinzkaff wie Riberão Preto heute "brasilianisches Kalifornien" heisst. Und viele, viele mehr wurden von ihren Ländereien vertrieben...

Kurz vor 12.00 Uhr sind wir wieder in der Pouso Alegre Strasse - Mittagessen.

Mittagessen, politisch gewürzt

Restaurante Triângulo (Dreieck) - wo sie immer essen, heute Tropeiro, Minas - Gericht, mein Lieblingsessen hier, nur: danach muß man schlafen. Also: wenig essen, viel reden, leichte Übung.

Wie lange es Firmen wie Aguiar Expresso gibt, frage ich, die Meinungen schwanken zwischen 5 und 15 Jahren - aber richtig angefangen hat alles erst so um 2000 herum, da sind sie sich einig. Sie, das sind ausser unserem Zweierteam Batista, der "Politiker" und Tiago, der Veteran. Der ist 1998 zu Aguiar gekommen, als die Firma begann, da hatte er schon über 10 Jahre hinter sich. Damals gab es einige Hundert, die diesen Job machten, heute Zehntausende. "Nach den Verkäufern im Einzelhandel sind wir die grösste Berufsgruppe in der Stadt", sagt Tiago.

Aber woher denkt ihr denn, dass diese Explosion kommt, frage ich. Das ist alles Betriebswirtschaft, sagt Everaldo, alles wird immer mehr nach dem Zahnradmuster organisiert und da kommt es immer mehr auf Minuten an und mit Autos oder Post geht da gar nichts mehr. Die Autos fahren doch von einem Stau in den nächsten - sie bauen immer neue Straßen und es hilft nichts. Und was ist mit E-Mail im wichtigsten Sektor Dokumente ausliefern, frage ich, wird euch das nicht erwerbslos machen? Glauben sie nicht, sie haben zwar alle drei zuhause Computer und Netzanschluss und schicken ihre Sachen auf diesem Weg - aber es gäbe genügend Leute ohne Scanner oder Fälle, in denen die Gültigkeit von Unterschriften in Frage stehe und ausserdem steige der Anteil des "Gütertransports".

Nein, wir werden so schnell nicht verschwinden, sagt Batista, denn wir sind in Wirklichkeit der moderne Kapitalismus, dessen Räder immer schneller drehen, bis sie aus der Achse springen werden. Ich meine, sagt er, es ist doch verrückt, dass in dieser Gesellschaft das, was sie einst Automobil nannten heute weder "Selbst" noch "bewegend" ist, sondern im Kollektiv festgerannt. Er ist, die Rede lässt es vermuten, Aktivist der PCdoB, der Kommunistischen Partei Brasiliens, heutiger Regierungspartner der PT. Und er hat vor einem Jahr mitgeholfen, das "Sindicato Independente dos Motoqueiros da Grande BH" zu gründen (SIMOTBH), motoqueiro ist eher ein Schimpfwort der Autofahrer, gerade deshalb haben sie es genommen. 700 Mitglieder hat "das Ding", wenig, wenn man die Vielzahl sieht, ziemlich viel in einem Jahr. Er spricht über diese neue Art Gewerkschaft, interessiert mich brennend, die anderen beiden sind im übrigen ebenfalls Mitglied, Aguiar ist ihre Hochburg, mit fast 40 Mitgliedern, und sie haben auch schon einen zweitägigen Streik organisiert und Erfolge gehabt, denn die Probleme sind drängend - Versicherung, Material, Prämien, Abzüge zu alldem gab es Verbesserungen. Wie sie das machen frage ich, halt alles in Vollversammlungen, sagen sie, es gibt keinen Apparat, woher auch, wozu auch, wieviele denn da so kommen, frage ich, naja, normalerweise ein Drittel bis die Hälfte der Mitglieder, wenn was los ist auch schon mal fast alle, noch geht das ganz gut, Betriebsversammlungen gibt es nur bei Aguiar und noch zwei weiteren Firmen, wo es jeweils ca 20 Mitglieder gibt, wir versuchen das als Kollektiv zu sehen und zu betreiben sagt Batista und der CUT wollen sie sich auch nicht anschliessen sagt er, warum frage ich, die sind doch schon der verlängerte Arm der Regierung sagt er, aber Deine Partei ist doch an der Regierung, sage ich, ist mir doch egal sagt er, ich bin die Opposition sagt er, das geht heute.

(Mit dem Gegensatz - Gegensatz? - Gewerkschaften und Kollektive nimmt er eine Debatte auf - etwa in Frankreich von AC! betrieben - die genau diese Frage auch theoretisch stellt, wobei ich nicht einmal weiss, ob er diese Debatten kennt, aber er kennt ziemlich viel, auch ausser dem Che).

Genug der Revolution, sagt Everaldo, wir müssen wieder...

Zwei Fahrten haben wir noch am Nachmittag, problemlose, bis eben auf den eingangs erwähnten Unfall an der Contorno. Der Mann ist gestorben, wird die Zeitung morgen berichten, tatsächlich ein Autonomer.

Um 16 Uhr bin ich zuhause, fast 12 Stunden nach Arbeitsbeginn - und das, wo ich 2 Minuten Weg habe, Batista muss noch nach Riberão das Neves, am Rande des metropolitanen BH, er wird so gegen 18 Uhr zuhause sein...

Der zweite Tag

Wieder 4.30 Uhr antreten...

Der Tod des Fahrers ist natürlich Thema Nummer 1. Die Zeitung schreibt, er sei verantwortungslos gefahren. Da ist Parteinahme angesagt.

Denn es gibt sie: die urbanen "Bösen" und "Häßlichen" der Medienwirtschaft. Der böseste überhaupt ist der Jugendliche aus der Favela, der einen bewaffneten Mord begeht.

Wer erst einmal einen Mord begeht, wird bald auch vor Raub nicht zurückschrecken - kapitalistisches Credo...

Für die Jugendlichen der Mittelklasse, die sich gegenseitig umbringen, gibt es in jedem Kommerzblatt "Analysen", für die aus den Favelas, die man nur zur Kenntniss nimmt, wenn sie bewaffnet sind, gibt es nur den Ruf nach noch härterer Polizeigewalt. Mit ihm stehen jene unter Generalverdacht, die aller bürgerlichen Hysterie zum Trotz, am meisten unter krimineller Gewalt leiden - die Favelados. Unter Generalverdacht stehen aber auch: die StrassenhändlerInnen, die heute überall "von der Straße gebracht" werden sollen (in Verkaufszellen, für die sie bezahlen müssen, in São Paulo macht die PSDB-Präfektur gerade eine regelrechte Hexenjagd), die VW-Kombi Sammeltaxi, vor allem, wenn sie den profitablen Buslinien Konkurrenz machen (in BH gab es vor ich glaube drei Jahren auf der Afonso Pena, der Hauptstrasse, die vom Busbahnhof zu jenem Platz auf dem Berg führt, wo der Papst vor 1 Million Menschen predigte, eine regelrechte Strassenschlacht: circa 1.000 "Perueiros", VW Kombis heissen hier Perua, und etwa 4.000 Militärpolizisten, 98 Kombis gingen in Flammen auf) - und eben die Motoboys, die an jedem Unfall schuld sind, in den sie verwickelt wurden. In letzter Zeit kommen noch (zunehmend organisierte - der lange Arm der MST) Obdachlose hinzu, die Spekulationsobjekte besetzen... Von den "Bösen" auf dem Lande, den Landlosen soll hier einmal nicht die 'Rede sein...

Die Blicke der - mit einigen wohlbegründeten Ausnahmen - meist durchaus befreundeten Nachbarschaft in unserem wahrlich nicht besonders wohlhabenden Viertel, jedesmal wenn ein "solcher" oder eine "solche" bei uns zuhause auftauchen, sagen alles...

Also schreiben wir einen Leserbrief, der niemals veröffentlicht werden wird. Also gibt die Gewerkschaft eine Pressemitteilung heraus, die niemand zur Kenntniss nehmen will.

Nirgendwo auf der Welt gibt es soviele Autounfälle, wie in Brasilien. Der inhaltliche Kern des Individualverkehrs, sagt Batista aus meiner Seele, ist der Unfall. Denn überleg mal, wenn es keine Unfälle gäbe, was dabei an Bruttosozialprodukt, an Arbeitsplätzen verloren ginge, sagt er, es würden weniger Autos verkauft, die Werkstätten um zwei Drittel reduziert, die Rechtsverdreher serienweise erwerbslos. Der inhaltliche Kern Batistas ist, dass er gerne Abgeordneter wäre, sagt Everaldo und nimmt unseren ersten Tagesauftrag entgegen...Congonhas do Campo, ca 75 Km entfernt, Touristenziel wegen der "Barock"-Statuen der Propheten, von Aleijadinho gemeisselt. Autobahn, Affenzahn.

Und mir tut mein Rücken allmählich genauso weh, wie vor kurzem, als wir einen ganzen Tag lang durch die Serra do Cipó (Lianengebirge) zum Canyon Bandeirinhas geritten sind...

Autobahnfahrten gehorchen besonderen Regeln, Congonhas bedeutet vor allem, dass wir erst nach dem Mittagessen wieder zurück sein müssen. Die Fahrt durch die Berge wäre wunderschön, wenn ich nicht andauernd in die Auspuffrohre von Container-LKWs schauen müsste, Volvo und Fiat haben gegen Mercedes gewonnen...Bis auf jene Überholmanöver, bei denen wir auf der Vierten der zwei vorhandenen Spuren fahren, verläuft die Fahrt problemlos und Everaldo singt mit lauter Stimme, wenn nur nicht immer wieder diese Fiats auftauchen würden, die es auf uns abgesehen haben. Ausserdem müssen wir zwei Verkehrskontrollen weiträumig umfahren, denn ich darf da ja nicht draufsitzen...Eine pro Tag mindestens, sagt Everaldo.

Beim Barte des Propheten...

Als wir - ich - mach Du, sagt Everaldo, Du siehst so aufgeräumt aus, Du kriegst vielleicht wieder Trinkgeld, ausgeliefert haben und in der Tat ein diesmal sogar beachtliches Trinkgeld kassiert, und die rituelle Maßnahme zur Gesundung der Wirtschaft unternehmen: zwei Kaffee, zwei Schnaps, zwei Zigaretten, trifft Everaldo einen alten Bekannten aus Congonhas, ebenfalls Motoboy. Selbst in dieser Kleinstadt mit ca 50.000 EinwohnerInnen gibt es über 100 von ihnen, in einer Kooperative organisiert, aber jetzt gerade hat ein erstes Expressunternehmen eröffnet, das billiger ist...

Die Regierung ist das grosse Thema, denn jetzt hat auch die PT ihre Korruptionsfälle und die Korrupten aller Parteien fallen über sie her, ihre fürs Auslassen gut bezahlten journalistischen Wachhunde vorneweg. Dass sich mit dieser Regierung auch nichts verändert hat ist einhellige Meinung - und alle, die sich an dieser kleinen Debatte beteiligen, haben Lula gewählt. In der Café-Bar des Hotels am Fuße der berühmten Kathedrale schlagen die Wogen hoch - und gehen wieder nieder, denn Alternativen sind keine in Sicht, ausser der Rückkehr der Kaziken - deren Abwahl in vielen Bundesstaaten in Wirklichkeit wichtigstes Ergebnis der letzten Wahl waren. Kurz bevor wir abfahren, kommt noch das Thema Nummer 1 solcher Treffen auf die Tagesordnung: Fußball natürlich. Wo kommst Du her - aus Dortmund? Oh ja, sagt der Barmann, Borussia, nicht wahr? Er ist Atletico Mineiro Fan und hat sich 1997 nach Borussias Sieg über den Erzrivalen Cruzeiro im Weltpokalfinale ein schwarzgelbes Trikot gekauft, wie viele es getan haben...

Eine Busladung britischer Touristen läuft ein und Jacinto, der Barmann, verdreht die Augen, gleich kommen sie alle und wollen Caipirinhas, mindestens 30 Stück, ich hasse jede einzelne Limone, und alle fragen, warum ich keinen braunen Zucker nehme sagt er, als ob irgendjemand in Brasilien zu Caipirinha braunen Zucker nehmen würde sagt er, das sieht ja aus wie gekotzt sagt er, und die Motoboys haben in den Busfahrern ihre natürlichen Feinde gefunden. Eine ältere Dame fragt uns, ob es hier irgendwo eine Favela gäbe. Gibt es in Congonhas nicht, aber in BH gibt es einen Zoo, sagt Everaldo bösartig, was niemand übersetzt. Brasilien sei wonderful sagen sie sich und haben BrasilianerInnen als Dienstboten und Kellner erlebt.

"Abschied"

In Anführungszeichen, denn natürlich ist es keiner, schliesslich sieht man sich fast jeden Tag wg Nachbarschaft.

Wir haben nachmittags noch zwei kurze Fahrten, das Mittagessen haben wir uns gespart, stattdessen zwei Kaffee, usw... Eine davon ins Othon Palace, dem Hotel Nummer 1 am Ort, Kostenpunkt pro Nacht ein halber Monatslohn Everaldos, mindestens. Irgendein Geschäftsmann braucht ein Exemplar des Unternehmensrechts auf seinem Zimmer und das sofort und da gibt es selbstverständlich kein Trinkgeld. Auf der Rückfahrt sehen wir abermals einen Motoqueiro-Unfall, aber diesmal ist "nur" die Maschine kaputt.

Wir kommen zum Schichtwechsel zurück, der Abschied ist kurz, der wertvolle Helm ist ganz geblieben, in der Kneipe an der Ecke sieht man sich bald wieder und wie hast Du es gefunden fragt man mich, hat es Dir gefallen fragt man mich, willst Du jetzt auch Motoboy werden fragt einer, und alle lachen und ich sage: Nein.

Wenn man mal drin war, läuft man anschliessend ganz anders vorbei, nicht nur wegen der Bekanntschaften.

Helmut Weiss

Belo Horizonte, Juni 2005


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