letzte Änderung am 24.Juni 2003 | |
LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany |
|
Home -> Internationales -> Brasilien -> Julistreik | | Suchen |
Ab 8.Juli : Streik im öffentlichen Dienst Brasiliens gegen Lulas Rentenreform?
Am Samstag den 14.Juni trafen sich 350 Delegierte von 11 Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes Brasiliens in der Hauptstadt Brasilia, um über einen vorgeschlagenen Streikbeschluss ab 8.Juli zu entscheiden. Die politischen Grundhaltungen, die als Alternative auf diesem Treffen diskutiert wurden, waren: zum einen "Rücknahme des Gesetzentwurfes zur Rentenversicherung", zum anderen "Verbesserung des Entwurfs". Letzteres war die Position der Mehrheit des Bundesvorstandes des Gewerkschaftsbundes CUT und seines gerade eben, auf dem 8.CUT Kongress im Mai, neu gewählten Vorsitzenden Marinho. Für diese Position votierten am Ende der Debatte 2 der 350 Delegierten. Alle anderen waren für die grundlegende Ablehnung und demnach für Streik. Abgesehen von einigen Lohnstreiks in der Automobilindustrie und lokalen Auseinandersetzungen, ist dies der erste Streik seit dem Amtsantritt der Regierung Lula zu Jahresanfang 2003. Ein halbes Jahr danach also der erste grosse politisch motivierte Streik gegen diese Regierung, ein Signal wohl auch dafür, dass der grosse Vertrauensvorschuss sich dem Ende zuneigt.
Wie gross die Hoffnungen waren, als Lulas überwältigender Wahlsieg feststand, braucht hier nicht nochmals beschrieben werden. Vielleicht nur so viel: Diese Hoffnung war keineswegs auf Brasilien beschränkt, auch nicht auf Südamerika - wo sich beispielsweise der argentinische "ein Fünftel Präsident" Nestor Kirchner sofort beeilte, sich als Lulas Partner zu profilieren - sondern in vielen Ländern, insbesondere der südlichen Erdhälfte. Wie immer, gab es auch in Brasilien jene politischen Kräfte, die es schon immer wussten: dass die Hoffnungen betrogen werden würden. Und es gab jene, deren Hauptanliegen bereits erfüllt war: Regierungspartei werden, endlich. Dann kann man etwas bewegen, auch wenn man nichts mehr bewegt, ausser sich weg von eigenen Überzeugungen. Dazu gehören auch jene GewerkschafterInnen, die ihr Ziel mit dem Regierungsantritt ihrer Partei erreicht sehen und fortan alles tun, um den Machterhalt zu sichern - leider keine rein brasilianische Erscheinung. Neben diesen weltweit bekannten Kräften gab es aber auch jenes Feld von Menschen, Organisationen und Aktionsgruppen, die darauf setzten - und einstweilen noch setzen - dass diese Regierung nicht nur von IWF, Kapital und bürgerlichen Koalitionspartnern unter Druck gesetzt werden kann, sondern auch von den grossen Volksbewegungen im Land, die ja ihre WählerInnen sind. Der grosse linke Flügel der CUT, die Landlosen-Organisation MST, die starke Kampagne gegen die panamerikanische Freihandelszone ALCA und eine Vielzahl renommierter KünslerInnen und Intellektueller, die sich organisierenden indigenen Gruppen und starke Strömungen der katholischen Kirche seien hier genannt.
Waren die bisherigen Entscheidungen der Regierung Lula eher langfristiger Art, dementsprechend die Debatten darum eher betrachtend, selbst wenn zunehmend kritisch, wie etwa im Falle der grösseren Selbstständigkeit der Zentralbank, der Abkommen mit dem IWF und einige mehr - im allgmeinen jene Entscheidungen, die der Regierung weltweites kapitalistisches Lob eintrugen - so geht es bei der Rentenreform um sehr konkrete und aktuelle Probleme. Und sie ist Bestandteil des Paketes von Auflagen, die die Regierung in den Washingtoner Verhandlungen zur Sicherung ihrer Kreditwürdigkeit auferlegt bekommen hat - und akzeptiert. Nun hat Lula keine andere Gesellschaft versprochen: Sondern, dass kein Brasilianer mehr hungern müsse. Ein Ziel, wichtig genug, um Unterstützung zu finden. Die sie auch gefunden hat. Allerdings war bisher nicht viel davon zu sehen, selbst wenn alle der Regierung auch einen langen Zeitraum eingeräumt haben, weil sie wissen, dass es dauert, die Politik von Jahrzehnten wirksam zu verändern. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass das einzige was sich verändert hat, die Politik der grössten Regierungspartei, der PT ist. Nicht nur gegenüber ihrem traditionellen Parteiprogramm, das nur noch von einer Minderheit vertreten wird. Sondern auch gegenüber der von der Partei verabschiedeten Wahlplattform des Jahres 2002. Darauf haben eben in diesen Tagen eine Reihe von Ökonomen hingewiesen, die traditionell der PT verbunden sind und feststellen müssen, dass die Wirtschaftspolitik weitestgehende Kontinuität zu der der Vorgänger-Regierung des Präsidenten Cardoso aufweist.(1)
Dabei sind die Fragen - hinter aller demagogischer Mediennutzerei - sehr klar. Soll das Eingangsalter für die Rente im öffentlichen Dienst von 53 auf 60 Jahre erhöht werden oder nicht? Was nutzt es, wenn das Projekt der Regierung über Jahre hinweg 52 Milliarden Reais (grob sind 3 Reais 1 Euro) einsparen soll, während allein im ersten Quartal 2003 schon 48 Milliarden Reais an Zinsen für internationale Kredite bezahlt wurden? Wo liegen die wirklichen Privilegien von ÖD-Rentnern, wenn 3000 Firmen mit insgesamt 75 Milliarden Reais in Zahlungsrückstand liegen?(2)
Der parteiinterne Widerstand auf allen Ebenen ist relativ gross - eine Umfrage der "Folha de São Paulo" ergab, dass mehr als 60 Prozent aller PTisten zumindest Veränderungen an dem Gesetzentwurf wollen.
Zugespitzt hat sich dies auf zwei Bereiche : Zum einen Gegensätze innerhalb der CUT-Gewerkschaften. Der Gewerkschaftsverband hat sich gegen den Streik seiner ÖD-Gewerkschaften ausgesprochen - einmal mehr eine Frage, inwiefern dies die konföderative Satzung respektiert. Hier wird mit Sicherheit bis zum 8.Juli noch einiges passieren...Wobei für die konservativen Medien - etwa den "Estado de São Paulo" die Sache klar ist - die streikwilligen Gewerkschaften stehen unter dem "Kommando" der (trotzkistischen) PSTU. Dass die in diesen Bereichen Einfluss hat, ist Tatsache, mehr nicht.
Der zweite Bereich: Parteisäuberung. Die Senatorin Heloisa Helena und die Abgeordneten Luciana Genro, Lindberg Farias und Babá sollen nicht nur, was bereits geschehen ist, vom unmittelbaren parlamentarischen Prozess um die Rentenreform ausgeschlossen werden, sondern auch von der Ethikkomission der PT befragt werden - am 29.Juni. Auch dagegen gibt es wachsenden Widerstand, denn alle Anschuldigungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr "Vergehen" darin besteht, das gültige Parteiprogramm zu vertreten. Der Abgeordnete Babá brachte es in seinem Pressedienst und Mailservice vom 5.Juni 2003 auf den Punkt: "Wenn der Parteivorsitzende sagt, er habe eben seine Meinung geändert - das darf er natürlich, wie jeder andere auch. Was aber nicht geschehen darf ist, dass einzelne Politiker, auch wenn sie Ämter innehaben, ihre Meinung ändern und so tun, als habe die Partei ihre Meinung geändert. Auch das kann geschehen, aber dafür ist ein entsprechender Diskussionsprozess Voraussetzung samt abschliessender Beschlussfassung der zuständigen Parteigremien, was beides weder stattfand noch angestrebt wurde." Bei diesen nunmehr "unzeitgemässen" Inhalten handelt es sich auch keineswegs um ein altes Programm, sondern um die Wahlplattform der Kampagne 2002 - also das, wofür die PT gewählt worden ist, was sie auch in den Koalitionsgesprächen deutlich gemacht hatte.
Wer nähere Informationen über die Solidaritätskampagne mit den "gemassregelten" Abgeordneten haben möchte,
kann sich an Helmut Weiss wenden.
Ubirajara Alves de Freitas
LabourNet Germany | Top ^ |