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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Die Kampagne zur Rücknahme der Privatisierung der Vale do Rio Doce: Keine guten alten Zeiten Die Vale do Rio Doce - das war sozusagen das Kronjuwel der brasilianischen Staatsbetriebe, hat das Bergbauunternehmen doch die Verfügung über nachgeradezu immense Bodenschätze. Jetzt haben zahlreiche Organisationen der Linken und der sozialen Bewegungen eine Kampagne zur Rücknahme der Privatisierung begonnen - als eine, nach Gesetzeslage durchaus machbare, Forderung an die Regierung Lula. Was die Regierung Cardoso bezüglich der damaligen Privatisierung unternahm, war dermaßen am Rande der Legalität, dass eine Rücknahme dieses Prozeßes ohne Probleme legal machbar wäre, über einhundert Prozeße sind noch anhängig. In der ersten Septemberwoche findet dazu ein Plebiszit statt. Die "Volksbrigaden" im (Bergbau-, wie der Name sagt) Bundesstaat Minas Gerais sind eine der diese Kampagne tragenden Gruppierungen. Wie diese Kampagne bisher aussieht und warum die Brigadas Populares sich als eine eigentlich urbane Bewegung daran beteiligen - und weswegen sie weder für "Verstaatlichung" noch für das übliche Monopoly-Spiel ("gehe zurück auf Start") eintreten, erläutert im Interview "Keine guten alten Zeiten" Pedro Otoni am 5. September 2007, direkt an der neu (selbst) gelegten Telefonleitung in einem besetzten Hochhaus in Belo Horizontes (Landeshauptstadt von MG) sehr gutbürgerlichen Stadtteil Serra. "Keine guten alten Zeiten" Pedro, zuerst die Frage: Hat diese Kampagne Chancen, zu gewinnen? Ich denke schon: Einmal, weil es eine starke - vielleicht nicht mehrheitliche, aber eben: starke - Strömung in der sogenannten öffentlichen Meinung gibt - und ich sage öffentliche Meinung, keineswegs veröffentlichte Meinung, die brasilianische Journaille ist genauso handwerklich schlecht und ideologisch verengt, wie die deutsche - also unter der Bevölkerung, trotz der Medienarbeit, eine Strömung die meint, die Vale hätte nicht zum Preis von Bananen verkauft, also verschleudert werden dürfen. Zum anderen ist es ein noch selten dagewesenes breites Bündnis von Organisationen, die diese Kampagne aktiv trägt - breiter noch als jenes zur Volksabstimmung über die Schuldenrückzahlung, das immerhin 11 Millionen Unterschriften sammeln konnte. Drittens schliesslich gibt es auch Teile in der PT und sehr große Teile in der CUT - die hat sogar landesweit eine "Argumentationshilfe" zum "Nein" bei der Volksabstimmung veröffentlicht - die diesmal aktiv mitmachen, im Gegensatz zu damals bei der Volksabstimmung über die Schuldenrückzahlung , sei es, weil sie etwas suchen, um sich der Linken wieder anzunähern, sei es, weil sie diese einfangen wollen oder sich innerparteilich bzw -gewerkschaftlich zu profilieren. Die Kampagne heisst "Rücknahme der Privatisierung" - wenn ich das richtig interpretiere, ist das eine alternative Variante, etwa zu einer Forderung "Wiederverstaatlichung" oder ähnliches. Was gibt es da für Debatten und Überlegungen? Nun zum einen ist der offizielle Kampagnenname "Annullierung". Was das Ergebnis davon ist, dass es schon sehr unterschiedliche Vorstellungen bei den Gegnern der Privatisierung gibt, die sich eben in der Annullierung einig sind. Ich meine: Jede und jeder kann sehen, wieviel Profit da jedes Jahr gemacht wird, und auch wenn manche in der Argumentation darauf abzielen, diese gingen vor allem ins Ausland, so sind die Zeiten, da dies eindeutig war, auch vorbei: Die große Privatbank Bradesco gehört zu den Hauptprofiteuren, und die ist sehr brasilianisch. Und war "Berater" Cardosos bei der Privatisierung, das ist einer der Punkte, die noch in der Justiz behandelt werden. Nur ist es eben so: Die staatliche Vale war eben nichts nettes. Zurück zur alten Vale, also in die "gute alte Zeit" das wäre nicht nur zurück zu massiver Umweltzerstörung, das wäre auch die Wiedereinführung der geteilten Belegschaften - privilegierter Kern und elendige Zeitarbeitermasse und die ganze Bürokratie, die schliesslich in den Zeiten der Militärdiktatur gebildet wurde, also das kann niemand meinen, dass es wieder so werden soll. Das kann niemand meinen, sage ich, aber selbstverständlich gibt es gar nicht wenige, die genau das meinen, schliesslich gibt es auch auf der Linken und in den sozialen Bewegungen konservative und Beharrungskräfte, die neue Herausforderungen scheuen. Aber einerseits läuft die Kampagne zusammen mit drei Anderen, etwa die Forderung nach ebenfalls Rücknahme der Erhöhung des Rentenalters, also doch zurück, andrerseits hat der PT-Vorsitzende, der frühere Arbeitsminister Berzoini doch auf dem gerade stattgefundenen 3. Parteitag der PT doch laut und deutlich gesagt, zwar unterstütze die PT diese Forderung, aber ihre Behandlung sei bei der brasilianischen Justiz kompetent aufgehoben. Ist das ein gutes Szenario für die Weiterentwicklung linker Positionen? Ja, Berzoini ist eben Vorsitzender der Regierungspartei, klar, dass die sich nicht verpflichten lassen wollen. Sonst bekämen sie ja echten Ärger mit ihren Paulistaner Geschäftsfreunden. Andrerseits war Lulas Wiederwahl vor allem ein Werk der armen Bevölkerung quer durchs ganze Land, nicht zuletzt aber auch im Nordosten, wo die Vale heute besonders aktiv ist. Ich meine, dass die PT heute Gouverneure in Bahia und Paraiba hat, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Auf der anderen Seite ist es aber natürlich so, dass die PT noch nicht ewig sozialdemokratisch ist, wie etwa in Frankreich, England oder Deutschland - was heisst, da gibt es schon auch noch echte Linke in der Partei - bei euch ist das ja eher ein Witz. Linke mit schlechtem Gewissen, weil sie auch die imperiale Strafaktion gegen Haiti mitverantworten, mit der sich das PT Brasilien als regionale Großmacht profiliert. Dass heisst: Gegen Militäreinsatz, Auswertung der Entwicklung im Nordosten und - in dem von Dir erwähnten "Fall" des Rentenalters: Kritik des "alten" Sozialsystems, das kann schon einen Prozeß einleiten, der vielleicht Antworten auf die entstandenen neuen Fragen zuläßt. Wobei man natürlich niemals neu anfängt, niemals. Ich glaube es war ein französischer Philosoph, der einmal gesagt hat "man fängt immer wieder neu an, mittendrin" - das gilt eben auch für die PSOL, die ja einfach die PT wieder neu auflegen wollte, plus guter Absichten, was natürlich idealistisch ist. Denn das alte Rentensystem liess ja nun Abermillionen von Menschen im Elend und das kann es nicht sein. Und was kann nun etwa der inhaltliche Beitrag einer organisierten Sozialbewegung, wie es die Volksbrigaden sind, in dieser Auseinandersetzung sein? Nun, eben gerade weil wir einigermaßen erfolgreich versuchen, Menschen aus urbanen Problemzonen zur Aktivität zu mobilisieren haben wir natürlich in unseren Reihen bzw unter denen, die es uns zu mobilisieren gelingt, viele, die aus eigener Erfahrung wissen, dass die "alten Zeiten" schlicht nicht gut waren, so wenig es die heutigen sind. Ich meine, um aus unserem breitesten Erfahrungsfeld zu sprechen: es gab ungefähr, ich weiss es nicht, aber alles zusammengezählt, jeden Bundesstaat usw, bestimmt bereits über eintausend Wohnbauprogramme, es gibt schon ewig die COHABs usw (Städtische Sozialbaugesellschaften) und nichts hat die Wohnsituation der 250.000 Menschen im Aglomerado da Serra verbessert. Jede Menge ihrer Eltern wissen gar nicht, was eine Rente ist. Und wenn beispielsweise ein gewisser Teil der Betriebsgewinne - die die Vale ja immer gemacht hat, reichlich - für soziale Ausgaben verwendet werden muß, und nicht nur Bürokraten darüber entscheiden, das könnten dann schon spürbare Verbesserungen sein... Und wie werden solche neuen Ansätze praktisch in die Debatten gebracht? Nun, um am Beispiel der Betriebsgewinne zu bleiben, lass mich zwei Sachen anführen. Ich habe ja in Deutschland etwa das Prinzip der Sparkassen ein bisschen mitbekommen, die ja ihre operativen Gewinne tendenziell in den Stadthaushalt einbringen - eben der Grund warum die IWF Camarilla euere Sparkassen abgeschafft sehen will - wie auch etwa die brasilianische Bundessparkasse. Aber: das wird entweder vom Finanzmensch der Stadt oder, soweit ich weiss, patriarchalisch auf Antrag hin entschieden. Ich kenne jetzt die Struktur nicht genau, meine aber, dass es deutlich wird, dass es kein Ansatz ist, der wesentliches verändert. Da sind dann die brasilianischen Erfahrungen mit dem partizipativen Haushalt schon ein ganz anderer Ansatzpunkt - aber auch nicht mehr, denn eben dieses Projekt ist immer weiter ausgehöhlt worden, hier in Belo Horizonte gibt es das auch als inzwischen völlig kanalisierter Prozeß - eine Tendenz, die es schon einst in Porto Alegre gab, von wo aus es ja weltbekannt gemacht wurde, die aber inzwischen dominant geworden ist. Und von diesen Erfahrungen ausgehend andere Wege einzuschlagen, das ist die konkrete Herausforderung in diesem Fall. Und wir haben ja in nahezu allen Städten des Bundesstaates, wo es diese angeblich partizipativen Haushalte gibt oder gab, sehr viele Menschen dafür mobilisiert, an ihnen teilzunehmen, vor allem eben anhand der Wohnfrage und solcher, die damit eng zusammenhängen, was auch gelang - nur kamen keine Ergebnisse zustande, eben weil der Prozeß kanalisiert ist. Das schreit nach Veränderung - und eben nicht nur nach Wiederbelebung. Meinst Du, das gilt für alle Fragen des Kampfes gegen Privatisierung? Laß mich zuerst eines sagen: Ich finde es sozusagen einen Akt politischer Unterwerfung, dass wir uns den Umfang der Privatisierungsdebatte vom Kapital aufzwingen lassen. Wir verteidigen Versicherungssysteme, die aus einer Periode der Marktwirtschaft stammen - über das wie habe ich schon ansatzweise geredet - ok, in Ordnung. Wir haben unsere TV Globo, ihr habt eueren Bertelsmann. Ihr habt U-Bahnen, wir haben (private) Omnibusse - unter anderem von eueren Autofirmen aufgezwungen per diktatorischer Abschaffung der Eisenbahn usw. Aber wir akzeptieren ohne groß ein Thema daraus zu machen, dass Nahrung eine Ware ist. Das ließe sich leicht verlängern, etwa um die heutige Wissenschaft. Klar muß es da Bewegung geben, die gibt es hier, bei jedem Riot werden die Supermärkte geplündert, es tut sich viel auf dem Land etc. Ich finde es weiterhin seltsam, dass wo alles von der Demokratie redet, von der so getan wird, als wäre sie etwas anderes als eine der denkbaren Herrschaftsformen, dann die Versorgung der Menschen der Diktatur des Alleineigentümers unterworfen wird. Vielleicht reicht das schon, um meinen Gedankengang, der ja nicht nur meiner ist, anzudeuten und damit die Antwort nahezulegen, dass in der Tat in jedem Kampf gegen Privatisierung, der ja immer auch ein Kampf gegen die Welt als Supermarkt ist, also die Verwandlung von allem in Waren dieselben Fragen auftauchen, dieselben Probleme sich stellen, und dies im übrigen keineswegs nur in Brasilien. Es geht definitiv nicht um die Rückkehr zu guten alten Zeiten, sondern darum, diese viel zu lange währende alte Zeit möglichst zu beenden und einer neuen den Weg zu bahnen. (Das Gespräch führte hrw). |