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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Lateinamerikas Dienstagsdemo – kontinentaler Aufschrei der Ausgeschlossenen in Lateinamerika und der Karibik am 12. Oktober „Nur durch Druck der Volksbewegungen ändern
wir neoliberale Politik“ „Nirgends auf der Welt ist die Diskrepanz zwischen Reichen und Armen so kraß wie auf unserem Kontinent, nie zuvor gab es so viele Hungernde und Arbeitslose“, klagt das Manifest zum diesjährigen, sechsten Aufschrei an. „Auf unseren Straßen streiten Kinder und Bettler wie Tiere um die Abfallkübel“. In Sao Paulo, der reichsten lateinamerikanischen Wirtschaftsmetropole mit über tausend deutschen Unternehmen, hat Luiz Bassegio solche Szenen, absurdeste Sozialkontraste täglich vor Augen. Würde jemand in Deutschland für fünfzig Cents Stundenlohn selbst am Wochenende auf dem Bau arbeiten, sich für zweihundert Euro monatlich ans Band eines Automultis stellen? In Brasilien sind solche Sozialdumping-Löhne normal, ermöglichen den zunehmend in die Erste Welt exportierenden nationalen und multinationalen Konzernen traumhafte Gewinne. Die Kehrseite – auch Sao Paulos, Rios extrem gewaltgeprägte, meist vom organisierten Verbrechen neofeudal beherrschte Slums wachsen als Parallelstaat jährlich um über zehn Prozent – alles in Europa kaum oder gar nicht wahrgenommen, sogar verdrängt. Luiz Bassegio koordiniert von seinem kleinen Pastoral-Büro aus sämtliche Aktionen des „Grito continental“ – eine Sisyphusarbeit. Denn am 12. Oktober und in den Tagen danach werden nicht nur in Brasilien, Argentinien und Chile Ungezählte auf Kundgebungen und Prozessionen, bei Mahnwachen, Konzerten und in Gottesdiensten gegen die Zustände protestieren, sondern auch in Kolumbien, Haiti und selbst den USA, in bisher dreiundzwanzig Ländern. „Der Grito ist eine neue Form der Manifestation, befreiungstheologisch inspiriert, zeigt Auswege, Alternativen. Nicht etwa Politiker und Gewerkschaftsführer reden, sondern die sozial Ausgeschlossenen selber. Wichtig ist, daß alle Proteste in den Ländern gleichzeitig stattfinden, um Wirkung zu erzielen. Es nützt wenig, wenn man mal hier, mal dort etwas organisiert.“ Bassegio streut Unmengen interessanter Fakten in die Grito-Dokumente: In Lateinamerika, der Karibik leben derzeit 204 Millionen in Armut, neunzig Millionen im Elend. Doch nur drei Nordamerikaner, Bill Gates, Paul Allen und Warren Buffett, besitzen zusammen ein Privatvermögen höher als das Bruttosozialprodukt von 42 armen Nationen, mit sechshundert Millionen Bewohnern! „Globalisiert wird die Armut, nicht der Fortschritt, Abhängigkeit statt Unabhängigkeit, Konkurrenz statt Solidarität.“ Grito continental in Brasiliens katholischer Kirche entstanden Alles begann mit dem Grito 1995 in Brasilien, als sich die nationale Bischofskonferenz (CNBB) mit ihrer Brüderlichkeitskampagne erstmals den sozial entwurzelten, marginalisierten Bevölkerungsteilen widmete, mit Hilfe der Pastoralen alljährlich einen landesweiten „Grito dos Excluidos“ organisierte. Bald schlossen sich Bewegungen wie die der Landlosen, und selbst Gewerkschaften an. Ab 1999 sprang der Funke auf ganz Lateinamerika und die Karibik über. „Doch im Grunde geht der Grito continental weiter von Brasilien aus, wird hier am meisten von der katholischen Kirche, ihren Sozialpastoralen unterstützt - den zweiten haben wir 2000 sogar von der UNO in New York aus gestartet.“ In den anderen Ländern beteiligen sich am Grito vor allem kommunale Organisationen, die Kontinentale Allianz(ASC), entstand ein weitgefächertes Netzwerk. Haiti und Kuba Luiz Bassegio, gleichzeitig Sekretär der brasilianischen
Migrantenseelsorge, war von Anfang an dabei, verfaßte zahllose Grito-Zeitungen
und Argumentationen, reist kontinuierlich in alle beteiligten Länder,
erklärte selbst auf Haiti, wie man einen „Grito“ organisiert.
Dort führen derzeit brasilianische Militärs die UN-Einheiten.
„Wir haben gegen die Truppenentsendung eine Unterschriftenaktion
gemacht – die USA, selber schon in Konflikte wie Irak und Afghanistan
verwickelt, haben Brasilien für diese stupide Rolle vorgeschickt.
Die Lage dort ist derzeit superkompliziert – viele rivalisierende
Gruppen, und die Volksbewegungen verbünden sich nicht.“ Gegen Zahlung der Außenschulden, gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA Die diesjährigen Proteste richten sich speziell auch gegen die Zahlung der Außenschulden und die von den USA favorisierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA. „Das ist eine Strategie der Vereinigten Staaten, ihre Waren überall auf dem Kontinent zu verkaufen – wie Coolin Power und selbst Bush erklärten. Aber wir akzeptieren das nicht –die ALCA würde vor allem die kleine Landwirtschaft, die kleine und mittlere Industrie unserer Länder zerstören. Die USA und Kanada erbringen achtzig Prozent des Bruttosozialprodukts von Nord-und Südamerika, Brasilien dagegen nur über vier Prozent, Argentinien nur 2,2 Prozent – solche assymetrischen Wirtschaften kann man doch nicht gleichsetzen! Wir wollen Integration, claro, aber das heißt zuallererst Investitionen in den armen Ländern. In den USA entfallen auf tausend Beschäftigte der Landwirtschaft etwa 1500 Traktoren, bei uns nur fünfzig, sechzig. Wir müssen zuerst einen Wirtschaftsblock unter uns bilden – dabei aufpassen, daß Brasilien nicht ähnlich den USA die kleinen Nachbarstaaten ausbeutet.“ Kritik an Lula: „Er und die Parteispitze haben sich stark geändert“ Die brasilianische Bischofskonferenz, deren Assessor Bassegio sieben Jahre lang war, unterstützte ein Plebiszit gegen die ALCA, über drei Millionen unterschrieben. Jetzt wollen die sozialen Bewegungen ein offizielles Plebiszit. „Leider hört uns Lula nicht.“ Besonders in der Ersten Welt wird der Staatschef und einstige Gewerkschaftsführer als Heilsbringer verehrt. „Nein, so stimmt das nicht!“ Bassegio ist persönlicher Freund Lulas. „Zur Diktaturzeit in den achtziger Jahren habe ich Lula während der Metallarbeiterstreiks vor der Polizei in unserem katholischen Seminar versteckt – wir von der Arbeiterpastoral sammelten damals auch Lebensmittel für die Streikenden. Bei der Gründung der Dachgewerkschaft CUT haben wir katholischen Seminaristen die zehntausend Statute gedruckt, ich habe das ganze geleitet.“ Heute jedoch zählt Bassegio zu Lulas schärfsten Kritikern, kritisiert die Rückzahlung der Außenschulden – ebenfalls ein zentrales Thema des Grito continental. Für den Schuldendienst wurde 2003, in Lulas erstem Amtsjahr mehr als doppelt soviel aufgewendet, wie für Gesundheit, Bildung, Wohnen, Infrastruktur öffentlichen Transport, Technologie und Agrarreform zumindest vorgesehen, bei weitem nicht aber ausgegeben. „Deshalb ist ja der Markt so beruhigt, aber das Volk so nervös. Die Höhe der Außenschulden wird nicht einmal überprüft, wie in der Verfassung vorgesehen – und die Agrarreform läuft schlechter als unter Lulas Amtsvorgänger Cardoso. Die Multis nutzen die billigen Arbeitskräfte aus und investieren, um zu exportieren. Nur durch Druck der Volksbewegungen ändern wir neoliberale Politik.“ Lula freue sich über das derzeitige Wirtschaftswachstum, die positive Handelsbilanz, den Primärüberschuß. „Doch das heißt eben nicht auch gleichzeitig bessere Einkommensverteilung, deutlich mehr Arbeitsplätze – der neu geschaffene Reichtum wird nicht verteilt, das ist die Schlüsselfrage!“ Und wegen Lulas politischen Bündnissen werde es dazu auch nicht kommen. „Lula und die PT-Spitze haben sich die letzten Jahre sehr stark geändert. “ Brasilien – Laboratorium, Experimentierfeld des Neoliberalismus Bassegio stimmt zu – Brasilien, immerhin dreizehnte Wirtschaftsnation, aber Weltmeister in sozialer Ungleichheit, ist derzeit ein Laboratorium, Experimentierfeld des Neoliberalismus – wie weit können wir gehen, testen hier die konservativen internationalen Geld-und Politikereliten. Kein Geheimnis, daß die SPD eng mit Lulas Arbeiterpartei zusammenarbeitet. „Lula richtet sich nur nach den USA, dem Weltwährungsfonds – statt den Bedürfnissen des Volkes Priorität zu geben.Wenn Bush, die USA, die Weltbank – also unsere Gegner – Lulas Kurs loben, heißt das doch, daß er denen nützt, aber nicht dem brasilianischen Volk!“ Neoliberale Politik werde fortgesetzt, ein Drittel der über 180 Millionen Brasilianer habe monatlich weniger als umgerechnet zweiundzwanzig Euro zum Überleben. Die Arbeitereinkommen sanken in Lulas erstem Amtsjahr gegenüber 2002 um 7,4 Prozent. Und der unter Lula nur minimal auf umgerechnet 74 Euro erhöhte Mindestlohn sei ein Witz. „Das kann unmöglich so weiter gehen.“ Der kontinentale Aufschrei der Ausgeschlossenen ist daher auch für Lulas Ohren gedacht. „Arbeiterpartei hat sich vom Grito entfernt“ Befreiungstheologen wie Bassegio hatten einst die Gründung der PT, der Landlosenbewegung MST und des Dachverbands CUT nach Kräften gefördert – nur der MST blieb progressiv. PT und CUT, analysierte Bassegio bereits 2000, „haben keine echte Verbindung mehr zu den Bedürfnissen und Forderungen der unteren Klassen.“ Heute, vier Jahre später, konstatiert er:“Was die Regierung jetzt macht, haben wir nicht gewollt, diese Politik führt zu nichts. Der PT hat sich vom Grito entfernt, ist ausgestiegen, die CUT ist schon fast raus, weil sie eben sehr auf Regierungslinie ist.“ Nach Lulas Wahl sei auch die brasilianische Grito-Bewegung erst einmal regelrecht abgesackt, war es schwierig, die Leute zu mobilisieren. „Das brasilianische Volk hat diese messianische Sicht – ich votiere für einen Führer, und der löst meine Probleme. Ich habe Lula gewählt – also gehts jetzt voran. Die Führungen der Volksbewegungen sind alle schon aufgewacht – ein Großteil wußte ja schon vor der Lula-Wahl, was danach passieren würde. Das Volk braucht eben eine Weile, bis es kapiert, wie es wirklich läuft. Deshalb war der nationale Grito am siebten September dieses Jahr wieder sehr stark, zwei Millionen Leute auf der Straße!“ Solidarität der europäischen Christen Luiz Bassegio reist öfters nach Deutschland, dankt in Europa besonders den deutschen Katholiken für ihre Unterstützung, arbeitet mit ihnen seit dreißig Jahren zusammen. „Deren Solidarität ist für uns fundamental! Wer trägt denn die Organisation des kontinentalen Aufschreis finanziell, macht unsere Arbeit, selbst ein Plebiszit über die ALCA, die Außenschulden erst möglich? Das sind hauptsächlich Misereor und Adveniat. Wir hier selbst hätten dafür keine Mittel. Aber auch Brot für die Welt, die Dreikönigsaktion aus Österreich, das schweizerische Fastenopfer, die Bischofskonferenzen der USA und Italiens unterstützen uns.“ Luiz Bassegio – ein unverbesserlicher Radikaler, gar abgehobener kirchlicher Intellektueller? Keineswegs, nur Realist. „Wir kommen beim Grito alle von der Basisarbeit.“ Bassegio liest täglich auch Brasiliens größte, auflagenstärkste bürgerliche Qualitätszeitung, die „Folha de Sao Paulo“. In jüngsten Kommentaren nennt sie die nationale Politik der Lula-Regierung „konservativ, um nicht zu sagen rechts“, oder „von rechts bis zum Zentrum“. Bei den jüngsten landesweiten Kommunalwahlen verbündete sich Lulas Arbeiterpartei erstmals massiv mit ausgewiesenen Rechtsparteien, in denen es von Diktaturaktivisten, politisch fragwürdigsten Figuren nur so wimmelt. Klaus Hart |