letzte Änderung am 23. Juli 2003

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Kooperativen-Räumung

Argentinische FabrikbesetzerInnen unter Druck von Regierung und Ökonomie

Die Auseinandersetzungen um polizeiliche Repression gegen (Haus- und Fabrik-)Besetzungen hatten im Vorfeld der argentinischen Präsidentschaftswahlen vom Mai einen neuen Höhepunkt erreicht. Allein in Buenos Aires gibt es aber z.B. immer noch 2500 besetzte Häuser. Kooperativ organisierte Fabriken, Arbeitslosenvereinigungen (piqueter@s), Stadtteilkomitees (asambleas) und kleinere politische Parteien stehen im Ringen mit staatlichen Vereinnahmungsversuchen einerseits und den ökonomischen Überlebensbedingungen andererseits. Die besondere Qualität der Selbstorganisation droht verloren zu gehen. Zur Politisierung der Auseinandersetzung trägt allerdings der Widerstand einzelner Kooperativen gegen den landläufigen Trend, die Schulden der Vorbesitzer zu übernehmen, bei. Wir dokumentieren einen Bericht von Ginger Gentile* aus der Zeitschrift Labor Notes vom Juni 2003.

Bevor die 57 ArbeiterInnen der Textilfabrik Brukman in Buenos Aires im Dezember 2001 damit begannen, das Männerbekleidungsunternehmen selbst zu übernehmen, waren sie überarbeitet, unterbezahlt und wurden – wie viele andere ArbeiterInnen, die unter Sweatshop-Bedingungen in der globalen Textilindustrie beschäftigt sind – missbraucht. Mittlerweile bezeichnen sich die zumeist weiblichen Arbeiterinnen mittleren Alters (aber) als Löwinnen – »Las Leonas«.

Die Kraft der Löwinnen wurde in den frühen Morgenstunden des 18. April einer harten Prüfung unterzogen, als die Polizei die zwei wacheschiebenden Arbeiterinnen überwältigte und die Fabrik räumte. Innerhalb von wenigen Stunden fanden sich – von linken politischen Parteien über Mitglieder von Nachbarschaftsversammlungen und aus der Arbeitslosenbewegung – Hunderte von UnterstützerInnen ein, um, trotz des heftigen Regens, ihre Empörung über diese Aktion auszudrücken. Über das Wochenende hinweg wuchs der Protest in die Tausende.

Die Brukman-ArbeiterInnen – mit über 5000 UnterstützerInnen im Rücken – entschieden sich für die friedliche Rückeroberung ihrer Fabrik am 21. April. Die Aufstandsbekämpfungspolizei reagierte zügig und brutal. Sekunden, nachdem die ArbeiterInnen hinter die Absperrungen vorgerückt waren, ging die Polizei mit Tränengassalven und Gummigeschossen gegen die Menge vor, unterstützt von Schlagstockeinsätzen gegen Protestierer und Journalisten.

Die Polizei verfolgte die in Panik geratene Menge in ein Kinderhospital und ein Universitätsgebäude. Sie setzte auch hier Tränengas ein. Mehr als 200 Personen wurden verhaftet und Dutzende verletzt.

Die ArbeiterInnen mussten feststellen, dass die Entscheidung, ihre Fabrik – nach deren Bankrott auf dem Höhepunkt der ökonomischen Krise – kollektiv weiterzuführen, eine radikale Wahl war. »Wir haben die Fabrik nicht übernommen – die Eigentümer haben sie aufgegeben«, fasst einer der Arbeiter es zusammen. Die ArbeiterInnen bestehen darauf, dass die Übernahme ihrer Arbeitsplätze eine Wahl war, die nicht von politischem Idealismus, sondern – in einer Ökonomie mit 21 Prozent Arbeitslosigkeit – von der Notwendigkeit weiter zu arbeiten, geleitet war.

Fabrik in Besitz der ArbeiterInnen

Brukman war weder das erste bankrotte Unternehmen, das von seinen ArbeiterInnen übernommen wurde, noch ein finanziell bedeutendes. Zur Zeit gibt es über 150, von rund 10000 ArbeiterInnen geführte Kooperativen, in denen sich die Beschäftigten dazu entschlossen haben, für ihre Arbeitsstätte und die Schulden der vorherigen Besitzer aufzukommen – im Tausch gegen eine offizielle Anerkennung der Firmenübernahme.

Brukman unterscheidet sich dadurch, dass es sich nicht um eine offizielle – regierungsamtlich anerkannte – Kooperative handelt. Kooperativen in Arbeiterbesitz werden üblicherweise nur dann von der Regierung anerkannt, wenn sich die ArbeiterInnen dazu bereit erklären, die Schulden der vormaligen Besitzer zu tilgen. Stattdessen beschlossen die Brukman-ArbeiterInnen, die aufgelaufenen Schulden nicht zu tilgen und trotzdem die staatliche Garantie ihrer Leistung zu fordern. Im Gegenzug dafür schlugen sie der Regierung vor, allgemein nützliche Produkte des öffentlichen Sektors wie Bettlaken für Hospitäler oder Schuluniformen zu niedrigeren Preisen herzustellen und anzubieten.[1]

Obwohl diese Angebote von der Regierung abgewiesen wurden, kam die Räumung der Fabrik überraschend, denn die vormaligen Besitzer hatten wenig Interesse gezeigt, ihre Fabrik zurück zu verlangen. Sie erschienen nicht einmal zu einem Treffen mit dem Arbeitsministerium. Es war zwar zweimal zu Zwischenfällen mit polizeilichen Übergriffen gekommen, doch die ArbeiterInnen hatten in den letzten anderthalb Jahren auch alle anfallenden Kosten für öffentliche Dienstleistungen beglichen, neue Kunden aufgetan und die Fabrik effizient betrieben.

Druck durch Präsidentschaftswahl

Die Monate im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im Mai waren geprägt durch ein Anwachsen staatlicher Gewalt und durch Räumungen. Viele erst unlängst besetzte Gebäude wurden geräumt, u.a. auch der Büros von IndyMedia-Argentinien, einem alternativen Medienzentrum aus dem Spektrum der globalisierungskritischen Bewegung. Zanon, eine große, moderne Keramik-Fabrik[2], die ebenfalls von ArbeiterInnen betrieben wird, erlebte am 8. April einen Räumungsversuch, der von Anhängern zurückgeschlagen wurde. Am bekannt gegebenen Tag der Räumung fanden sich über 4000 Menschen vor den Fabriktoren ein. Bewaffnet mit Molotowcocktails und Schleudern machten sie deutlich, dass sie bereit seien, bis »zum Letzten zu gehen«.

Während die Unterstützung für die Brukman-ArbeiterInnen nach wie vor groß ist und eine neuerliche »Rückeroberung« der Fabrik aussichtsreich erscheint, erfordert der Kampf insgesamt große Beharrlichkeit. Es geht um mehr als den Kampf für 57 Arbeitsplätze; es ist der Kampf um ein Ideal, der zudem – für die Brukman-ArbeiterInnen – die einzige praktische Option ist. Sie wollen die Schulden der Vorbesitzer nicht zurückzahlen, um weiter machen zu können, wie dies bei vielen Kooperativen der Fall ist. Sie wollen die Chefs ihrer Fabrik wie die ihres Schicksals sein.

Übersetzung: Jörg Waschatz

* Ginger Gentile gehört der »Vereinigung Studierende gegen Sweatshops« (United students Against Sweatshops; USAS) in den USA an, lebt seit Dezember 2002 in Buenos Aires und arbeitet für die Solidarität zwischen den Beschäftigten in den besetzten Fabriken und ArbeiteraktivistInnen in den USA.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/03

Anmerkungen

1) Genau diese differentia specifica begründet den Symbolcharakter von Brukman und Zanon. Die meisten Kooperativen akzeptieren die Schuldenübernahme und können damit zwar drohende Zwangsversteigerungen oder Räumungen verhindern und ihren Arbeitsplatz erhalten, sind aber durch den enormen Schuldendruck gezwungen, nur sehr geringe Löhne zahlen oder andere Abstriche (etwa bei Arbeitsbedingungen, Sozialleistungen etc.) zu machen (d.Ü.)

2) mit mehr als 300 ArbeiterInnen (d.Ü.)

Was tun? Unterstützung für Brukman-ArbeiterInnen

Videos über Brukman können z.B. bei Gewerkschafts-Treffen, bei Treffen von Sozialforen etc. gezeigt werden und sind ein hervorragender Anlass, um über die Relevanz solcher Arbeitskämpfe für hiesige Verhältnisse zu diskutieren. Kopien des Videos sind bei den United students Against Sweatshops erhältlich (Kontakt über Nancy Steffan, email: nsteffan@indiana.edu). Die USAS schlagen vor, dass jede Gruppe, die das Video zeigt, 50 Dollar zum Brukman-Streik-Fond beiträgt (Zahlweise bei Nancy Steffan erfragen). Resolutionen zu Gunsten der Brukman-ArbeiterInnen sind willkommen und werden von Ginger Gentile an die ArbeiterInnen weiter geleitet (email: ginger@riseup.net).

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