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Updated: 18.12.2012 15:51 |
"Das war eine ganz normale Katastrophe" Ein ausführliches Telefoninterview "Eine ganz normale Katastrophe" vom 30. Juli 2007 mit Vicente Farias von der Ingenieursgewerkschaft in São Paulo über Ursachen und Hintergründe des Flugzeug"unfalls" von Congonhas "Das war eine ganz normale Katastrophe" Vicente, ich frage Dich jetzt als gewerkschaftlichen Unfallexperten: Was bedeutet die Katastrophe von Congonhas? Nun, ich sage Dir in aller Offenheit, das war eine ganz normale Katastrophe. Das ist kein Zynismus, sondern eine sachliche Einschätzung. Ganz normal soll heissen: So etwas passiert alle Tage beinahe - und immer wieder passiert es auch tatsächlich. Wenn etwa so neues wie eine Risikofolgenabschätzung oder andere Maßnahmen, die heute fast selbstverständlich klingen, vorgenommen werden, dann heisst das ja immer auch: Es gibt die Risiken, wie gross oder klein sie auch immer sein mögen... Im Falle von Congonhas doch aber eher gross, oder? Ja klar. Ich meine, ein Flughafen mitten in der Stadt ist, wie eine Chemieanlage mitten in der Stadt oder eine Autobahn mitten in der Stadt immer eine permanente Bedrohung. Und einst war ja auch Guarulhos gebaut worden, um Congonhas schliessen zu können, von Viracopos im nahen Campinas ganz zu schweigen. Nur, was ich meine ist: wenn es pausenlos in der Luft und zu Lande "Beinaheunfälle" gibt, dann ist es doch tatsächlich normal, dass ab und zu es eben nicht beim Beinahe bleibt. Nun gab es ja die Meldungen, es seien Defekte an der Maschine bekannt gewesen - aber halt der Art, dass noch eine Weile geflogen werden könnte. Stimmt das? Ich habe ja nun keinen Kontakt zur operativen Leitung der TAM, deswegen weiss ich das nicht konkret. Was ich aber weiss, ist dass es solch eine Kategorie Defekte gibt: Sie werden registriert, müssen auch zur Reparatur, aber eben nicht sofort. Das eigentliche Politikum ist dann eben, dass eine solche Kategorie überhaupt eingeführt wird - und weniger, inwieweit die TAM dagegen verstoßen hat. Es handelt sich ja nicht um ein Fahrrad, mit individueller Verantwortlichkeit. Früher waren die Normen auch andere: Defekt erkannt, kann nicht fliegen. Das Arsenal ist ja weltweit daselbe Was ist nun von den Maßnahmen von Regierung und Luftfahrtbehörde zu halten? Alles, was passiert - ich betone alles - ist im Rahmen der bestehenden Logik. Neue Landebahnen oder neue Flughäfen sind wie neue Straßen: Kaum gebaut, schon überfüllt. Mehr Kontrolle: die Luftfahrtbehörde untersteht der Luftwaffe, ist Teil des Ministeriums der Waffengattung, streikende Lotsen werden, jetzt auch von Lula, als Meuterer bezeichnet und behandelt. Noch mehr Kontrollen? Von denen die meisten dann doch nicht stattfinden? Das alles ist so wenig tauglich wie die ritualisierten Kommunikationsabläufe nach solchen Katastrophen - oder aber als Vorgänge und Haltungen zu bezeichnen, die allesamt ihrerseits die Logik die zur Katastrophe führt, fortsetzen. Du meinst die Logik des Kapitalismus? Auch, aber nicht nur. Wenn man sich speziell die Geschichte der brasilianischen Verkehrswirtschaft anschaut, so wird natürlich die Logik des Kapitalismus deutlich: Zuerst gab es eine Zeit in der, wie in so vielen vergleichbaren Staaten, es eine Angelegenheit nationalen Stolzes war, eine eigene Fluglinie zu haben. Bei der Militärdiktatur wurde dies schon privatisiert: Die VARIG vor allem war das Geschöpf des Klientelismus der Diktatur, ganz wie TV Globo - aber immer noch auf eine Art eine nationale Angelegenheit, etwa so wie bei euch die Deutsche Bank, von der ja auch viele Ausländer denken, sie wäre wegen ihres Namens eine Staatsbank. Jetzt ist VARIG, wie vorher VASP und Transbrasil pleite und Tausende qualifizierter MitarbeiterInnen sind entlassen worden - mit TAM und GOL haben zwei selbstdefiierte Billigflieger den inländischen Markt unter sich aufgeteilt. Natürlich mit allen möglichen Subunternehmen - und das gehört ja auch zum Arsenal, dass Verantwortlichkeiten für Ereignisse denen zugeschrieben werden, die tun, was sie sollen: billigmachen. Das ist die angesprochene kapitalistische Logik, inklusive der stetigen Beteuerungen, an Sicherheit werde nicht gespart, die ja auch nur auf vorhandene Ängste antworten. Aber da spielen eben auch noch andere ideologische Faktoren, die zu praktischen, kaum noch hinterfragten geworden sind, mit hinein: Die Schnelligkeitsideologie zum Beispiel. Klar, Brasilien ist ein riesiges Land: Würdest Du mich fragen, ob es in Deutschland Inlandflüge geben muß, würde ich Dir glattweg Nein sagen. In Brasilien sieht das schon anders aus: Zumal die internationalen Autokonzerne - inklusive der deutschen - dafür gesorgt haben, dass es keine Eisenbahn mehr gibt, und nur noch Busse und vier Tage im Bus sind schon hart. Und im übrigen weitaus gefährlicher als fliegen... Aber die Luftbrücke zwischen São Paulo und Rio beispielsweise ist überflüssig und die Flughäfen überfordert. Und, wie gesagt, wer nur Verbesserungen innerhalb des bestehenden Systems bedenken kann, der kann gar nicht an die Wurzeln der Sachen kommen. Wie beurteilst Du die Reaktionen aus der Gewerkschaftsbewegung dazu? Nun alle waren zunächst einfach nur geschockt, das ist ja menschlich, das geht durch die Gesellschaft, wenn man es schon zur Kenntnis nimmt - schliesslich war die Zahl der Todesopfer gross genug, um tagelang für Schlagzeilen zu sorgen. Wir haben als Querschnittgewerkschaft - manche, die auch nichts anderes machen, würden es wohl "ständisch" nennen - da vielleicht sogar einen Vorteil, dass wir, wenn es um die Interessen unserer Mitglieder geht, eben nicht nur von einem Standpunkt aus argumentieren und denken. Ich meine, viele von unseren Leuten haben unter anderem das ganz persönliche Interesse, gute Arbeit zu leisten - wofür es entsprechende Bedingungen geben muß, inklusive Zeit. Man könnte aus verschiedenen auch beruflichen Ansätzen durchaus mit einer breiten gesellschaftlichen Debatte versuchen, ein neues Konzept von Mobilität zu entwickeln, was aber wohl mit Rückgängen bei Auto und Flugzeug verbunden wäre und ab da wird es auch für Gewerkschaften schwierig. Deshalb reiht man sich sicherheitshalber, und das meine ich gar nicht böse, in den Chor jener ein, die das Gewohnte verkünden: Mehr bauen, mehr kontrollieren... Siehst du da gar nichts positives drin? Doch natürlich: Wenn jetzt endlich Flughäfen aus den Städten verschwinden, ist dies ein Fortschritt. Aber eben keine Lösung. Da gilt die alte Losung: Große Projekte - große Potentiale, in jede Richtung. Es gibt solcherart Projekte auf der ganzen Welt, in allen möglichen Bereichen - hier bei uns soll mal wieder ein großer Fluß umgeleitet werden, um nur eine aktuelle Auseinandersetzung zu nehmen - kanalisierte Flüsse aber sind besonders überschwemmungsträchtig, und so weiter und so fort... Bist Du als Ingenieur etwa ein Technikfeind? Ja, das ist die übliche linke Frage, die kommt immer, und immer sage ich: Nein, beileibe nicht. Aber man muß eben Nutzen mit Schäden abwägen und das in einer gesellschaftlichen Debatte und dann auch Sachen nicht machen... |