letzte Änderung am 11. Juli 2002

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Entrechtung durch Verrechtlichung?

Anne Scheidhauer über ein nicht nur belgisches Problem mit dem Streikrecht

In den letzten Jahren sind die Arbeitskonflikte in Belgien regelmäßig von zivilgerichtlichen Prozessen begleitet: Unternehmen, die bestreikt werden oder bei denen dies auch nur zu befürchten steht, rufen einseitig die Zivilgerichte der ersten Instanz an. Ein solches Verfahren hat zunächst die Feststellung eines Konflikts als Situation der Kategorie ‘höhere Gewalt’ – so der Juristenjargon – zum Ziel, um schließlich eine Schädigung des Unternehmens durch die Aktivitäten der Streikenden festzustellen und gegen Letztere Zwangsgelder zu verhängen, die sich nach nicht näher zu identifizierenden Kriterien des Gerichts meist zwischen 10000 und 500000 belgischen Francs (250 bis 12400 Euro) bewegen. In diesen Verfahren werden nicht beide Konfliktparteien gehört. Der Spruch des Gerichts wird allein auf der Basis der Darstellungen von Seiten des klagenden Unternehmens gefällt.

Bisher war es allerdings zumindest nicht üblich gewesen, die verhängten Zwangsgelder auch tatsächlich einzutreiben. Inzwischen wurden aber erstmals vier Arbeiter, die während der Auseinandersetzungen im Energiesektor im Juni 2001 an einem Streikposten in Charleroi mitgewirkt hatten, dazu verdonnert, 30500 belgische Francs (750 Euro) zu zahlen. Die Richter urteilen in solchen Fällen im Sinne des Rechts auf Eigentum oder desjenigen auf Arbeit: Ein Unternehmen darf nicht blockiert werden, weil dessen Eigentümer sonst einen Schaden erleidet; diejenigen, die zur Arbeit antreten wollen, dürfen nicht daran gehindert werden, weil dies eine Missachtung ihres ‘Rechts auf Arbeit’ bedeutet. Dass Streikaktivitäten häufig auf die selben Rechte abzielen, indem sie sich z.B. gegen Entlassungen richten, spielt bei dieser Argumentation keine Rolle.

Aber nicht nur die Zunahme gerichtlicher Interventionen ist zu beobachten, sondern auch die Vervielfältigung der dabei vorgebrachten Begründungen. So sprach das Gericht im Oktober 2001 während der Streiks bei der bankrotten und noch vor deren eigener »Bruchlandung« an die Swissair verkauften Fluglinie Sabena ein Verbot von Streikaktivitäten aus, obwohl es überhaupt keine Streikposten gegeben hatte (bei Sabena verloren schließlich 13000 Menschen ihre Arbeit). Der belgische Staat hatte sogar schon vorher Anläufe zur Aushebelung des Streikrechts gestartet: Ende 2000 machte die Direktion der belgischen Bahn (SNCB) die Runde bei den Zivilgerichten aller Bezirke des Landes, um drohende Eisenbahnerstreiks während der Hoch-zeit im Königshaus verbieten zu lassen.

Solche Praktiken treffen in Belgien auf eine rechtliche Situation, die von der faktischen, nicht aber ausdrücklichen Existenz eines Streikrechts geprägt ist: 1921 wurde das Streikverbot aus der nationalen Verfassung gestrichen; das Streikrecht hat allerdings nie Eingang in die Verfassung oder in irgendwelche anderen Gesetzestexte gefunden. Die einzige Ausnahme von dieser Regel bildet die seit der Ratifizierung durch Belgien 1990 auch dort geltende Europäische Sozialcharta. Diese garantiert das Streikrecht, eingeschränkt ggf. nur durch »Verpflichtungen aufgrund vorher geschlossener Kollektivverträge«. Dieser Rechtslage zufolge sollen Arbeitskonflikte in Belgien eigentlich zwischen den Konfliktparteien direkt und ohne Einmischung von Gerichten geregelt werden.

Nichtsdestotrotz ist die Welle von Zwangsgeldforderungen bestreikter Unternehmen in letzter Zeit völlig aus dem Ruder gelaufen. Die entsprechenden Praktiken gipfelten bereits in Vorfällen, wo Gerichtsvollzieher unangemeldet in die Häuser völlig konsternierter StreikaktivistInnen einbrachen, um deren Einrichtungsgegen-stände für die Zwangseintreibung zu kennzeichnen. Die Gewerkschaften, namentlich die sozialistische Féderation Générale du Travail de Belgique (FGTB) und die christliche Confédération des Syndicats Chrétiens (CSC) haben dieses Vorgehen der Unternehmen als systematische Strategie zur Aushöhlung des Streikrechts massiv angeprangert und die Politik inzwischen mehrfach aufgefordert, der Praxis der einseitigen Anrufung der erstinstanzlichen Gerichte durch die Unternehmen durch eine entsprechende rechtliche Regelung ein Ende zu bereiten. Beim Kongress der FGTB im Oktober 2001 waren Streikrecht und Klagewelle ein großes Thema. Dort wurde auch eine Petition lanciert, die bis 22. Februar 2002 von 80000 Mitgliedern unterzeichnet wurde. Darin heißt es: »Ich fordere, dass die kollektiven Konflikte Gegenstand von Regelungen sind, die von paritätischen Organen ad hoc verhandelt werden: Die Anrufung der Gerichte muss aus dem Verfahren ausgeschlossen werden. Ich fordere, dass die Verhängung von Zwangsgeldern aufgrund von Streikaktivitäten gesetzlich verboten wird.«

In der Reaktion auf die Überhand nehmende Praxis der unternehmerischen Schadenersatzklagen gegen Streikende haben unterschiedliche Parteien, auch Sozialisten und Grüne, Vorschläge für Gesetzesänderungen gemacht. Die vorgeschlagenen Modelle beinhalten nun allerdings so manche Einschränkung dessen, was eigentlich per bisher geltender Gesetzeslage erlaubt ist. So sollen Entscheidungen über die Legitimität von Streiks und damit über Streikerlaubnis oder -verbot im konkreten Fall von den Arbeitsgerichten getroffen werden, was die bisherige faktische Erlaubnis von spontanen, wilden und von Solidaritätsstreiks aushebelt. Bemühungen, die Praxis der zivilgerichtlichen Unternehmensklagen in den Griff zu bekommen, sehen sich also in der Zwickmühle zwischen einem eigentlich sehr umfassenden Streikrecht und einer tatsächlich sehr repressiven Praxis. Um Letztere zu entschärfen, so zumindest offensichtlich die Auffassung von Politik und Gewerkschaften, scheinen Teile des Ersteren geopfert werden zu müssen. Die aktuellen Vorschläge gehen jedenfalls samt und sonders in diese Richtung.

 

Ansätze zu einer Streikrechts‘reform’

Laurette Onkelinx, die belgische Arbeitsministerin von der wallonischen Parti Socialiste (PS), hat dem Kabinett am 13. Dezember 2001 einen Vorschlag zur Regelung von Arbeitskonflikten vorgelegt. Kern des Vorschlags ist die Etablierung einer Zuständigkeit der Arbeitsgerichte für kollektive Konflikte. Dies soll erstens die Praxis beenden, dass nur eine, nämlich die Unternehmensseite, im Verfahren angehört wird. Die Forderung nach der Anhörung der anderen Seite bringt allerdings mit sich, dass durch Einsicht in die Unterlagen der Betriebsratswahlen festgestellt wird, wer die gewählten Vertrauensleute sind, und diese vor Gericht zitiert und damit möglicherweise je nach Handhabung dieser Regelung eventuellen Repressionen oder ggf. negativen Folgen des Ausgangs der Gerichtsverhandlung ausgesetzt sein könnten. Zweitens setzt der Vorschlag auf eine Eindämmung der Zwangsgeldforderungen durch arbeitsgerichtliche Schlichtungen. Nach wie vor können die Unternehmen jedoch auch mit dieser Regelung die Gerichte anrufen, jetzt eben die Arbeitsgerichte. Und was die Zwangsgeldforderungen angeht: Vor allem für den Fall, dass die ArbeiterInnen an Streikaktivitäten festhalten, wo das Gericht Schlichtung verschrieben und damit weitere Aktivitäten für die Dauer der Schlichtungsprozedur faktisch verboten hat, sind Zwangsgelder nach wie vor vorgesehen. Darüber hinaus bleiben auch die Zivilgerichte nicht ganz außen vor: Sie sollen z.B. im Hinblick auf »Gewalttaten, die im Rahmen von Streiks verübt werden«, ihre Zuständigkeit behalten.

Dennoch sieht der belgische Unternehmerverband (Fédération des Entreprises de Belgique, FEB) in dem Onkelinx-Entwurf eine »Bombe« unter dem Tisch, an dem für die Wahrung des sozialen Friedens verhandelt wird, und sein Vertreter Tony Vandeputte fordert: »In jedem Fall muss es weiterhin die Möglichkeit geben, sich an die Zivilgerichte zu wenden. (...) Das ist von Zeit zu Zeit notwendig, um die Achtung einer Reihe von Rechten zu garantieren, so des Schutzes von Privateigentum oder der Aufrechterhaltung der ökonomischen Aktivität.«[1]

Aber auch die revolutionäre Linke ist empört: Für sie ist jegliche Einmischung der Gerichte in kollektive Konflikte sowie jegliche Beschränkung des Streikrechts inakzeptabel. Als Beispiel wird der Fall eines bei Opel Belgien beschäftigten Gewerkschaftsaktivisten zitiert: Dieser hatte im März 1996 an einem wilden Streik teilgenommen, nachdem die Mehrheit der Belegschaft für eine erneute Schlichtungsphase gestimmt hatte, und war daraufhin entlassen worden. Das Arbeitsgericht entschied am 18. Mai 2001, die Entlassung des Mannes sei rechtens gewesen, und er habe einen belgischen Franc symbolischen Schadenersatz an Opel zu zahlen. Der Arbeiter wollte eigentlich Berufung einlegen. Da sich aber die FGTB von ihm distanzierte und ihm die finanzielle Unterstützung versagte, sah er sich angesichts der Drohung von Opel, die Erstattung des geltend gemachten Schadens von 63 Mio. belgische Francs (über 1,5 Mio. Euro) durch den Streik im Falle eines Berufungsverfahrens tatsächlich einfordern zu wollen, zur Aufgabe gezwungen. Im Urteil des Arbeitsgerichts von Anvers findet sich zur Begründung die Formulierung: »Sie haben offensichtlich und dem Abstimmungsergebnis zum Trotz das Streikrecht missbraucht, um einen nutzlosen Streik ohne klare Forderungen zu provozieren, welcher dem Unternehmen einen Schaden von 63 Mio. belgische Francs verursacht hat.«

Es liegt nahe, gegen solche Gerichtsargumentation eine Klarstellung zum Charakter des Streikrechts in Anschlag zu bringen. So zitiert solidaire einen Spezialisten für Arbeitsrecht: »Das Streikrecht ist ein individuelles Grundrecht bzw. Menschenrecht, das in einem kollektiven Zusammenhang ausgeübt wird. (...) die Legitimität eines Streiks hängt in keiner Weise von der Anerkennung durch eine repräsentative gewerkschaftliche Organisation ab. Der spontane oder wilde Streik ist genauso legitim wie der Streik, der von den Beschäftigtenorganisationen anerkannt wird. Es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wieso die Begründung eines Streiks auf die Anerkennung durch eine ‚Mehrheit’ der Beschäftigten angewiesen sein sollte. Nach geltendem Recht betrifft das Streikrecht ein Grundrecht, ein Menschenrecht.«[2] In dieser Rechtsauffassung kommt die Position zum Ausdruck, dass die Entscheidung darüber, was als Streik gelten darf, oder gar: wann es sich um den ‚Missbrauch’ eines Streiks handelt, ganz prinzipiell nicht auf irgendeine, wie auch immer ausgewählte oder legitimierte Instanz übertragen werden kann.

Die Position der Gewerkschaften hierzu ist nicht so entschieden. Während an der Basis, wenn man dem PTB-Organ solidaire Glauben schenken darf, die Skepsis hinsichtlich einer möglichen Aushöhlung des Streikrechts durch ein am sozialen Frieden um jeden Preis orientiertes Vorgehen dominiert und eine unbedingte Wahrung der eigenen Entscheidungssouveränität in Streikfragen gefordert wird, standen die Führungen von FGTB und CSC dem Onkelinx-Vorschlag grundsätzlich wohlwollend gegenüber, auch wenn dabei als Unstimmigkeit auffällt, dass sich jener Text der schließlich auch von der FGTB-Führung verantworteten Petition für das Streikrecht (s.u.) deutlich mit der zentralen Rolle beißt, die in dem Entwurf den Arbeitsgerichten zugedacht wird. Entsprechend haben sich etliche Abteilungen der beteiligten Gewerkschaften gegen ein solches Gesetzesprojekt ausgesprochen.

Dass dem Onkelinx-Vorschlag im nationalen Arbeitsausschuss im Januar 2002 kein Erfolg beschieden war, bleibt eine relative Absage, denn immerhin bildete er als »größeres Übel« einer Abtretung von Entscheidungskompetenzen in kollektiven Konflikten an die Arbeitsgerichte ein Motiv für Repräsentanten von Unternehmen und Gewerkschaften, sich noch einmal verstärkt gemeinsam um die Vorantreibung des ‘sozialpartnerschaftlichen’ Projekts zu bemühen. Nach diversen Verhandlungsrunden unter Teilnahme auch von VertreterInnen der Politik mündete der ‘Wille zur Verständigung’ in die Vereinbarung eines Selbstverpflichtungs-kodex’ (»Protocole en matière de règlement des conflits collectifs«) zwischen Unternehmen und Gewerkschaften. Dies war allerdings nicht beim ersten Anlauf gelungen, sondern hatte des ministerlichen Nachdrucks bedurft: Nachdem der Verhaltenskodex am 18. Februar vereinbart und am 6. März vom nationalen Arbeitsausschuss abgesegnet worden war, verweigerte ihm die CSC am 12. März ihre Zustimmung, und zwar unter Äußerung einer sehr grundlegenden Kritik hinsichtlich der befürchteten Folgen für das Streikrecht. Onkelinx legte daraufhin eine Ergänzung vor, die vor allem eine Erklärung zur Beachtung der ILO-Konvention 87 (Vereinigungsfreiheit und Schutz des Rechts auf Organisierung) beinhaltete, und setzte einen weiteren Verhandlungstermin für den 28. März fest, wo der Vereinbarung schließlich auch von der CSC zugestimmt wurde.

Der Kodex läuft auch unter der Bezeichnung »Moralische Übereinkunft«, und sein zentraler Gegenstand sind wechselseitige Konzessionen von Unternehmen und Gewerkschaften mit dem Ziel der Gewährleistung des ‘sozialen Friedens’.. Die Konzessionen von Seiten der Unternehmen beinhalten das Versprechen, bei (akzeptierten) Streiks nicht mehr vor Gericht zu gehen, sowie die Abschaffung des Karenztages (keine Lohnfortzahlung am 1. Krankheitstag, auch rückwirkend erst ab einer Krankheitsdauer von 14 Tagen), der für Arbeiter im Gegensatz zu Angestellten noch Geltung hatte. Dafür wollen die Gewerkschaften zukünftig auf wilde und spontane sowie auf Solidaritätsstreiks verzichten. Und: für den Fall, dass doch einmal gestreikt wird, wird versprochen, dass »jegliche physische oder materielle Gewalt vermieden wird« und »die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleibt.« Je nach Auslegung wird das wahrscheinlich bedeuten, dass ein Streikposten keine Streikbrecher mehr daran hindern kann, in das Werk zu gelangen, weil das, was zur Blockade notwendig wäre, als körperliche Gewalt definiert werden könnte. Darüber hinaus fragt sich, wer letztlich die Definitionsmacht darüber haben wird, in welcher Situation welche Mittel als ‘verhältnismäßig’ zu betrachten sind. Es steht zu befürchten, dass der Kodex in der Praxis die völlige Aushebelung des belgischen Streikrechts mit sich bringen wird, auf jeden Fall aber die Aushebelung eines Streikrechts in dem oben formulierten umfassenden Sinne eines Grund- bzw. Menschenrechts, das, auch wenn kollektive Auseinandersetzungen den Rahmen für seine Anwendung bilden, notwendigerweise als individuelles Recht verfasst ist.

Hier scheint mit dem Abschluss der ‘sozialpartnerschaftlichen’ Vereinbarung definitiv eine Möglichkeit vertan zu sein. Es steht zu hoffen, dass weitere aktuelle – Emanzipationsstrategien unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppierungen ebenso im Kern treffende – ‘Reform’projekte in Belgien (Stichworte: Antiterrorgesetz, Beschränkung des Streikrechts im Öffentlichen Dienst) national und international eine breitere, kritischere öffentliche Diskussion erfahren werden.

 

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/02

Anmerkungen:

1) Pierre-François Lovens im Dokument BE0110310N auf www.eiro.eurofound.ie

2) Filip Dorssemont in Juristenkrant vom 26. Sept. 2001

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