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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Die linke Tragödie Eine Polemik von Murat Cakir* über den »türkischen Sozialismus« anlässlich des Europäischen Sozialforums vom Juli 2010 Anlass für den vorliegenden Beitrag ist ein anderer, in türkischer Sprache verfasster Artikel über das ESF von mir. Kurz nach dem Europäischen Sozialforum in Istanbul hatte ich in einer Polemik die Zustände der türkischen Linken kritisiert. Obwohl die Polemik in einer türkischen Tageszeitung und in mehreren Internetforen sowie Websites veröffentlicht wurde, gab es kaum Erwiderung aus den Kreisen der Bewahrer des »heiligen Grals«, der »einzig wahren sozialistischen Lehre« in der Türkei. Aus früheren Erfahrungen weiß ich, dass die ewigen Autoritäten der türkischen Linken nicht sehr zimperlich mit Kritik umgehen und mit der gesamten Macht ihrer Tastatur, einige gar mit Banndrohungen, darauf reagieren. Es mag sein, dass es nur, weil mein türkischer Artikel verallgemeinernd vom »türkischen Sozialismus« sprach und sich daher eben keiner explizit angesprochen fühlte, keine »Belehrungen« gab. Als ich von der Redaktion des express gebeten wurde, diesen Artikel zu schreiben, wollte ich den türkischen Text zunächst einfach »verdeutschen«. Doch schnell wurde mir klar, dass meine Polemik in der deutschen Übersetzung denunziatorisch und oberlehrerhaft wirken würde. ESF in Istanbul: Organisatorische Unfähigkeit oder politische Apathie? Das ESF 2010 in Istanbul konnte gerade mal 2500 bis 3000 Leute zusammenbringen – davon rund die Hälfte aus dem Ausland. Vielen Beteiligten war vorher klar: Der Sozialforumsprozess steckte in einer Krise. Dennoch wurde die Hoffnung gehegt, dass die attraktive Millionenstadt Istanbul eine Chance für einen Neubeginn war. Persönlich war ich der Auffassung, dass die Durchführung des ESF in Istanbul insbesondere für die türkische und kurdische Linke, für die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften in der Türkei eine große Chance beinhaltete. Immerhin bot das ESF eine europäische Bühne, auf der sie die brennenden sozialen wie politischen Probleme darstellen und für die Solidarität der internationalen Akteure hätten werben können. Doch die Realität sah anders aus – die türkische Linke trug einmal mehr zu ihrer eigenen Entzauberung bei. Sicher, es gab in Europa viele Vorbehalte gegenüber Istanbul als Veranstaltungsort. Auch die finanziellen Probleme haben es den AkteurInnen in der Türkei nicht leicht gemacht. Wie erwartet war die Beteiligung, gerade aus Osteuropa, sehr niedrig. Bei den Vorbereitungssitzungen hatte man diese Befürchtungen zur Sprache gebracht, und auch über eine Vertagung war nachgedacht worden. Der Sozialforumsprozess ist nicht unbedingt mein Fachgebiet, aber den entsprechenden Befürchtungen meiner KollegInnen aus der Rosa Luxemburg Stiftung begegnete ich damit, dass in der Türkei zwar die Uhren anders ticken, die AktivistInnen in der Türkei jedoch durchaus in der Lage wären, eine solche Veranstaltung auch kurzfristig auf die Beine zustellen. Denn schließlich hatte letztes Jahr in Diyarbakir erstmalig das Mesopotamische Sozialforum mit rund Zehntausend TeilnehmerInnen stattgefunden; und wer Diyarbakir erlebt hatte, der konnte wenigstens hoffen, dass Istanbul ähnlich verlaufen würde. Dem war aber nicht so. Wenn man, abgesehen von den vielen inhaltlich sehr gut vorbereiteten Panels und Seminaren, das ESF in Istanbul mit einem Wort beschreiben würde, wäre »Chaos« zutreffend. Zu Recht wurde von einigen Beteiligten festgestellt, dass in dem »widersprüchlichen Spektrum der Linken in der Türkei die falschen Akteure gewählt wurden« (Judith Dellheim, RLS). Denn auch ich hatte den Eindruck, dass es den OrganisatorInnen in Istanbul eher darum ging, ihre eigenen Süppchen zu kochen – die Idee des Sozialforums war nur ein Beiwerk. Wer aber dachte, man könne die marginale Rolle der Linken in der Türkei mit Ständen im Park oder einigen Konzerten überdecken, irrte sich. Nicht alle AktivistInnen aus Europa waren den Verlockungen des Nachtlebens und der »Raki-Abende« folgend nach Istanbul gekommen. Gut informiert über die tiefen Probleme des Landes, allen voran über die »Kurdenfrage«, nahmen sie bewusst am ESF teil und wurden bitter enttäuscht über das politische Desinteresse der türkischen Linken am ESF. Der Grund für die chaotischen Zustände lag jedoch m.E. nicht in der organisatorischen Unfähigkeit der türkischen OrganisatorInnen, sondern in der politischen Apathie der sozialen Bewegungen, Gewerkschaftskonföderationen, der türkischen Linken im Allgemeinen und des »türkischen Sozialismus« im Besonderen. Wie sonst lässt es sich erklären, dass sich an der Abschlusskundgebung ›nur‹ 7000 Menschen beteiligten, zahlreiche sozialistische Parteien oder Bewegungen nicht anwesend waren und sogar die große (!) »Revolutionäre Gewerkschaftskonföderation Disk« nur eine bestenfalls symbolisch zu nennende Delegation von knapp 50 GewerkschafterInnen mobilisieren konnte? Man konnte froh sein, dass die kämpferischen Mitglieder der Gewerkschaft Tümtis gemeinsam mit der seit Monaten im Widerstand stehenden UPS-Belegschaft dabei waren. Ich schaute mich um und suchte die kämpferischsten, revolutionärsten, sozialistischsten und marxistischsten VertreterInnen des »türkischen Sozialismus« – jene, die zu jedem Anlass ihren Alleinvertretungsanspruch für die »türkische Arbeiterklasse« geltend machen, welche die Wahrheit gepachtet haben und in ihren privilegierten Stadtteilen gerne und oft darüber sinnieren, wie die kurdische Bewegung in puncto Klassenkampf belehrt werden könnte. Ich suchte eben die Linken, die jedes progressive Transformationsprojekt, das im Hier und Jetzt ansetzt, als »Kapitulationserklärung des Proletariats vor der Bourgeoisie« ablehnen und ohne die eine Demonstration auf dem Taksim-Platz undenkbar ist. Ergebnis der Suche: Dem »türkischen Sozialismus« war das ESF egal! Verständlich. Schon vorab hatte das ESF in den linken und sozialistischen Medien sowie zahlreichen Internetseiten – außer den eigenen bzw. von Partnerorganisationen durchgeführten Veranstaltungsnachrichten – quasi Null Nachrichtenwert. Außer in einigen wenigen Medien wie bianet.org oder emekdunyasi.net (arbeits-welt.net) oder in Form von Kurznachrichten auf den Seiten von drei linken Tageszeitungen konnten Interessierte nirgends detaillierte Informationen abrufen. Als während der Demonstration am 3. Juli aus dem Megaphonwagen gerufen wurde, »Die europäische Linke ist in Istanbul – Soziale Bewegungen aus Europa demonstrieren hier für Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie«, rief ein Mann, der auf dem Fußgängerweg die Demonstration beobachtete: »Die Europäer sind hier, aber wo sind unsere Leute?« Ähnliche Fragen stellten auch die europäischen AktivistInnen. Ein Gewerkschafter aus den Niederlanden, der 2009 und 2010 an den Kundgebungen zum 1. Mai in Istanbul teilgenommen hatte, konnte sich auch nicht erklären, warum jene Organisationen, die am 1. Mai Zehntausende mobilisiert hatten, an jenem Tag fehlten. In den ersten Tagen erklärte ich meinen KollegInnen, dass »die Leute wahrscheinlich arbeiten und deshalb am ESF nicht teilnehmen konnten, aber die Beteiligung an der Demonstration doch sehr hoch sein werde«. Am Samstagabend musste ich mich eines Besseren belehren lassen. Als der Demonstrationszug am Taksim-Platz ankam, sahen wir, dass zu gleicher Zeit eine andere Demonstration stattfand – mit Beteiligung von linken und sozialistischen Organisationen. Während wir gegen 20.30 Uhr mit einigen Abgeordneten aus Deutschland zu einem anderen Termin wegfuhren, fanden auf dem Taksim-Platz zwei Kundgebungen, die keine Verbindung miteinander hatten, und ein Popkonzert statt. Zur Erinnerung: Die Beteiligung am ESF lag bei 2500 bis 3000 Personen. Die Hälfte kam aus dem Ausland. Die andere Hälfte machten TeilnehmerInnen vom Mesopotamischen Sozialforum, VertreterInnen einiger kurdischer Organisationen und eben westtürkische Delegierte aus – eigentlich ein Armutszeugnis für die sozialen Bewegungen in der Türkei. Laut Angaben der OrganisatorInnen nahmen an der Demonstration ca. 7000 Menschen teil. Selbst wenn wir von der Richtigkeit dieser Angabe ausgehen, stellt sich immer noch die Frage, warum die rund 80 Organisationen, die das ESF-Vorbereitungskomitee bildeten, darunter türkische Gewerkschaftskonföderationen mit mehreren Hunderttausenden von Mitgliedern und zahlreiche »linke« Organisationen, eine höhere Beteiligung nicht bewerkstelligen konnten. Denken wir weiter: Ist die Türkei nicht ein Land, in dem die kurdische Frage ungelöst, die Gewalt eskaliert und die Gefahr eines blutigen Bürgerkrieges akuter denn je geworden ist? Stehen die Probleme wie chronische Arbeitslosigkeit, Armut, Elend, prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, ökologische Probleme, undemokratische Gesetzgebung, Verletzung der Menschenrechte, um sich greifende Lynchjustiz, Nationalismus, offener Rassismus gegen KurdInnen und andere, Folter, Inhaftierungen, militärische Vormundschaft, neoliberaler Umbau, alltäglicher Militarismus u.v.a.m. nicht auf der Tagesordnung? Müssten Gewerkschaften, linke und sozialistische Gruppen, Parteien, Bewegungen nicht alles in ihrer Macht stehende tun, um die Chance des ESF zu ergreifen und für ihre Forderungen auf die Straße zu gehen? Gerade in einer Millionenstadt, in der die Klassenwidersprüche derart verschärft sind; gerade in einer Zeit, in der die Krise um sich greift, die Gewalt eskaliert und gerade dann, wenn zahlreiche europäische Organisationen in Istanbul sind? Hätte es eine bessere Möglichkeit gegeben, um die Weltöffentlichkeit auf die Probleme in der Türkei aufmerksam zu machen, den Druck auf die verantwortliche Politik zu erhöhen und die Massen zu mobilisieren? Sicher gilt diese Kritik nicht für alle, aber von einem ESF, welches von zahlreichen relevanten Organisationen der Türkei vorbereitet wurde, wäre erheblich mehr zu erwarten gewesen. Für den »türkischen Sozialismus« war das ESF ein Fiasko und keineswegs eine »Erfolgsgeschichte«, wie das Mitglied des türkischen Organisationskomitees, Hüseyin Yesil, der gleichzeitig Stadtverbandsvorsitzender der linken ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität, Mitglied der Europäischen Linken) ist, den LeserInnen von bianet.org kurz nach dem ESF weismachen wollte. Hakan Tahmaz vom Friedensrat der Türkei ist da realistischer: »Die Kundgebung ist der beste Beweis dafür, wie sehr sich die [türkische] Linke aus der Welt verabschiedet hat«. Fazit Mit Recht ist hier die Frage zu erwarten, wer mit dem Begriff »türkischer Sozialismus« gemeint ist. Damit meine ich die Linke im Westen des Euphrat, die in unendlich viele Grüppchen zerfallen und zerstritten ist, sich gesellschaftlich marginalisiert hat und in Teilen durchaus als »nationalbolschewistisch« bezeichnet werden kann. Eine Linke, die sich isoliert, immer noch in den dunklen Tagen des 20. Jahrhunderts stecken geblieben ist, nicht über den nationalen Tellerrand schauen kann, durch und durch von einer kemalistischen Weltsicht geprägt ist und sich mit der Begründung des »Klassenkampfes« geschickt vor aktuellen demokratischen Aufgaben drückt, verdient eben nur den Namen: »türkischer Sozialismus«. Dieser »türkische Sozialismus« ist ein Konglomerat meist Männer-dominierter Kleinstgrüppchen, die von Leuten geführt werden, deren Legitimität seit Jahrzehnten nicht hinterfragt wird, die sich in ihren von der Gesellschaft völlig isolierten Räumen wohlfühlen und unfähig sind, gesellschaftliche Bündnisse einzugehen. Die linke Tragödie in der Türkei ist, dass dieser »türkische Sozialismus« in sozialen Bewegungen, den Gewerkschaften und deren Dachverbänden nistet und es so unmöglich macht, dass eine wirksame Gegenwehr gegen den schmutzigen Krieg, die neoliberalen Maßnahmen und gegen den tiefverwurzelten Militarismus entstehen kann. Mit ihrer kemalistisch-nationalen Grundausrichtung erklären seine VertreterInnen die Hauptkonfliktfelder in der Türkei, nämlich die Kurdenfrage, die Frauenfrage, Demokratie- und Menschenrechtsfragen zu »Nebenwidersprüchen« und vertagen deren Lösung bis zum Tag der Revolution. Wenn in der heutigen Türkei westlich des Euphrat nicht eine Bewegung entstanden ist, die mit dem der kurdischen Bewegung östlich des Euphrats vergleichbar wäre, dann liegt die Hauptverantwortung beim »türkischen Sozialismus«, der jeden linken Erneuerungsversuch im Keime ersticken lässt. Das ist auch der Grund, warum sämtliche linkssozialistischen Parteien bei der letzten Kommunalwahl nur 120000 von 38 Millionen Stimmen auf sich vereinigen konnten, während die prokurdische BDP mehrere Millionen Stimmen zu gewinnen und 99 BürgermeisterInnen zu stellen in der Lage war. Gibt es nichts Positives zu berichten? Selbstverständlich! Es wäre fatal, wenn diejenigen linken, feministischen, emanzipatorischen und sozialistischen Kräfte westlich des Euphrat, die sich mit dem Ziel einer »demokratischen Republik« gemeinsam mit der kurdischen Bewegung und anderen gesellschaftlichen Kräfte für Frieden, Gleichberechtigung, politische Freiheiten und Demokratisierung einsetzen, unerwähnt blieben. Oder diejenigen jungen Menschen, die, undogmatisch und in zahlreichen Initiativen und Verbänden organisiert, ihre kollektiven Aktivitäten, ihre Bemühungen für Verbesserungen im Hier und Jetzt entfalten, verbunden mit der Vision einer besseren, friedlichen, gerechteren und demokratischen Zukunft. Und die vielen MenschenrechtsaktivistInnen, Friedensbewegten, KünstlerInnen, Intellektuellen, WissenschaftlerInnen sowie kämpferischen GewerkschafterInnen und Feministinnen, die sich solidarisch und anationalistisch für die friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage einsetzen. Noch habe ich die Hoffnungen an eine Linke in der Türkei, die die Anerkennung von Vielfalt als ein Bindemittel des demokratischen und freiwilligen Zusammenlebens versteht und Verantwortung für die Gründung eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses für Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie übernimmt, nicht verloren. Noch glaube ich an eine Linke in der Türkei, die fähig und willens ist, auf dem Weg zu einem Stopp der militaristisch-nationalistisch-rassistischen Spirale ihren Beitrag zu leisten, die Wunden der gesellschaftlichen Spaltung zu schließen und vielleicht auch der Motor einer Friedens- und Demokratisierungsbewegung zu sein. Der »türkische Sozialismus« jedoch mit seinem aus dem letzten Jahrhundert stammenden Parteien-, Gewerkschafts- und Organisationsverständnis hat weder das Potential dafür, noch die Energie, sich zu erneuern. * Murat Cakir ist Geschäftsführer der Rosa Luxemburg Stiftung Hessen und lebt in Kassel.
Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/10. express im Netz unter: www.express-afp.info , www.labournet.de/express |