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Updated: 18.12.2012 15:51
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Der Krieg gegen die "gefährlichen Klassen": mehr Soldaten in Rios Favelas als auf Haiti

Auf der Suche nach Waffen - eine Handgranate zu finden, war schon eine Schlagzeile wert - hat die brasilianische Armee mehrere Favelas in Rio de Janeiro durchkämmt. Mit 1.600 Soldaten, mehr als an der Besatzung Haitis beteilgt sind. Das erste Opfer: Ein 16jähriger Schüler der "zufällig" getroffen wurde. Schon beim "Rolling Stones" Konzert an der Copacabana war über mehrere Slums der Umgebung eine Art Ausgangssperre verhängt worden. Die Journaille tobt - und die meisten Menschen finden es gut, richtig oder mindestens nötig. Schlaglichter auf einen aktuellen Krieg, der keineswegs nur in Brasilien stattfindet: "Gefährliche Klassen" vom 8. März 2006

Gefährliche Klassen

Seit etwa der Zeit des Welt-Umweltgipfels 1992 (als passenderweise eine Hochstrasse gebaut wurde, in deren Schatten Strassenzüge verfallen) sind die BewohnerInnen von Rio de Janeiro den Einsatz von Militär in der Stadt gewohnt: die Polizei alleine war längst nicht mehr in der Lage, dem bewaffneten Drogenhandel beizukommen. Dennoch waren Militäreinsätze bisher in der Regel gemeinsame Aktionen, diesmal nicht: Auf der Suche nach 10 aus Armeebeständen entwendeten Gewehren wurden einige der ärmsten Gebiete der Stadt unter einen regelrechten Belagerungszustand gestellt. Dass dabei Unbeteiligte zu Opfern werden, mag sogar im Einzelnen Zufall sein, ist aber in jedem Fall ein voraussehbarer "Kollateralschaden" - mit Namen Eduardo dos Santos in diesem Fall.

Wie meist in solchen Fällen, ist die Mehrheit der Bevölkerung, quer durch alle Klassen und Schichten für allerart drakonische Maßnahmen zur Steigerung der "Sicherheit". Und es ist ein Mythos, dass die Bevölkerung der Slums in den Drogenhändlern eine Art Beschützer sähe. Was für Rio genauso gilt, wie für jede andere brasilianische Großstadt.

Wo leben die Drogenfürsten ?

Wer lebt in einer Favela? Erwerbslose zumeist, "Hilfsarbeiter" (nicht zuletzt aus der Bauwirtschaft), Schwarzarbeiter aller Art, viele (längst nicht alle) StrassenhändlerInnen, jede Menge alleinstehende Mütter jeden Alters, Dienstmädchen ohne Ende. Und sicher, in vielen auch die "Offiziere" des Drogenhandels und ihre Gangs.

Jedoch weder die grosse Zahl der Konsumenten noch gar die wirklichen Herren des Geschäfts - die wohnen weitab in den teueren Vierteln, ganz wie auch die Dealer der legalisierten Drogen Alkohol und Tabak. Das weiss jeder und jede, dennoch wird - nicht nur in den Medien - ständig so getan, als ob der Drogenhandel vor allem eine Sache der Slums wäre, was sich schon erledigt, wenn daran gedacht wird, woher denn die zahlungsfähige Kundschaft kommen soll.

Die Militäraktion von Rio ist die Spitze des Eisbergs einer Politik, die grundsätzlich in den ärmsten Teilen der Bevölkerung "gefährliche Klassen" sieht, in ihren Bezirken den Hort der Kriminalität, und dies von Bombay bis Rio und Kairo bis Kapstadt.

Schlaglichter vom Slumleben

Soledade ist weg gezogen aus Belo Horizonte, weit weg in den nächsten Bundesstaat, runde 1.500 Kilometer. Eine gute Bekannte, die drei Söhne hatte. Hatte, denn im Abstand von zwei Jahren wurden die beiden älteren ermordet. Von Drogenbanden - für die sie arbeiteten. Danach wollte sie nur noch eines: weg. Weg, um das Leben ihres Jüngsten zu retten, bevor er, ohne Job, ebenfalls in den Handel einsteigen würde oder, einfach so, als potentieller Rächer, erschossen würde. "Wir sind immer die Opfer", sagt sie "egal ob die Gangs hier sind, oder die Polizei, keiner von denen ist besser, alle bringen sie uns um". Ihrer Einzimmerhütte trauert sie verständlicherweise nicht nach. Dabei gilt der Aglomerado da Serra, jenes Sammelsurium von Favela-Gemeinden in dem Soledad zusammen mit etwa 200.000 anderen Menschen wohnt, keineswegs "besonders gefährlich", weder in Belo Horizonte, noch gar verglichen mit Rio.

Roberto wohnt in einer Favela in São Paulo, Milton Tavares im Norden der Stadt: er lebt davon, dass er eigentlich alles, was an einem Haus zu tun ist, reparieren kann. Dort hat die Präfektur ein "Umsiedlungsprogramm" gestartet. Sogar mit kleinem finanziellen Zuschuss. Er bleibt. "Das bisschen Geld ist doch schnell weg: alle Umsiedlung geht 20 oder 30 Kilometer nach ausserhalb, Du brauchst statt einem zwei oder gar drei Busse und das jeden Tag, weil dort gibt es für mich keine Kunden..." Er hat sich ein Steinhaus gebaut, mit fliessend Wasser und Strom.

Silvio wiederum lebt in den Grenzbezirken ausserhalb Brasilias - wo die Kontrollen wegen der vielen ach so wichtigen Leuten besonders heftig sind und Polizeipräsenz Alltag. Er ist Strassenhändler und deswegen steht er unter Generalverdacht. "Woanders wäre es sicher leichter, aber meine ganze Familie und alle meine Freunde wohnen nun mal hier und ich bin hier geboren und will hier bleiben".

Joaquim schliesslich ist Müllsammler, dh an den Mülltagen geht er früh los und sammelt Papier, Plastikflaschen, Büchsen aus den Müllsäcken heraus. Und wohnt in einer der "berüchtigsten" Favelas von Rio de Janeiro, im Complexo do Jacarezinho. Als "Unternehmer seiner selbst" betrachtet er sich - durchaus zurecht - als Fachmann in Recycling. "Dass die meisten hier überleben, ohne zu hungern, ist schon eine grosse Leistung, die niemand respektiert. Aber es gibt eine wachsende Tendenz, sich zu organisieren - ich selbst überlege gerade, ob ich einer Kooperative beitreten soll".

Schlaglichter sicher - mehr nicht. Von im Laufe der Zeit zustandengekommen Bekanntschaften. Zufällige Auswahl, sicher. Andrerseits auch mehr als nur persönliche Meinungen und Erfahrungen.

Und die Lösungen ?

Sicherlich kein Zufall ist es, dass alle diese Menschen bestimmte Meinungen vertreten, die nicht ohne weiteres "mehrheitsfähig" sind. Einen vernünftigen Mindestlohn, nicht die 350 Reais Hungerlohn, wie ihn jetzt Gewerkschaften und Regierung ausgehandelt haben. Einen Staatshaushalt, der Gelder zur Unterstützung von Selbstorganisation hat (und nicht vor allem zur Finanzierung der Bezahlung von Auslandsschulden) - auch wenn die Zeiten, als dies eine breite Forderung war, dank der PT-Regierung erst einmal vorbei sind - und von allen möglichen Projekten der Politik haben sehr viele "die Nase voll".

Kooperativenbildung in jeglichem Sinne und in verschiedensten Bereichen sind "in". Für das Projekt einer Metaller-Kooperative im Aglomerado in Belo Horizonte, von einer linken Gruppierung vorgeschlagen und initiiert, melden sich bei einer Veranstaltung zur Vorstellung über 200 erwerbslose Metallarbeiter.

Was mit Sicherheit keine Lösung ist: Militär und Polizeieinsätze, auch wenn sie im beginnenden Wahlkampf noch so beliebt sein mögen.

(Ergebnis vor allem einer Reihe von Telefonaten aus Anlass des Militäraufmarschs in Rio, sind dies eben genau, was es sein sollte: nicht mehr als Schlaglichter).

Helmut Weiss


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