letzte Änderung am 26. August 2003 | |
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"Notstand in der Notaufnahme" titelte die Boulevardzeitung Le Parisien am 14. August, und berichtete von "neunstündigen Wartezeiten auf dem Krankenhausflur" und einer aggressiven Atmosphäre. Auf den Titelseiten anderer Tageszeitungen von Mitte August war die Rede von einer "Explosion des Gesundheitswesens" oder dem "Erstickungstod der öffentlichen Krankenhäuser". Neun Tage später berichtete Libération aus Marseille gar von Prügeleien in der Notaufnahme einer Klinik, wo aufgebrachte Patienten eine Schlägerei mit dem Personal begonnen hatten.
Diese Schlagzeilen stammen nicht aus den vergangenen Wochen, sondern aus dem August 2002. Denn alle Jahre wieder kommt die Klage über die extrem angespannte Situation im öffentlichen Gesundheitswesen während des Urlaubsmonats August auf die Tagesordnung. Seit Beginn dieses Jahrzehnts hat sich die Situation deutlich verschärft, da während des Hochsommers eine Reihe von Krankenhausbetten geschlossen werden, vor allem aufgrund akuten Personalmangels. Im vorigen Jahr wurde beispielweise berichtet, ein Patient mit schweren Brandverletzungen aus der Nähe von Versailles habe schließlich nach Toulouse ausgeflogen werden müssen, um dort stationär behandelt zu werden.
Deswegen war abzusehen, dass nur ein äußerer Faktor verschärfend hinzukommen musste, um eine Krise dramatischen Ausmaßes auszulösen. Das war in den letzten Wochen der Fall. Seit dem 1. August 2003 kündigte Météo France eine länger anhaltende Hitzewelle an, die Frankreich stärker als die meisten Nachbarländer traf; in der Hauptstadt Paris lag die Temperatur über acht Tage lang nahe der 40-Grad-Marke. In der Mehrzahl der französischen Départements verband die canicule (Hundehitze), wie das Wetterphänomen allgemein bezeichnet wird, sich mit einer Dürreperiode, wie sie zum letzten Mal 1976 verzeichnet wurde. Vor allem im Süden und im Zentrum Frankreich war seit Mai, in manchen Regionen gar seit März kein Regen gefallen.
Vor allem ältere oder behinderte Menschen waren von Austrocknung ihres Organismus und Hyperthermie, also einer Erhöhung der körpereigenen Temperatur in lebensgefährdenem Maße, bedroht. Bei der Pariser Feuerwehr wurde man sich der Gefahr bewusst, als man Anfang August zu einem Einsatz am Montparnasse-Bahnhof gerufen wurde, wo ein Mann sich in Krämpfen wand: Seine Körpertemperatur betrug 43 Grad. Personen im Rentenalter gelten dabei allgemein als besondere "Risikogruppe", da sie kaum noch Durstgefühl verspüren.
Wie viele Menschen in Frankreich insgesamt an den direkten oder indirekten Folgen der Hitzephase verstorben sind, ist derzeit noch nicht abzusehen. Vorletzte Woche sprach Gesundheitsminister Jean-François Mattéi zunächst von einer "Spannbreite zwichen 1.600 und 3.000 Todesfällen". Doch diese Angaben sind längst überholt.
Ab Mittwoch voriger Woche legten mehrere Beerdigungsinstitute die Zahl ihrer Aufträge, verglichen mit jenen im Vorjahreszeitraum, offen und nahmen Hochrechnungen auf der Grundlage ihrer jeweiligen Marktanteile vor. Als plausibelste Zahlen werden seither jene de Marktführers, der Gesellschaft Pompes Funèbres Générales (PFG), gehandelt. PFG spricht von 10.400 Soforttoten in den letzten drei Wochen, zusätzlich zur durchschnittlichen statistischen Sterberate, und beziffert die Gesamtzahl der Hitzetoten im August auf 13.600. Seitens der Regierung wurde gegenüber Le Monde eingeräumt, dass die Schätzungen wohl tatsächlich im fünfstelligen Bereich liegen müssten.
Doch die Erhöhung der Außentemperaturen allein ist nicht automatisch ursächlich für die Sterbewelle geworden, der zu 82 Prozent Menschen in erhöhtem Alter zum Opfer fielen. Weitere Faktoren mussten hinzu kommen. Dazu gehören vor allem die Funktionsstörungen im öffentlichen Krankenhauswesen, die alljährlich im Sommer zu verzeichnen sind. Eine Reportage in den Fernsehnachrichten von France 2 zeigte etwa die Zustände im Pariser Krankenhaus Saint-Antoine, dessen Ärzte ab der zweiten Augustwoche als Erste öffentlich die Alarmglocke schlugen. Dort konnte man etwa einen Patienten sehen, der am frühen Morgen mit hitzebedingten Beschwerden eingeliefert worden war. Da sich bis 15 Uhr noch immer niemand um ihn gekümmert hatte, verkündete er, die Nase voll zu haben und jetzt einfach nach Hause zu gehen. Auf dem Parkplatz der Klinik brach er zusammen, kurz darauf wurde akute Hyperthermie bei ihm festgestellt.
In ersten Stellungnahmen wies Regierungssprecher Jean-François Copé die Kritik der Opposition und vieler Medien am konservativen Kabinett, das verspätet reagiert und die "gesundheitspolitische Katastrophe" zu spät erkannt habe, zurück. Schuld trüge viel mehr die sozialdemokratische Vorgängerregierung, die unverantwortlicherweise die 35-Stunden-Woche auch für das Krankenhauspersonal eingeführt habe. Gesundheitsminister Jean-François Mattéi blies wenige Tage später in dasselbe Horn.
Darin hätte ein Stück Wahrheit stecken können, wenn er ein entscheidendes Detail präzisiert hätte: Die fatale Weichenstellung der Regierung Lionel Jospins hatte darin gelegen, diese Arbeitszeitverkürzung im Wesentlichen ohne zusätzliche Einstellung von Personal vorzunehmen. Denn während die privaten Unternehmen durch bedeutende Nachlässe bei den Sozialabgaben die mittlerweile aber zu Fehlbeträgen in den öffentlichen Sozialsystemen, wie der Krankenkasse, geführt haben dazu animiert werden sollten, im Zuge der 35-Stunden-Reform etwas mehr Personal einzustellen, blieb nahezu jeder Beschäftigungseffekt in den öffentlichen Diensten aus.
Denn der Staat als Arbeitgeber hatte entschieden, die Verkürzung der gesetzlichen Wochenarbeitszeit von 39 auf theoretisch 35 Stunden solle ohne zusätzliche Ausgaben vonstatten gehen. Widrigenfalls fürchtete man, von Brüssel wegen "wettbewerbsverzerrender Subventionen an öffentliche Unternehmen", von denen einige wie Post und Telekom sich privater Konkurrenz öffnen müssen, sanktioniert zu werden. Eine stärkere Flexibilisierung der Arbeitszeiten, je nach dienstlichem Bedarf, sollte die Auswirkungen der 35-Stunden-Reform auf die Personaldecke auffangen.
Im öffentlichen Gesundheitswesen ging diese Rechnung nicht auf: Hier waren die Arbeitszeiten ohnehin schon recht variabel und der Personalmangel bereits vorher spürbar. Die konservative Regierung reagierte im Vorjahr darauf, indem sie für das dringend benötigte Krankenhaus- und Ärztepersonal die Regelungen zur Arbeitszeitverkürzung aufweichte; Überschreitungen der Regelarbeitszeit wurden erleichtert, wobei ein Teil davon in Geld vergütet werden soll.
Da sich die Probleme seitdem noch vergrößert und die Arbeitshetze
noch verschärft hat, werden die Pflegeberufe dadurch zudem extrem unattraktiv
gemacht. In der Ile-de-France, dem Pariser Großraum, etwa waren vor einem
Jahr gut 5 Prozent der verfügbaren Stellen für Krankenschwestern und
pflegern vakant, mangels Interessenten. "10.000 Krankenpfleger(innen)
fehlten vor der 35-Stunden-Reform, nach ihr fehlen 20.000", resümiert
das konservativ-reaktionäre Figaro-Magazine (23. 08.) Das von Oktober 2001
bis im März 2002 zu Hunderttausende streikende Krankenhauspersonal seinerseits
hatte damals den realen Personalbedarf auf 80.000 Stellen beziffert. So lautete
eine der Hauptforderung des sechsmonatigen Ausstands, um halbwegs erträgliche
Arbeitsbedingungen und vernünftige Voraussetzungen für die Gesundheitsversorgung
der Bevölkerung zugleich zu garantieren. Die Jospin-Regierung stellte,
infolge des Konflikts und wenige Wochen vor den Wahlen von 2002 unter Druck
geraten, die Mittel (3 Milliarden) für 45.000 Einstellungen binnen drei
Jahren in Aussicht; damit blieb mindestens ein Negativsaldo von 35.000 fehlenden
Stellen bestehen.
Daneben spielt auch eine Rolle, dass zeitweise gar nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung standen. Vorübergehend wurden Löcher gestopft, indem spanische Krankenschwestern zeitweise übernommen wurden. Seit dem Sommer 2002 wurden zusätzliche Ausbildungsplätze eröffnet, was sich aber erst auf mittlere Frist hin auswirken wird. "Frühestens 2005 oder 2006 kommt es zur Entspannung", meint das Figaro-Magazine.
Die Kampagne der derzeitigen Regierung - die nach Ansicht der Gewerkschaften im Gesundheitswesen wie FO Santé und SUD Santé darauf hinausläuft, "die Faulheit des Personals öffentlich anzuprangern, während in Krisenzeiten wie diesen viele Beschäftigten ihre Überstunden gar nicht mehr zählen oder aufschreiben"- trägt sicherlich nicht zu einer Aufbesserung des feelings der Krankenhausbeschäftigten und vermehrter Attraktivität ihres Berufs bei.
Eine weitere Ursache für das Fehlen von Krankenhausplätzen ist die Streichung von Betten in vielen Kliniken durch Zusammenlegung von Aufnahmekapazitäten auf regionaler Ebene. Diese Politik wurde vor allem seit 1995 verfolgt, als der konservative Premierminister Alain Juppé sein Programm zur Kontrolle und Dämpfung der Gesundheitsausgaben annehmen ließ. Die sozialdemokratische Jospin-Regierung hat diese Weichenstellung im Grundsatz nicht in Frage gestellt. Auch wenn sie Ende 2001 - im Zuge des sechsmonatigen Streiks im Krankenhauswesen (Oktober 2001 bis März 2002) - drei Milliarden Euro zusätzliche Mittel, über mehrere Jahre verteilt, in Aussicht stellte. Die nur unter Druck erzielten Zugeständnisse wurden durch die Betroffenen als unbefriedigend betrachtet. Die neue konservative Regierung führte bei ihrem Amtsantritt, im Frühsommer 2002, zeitweise die Summe von 6 Milliarden Euro zusätzlicher Mittel binnen 5 Jahren im Munde. Doch derzeit ist vor allem Sparpolitik angesagt.
Die Regierung hatte anfänglich die Katastrophe unterschätzt, und die verspätete Rückkehr ihrer Minister aus dem Urlaub wurde kritisiert. Gesundheitsminister Mattéi beispielsweise gab noch am Montag, den 11. August, ziemlich entspannend wirkend, französischen Fernsehjournalisten ein Interview in seinem Ferienhaus im Var (dem Département von Toulon).
Zu dem Zeitpunkt gab er an, die Lage sei vollständig unter Kontrolle. Doch zwei Tage später, am 13. August, aktivierten die Behörden in der Ile-de-France (dem Pariser Ballungsraum) das Notstandsprogramm "Plan Weiß". Dieser beinhaltet insbesondere das Freimachen der größtmöglichen Zahl an Betten d.h. alle Behandlungen und Operationen, die noch ein paar Tage warten können, werden verschoben, um alle Kräfte auf die Versorgung der Notstandsopfer zu konzentrieren. Für das Personal beinhaltet der "Plan Weiß" die Durchführung so genannter "réquisitions autoritaires", also Dienstverpflichtungen außerhalb jeder Freiwilligkeit. Krankenhausbeschäftigte wurden teilweise aus dem Urlaub zurückgerufen, mussten ihre Ferien unterbrechen oder nach dem Tagesdienst auch noch zur folgenden Nachtschicht antreten. Mitunter wurde auch auf Zeitarbeiter(innen) zurückgegriffen. In vielen Klinien wurden erst zu diesem Zeitpunkt Ventilatoren und andere Kühlvorrichtungen für die Patienten ausgeliefert, die zuvor in vielen Fällen Temperaturen ähnlich derer "draußen"ertragen mussten.
Am folgenden Tag, dem 14. August, wurde der "Plan Weiß" im Prinzip auf das übrige Frankreich ausgedehnt: Die Präfekten (Vertreter des Zentralstaats in den Départements) wurden durch die Regierung ermächtigt, die Durchführung des Notstandsplans in ihrem Gebiet anzuordnen, wenn ihnen dies erforderlich erscheine. Am selben Tag brach Premierminister Raffarin seine Ferien in Hoch-Savoyen, etwas vorzeitig, doch noch ab. Hingegen kehrte Staatspräsident Chirac erst eine knappe Woche später aus dem kanadischen Québec zurück, wo er drei Wochen im Kühlen verbracht hatte. Das längere Fernbleiben der Regierungsspitze rief einige Kritik in Medien und Öffentlichkeit hervor, wurde als arrogant oder zumindest als "erste größere Panne der Kommunikationsmaschine namens Raffarin" (Le Monde, 19. 08.) erlebt.
Deswegen eröffnete Premierminister Jean-Pierre Raffarin, um Entlastung oder Ablenkung bemüht, eine Kampagne. Am 16. August besuchte er demonstrativ, per Hubschrauber, ein Altenheim in einer Kleinstadt nahe Dijon. "Die Gesellschaft", verkündete er dabei, solle sich verstärkt um ältere und allein stehende Menschen kümmere, deren Einsamkeit ein nationales "Drama" darstelle. Auf diese Weise sollte die Verantwortung für die Situation auf die gesamte Gesellschaft, und im Besonderen auf die Familien der Betroffenen, abgewälzt werden. Allerdings sind nur 20 Prozent der Todesopfer der letzten Wochen tatsächlich allein Lebende; vier Fünftel der Todesfälle ereigneten sich in Krankenhäusern (mindestens 30 Prozent) sowie Alten- und Pflegeheimen (an die 50 Prozent).
Ähnlich argumentierte Präsident Jacques Chirac während der ersten Ministerratssitzung nach der Sommerpause, die am 21. August stattfand, wo er der "Großzügigkeit" und Humanität der gesamten Gesellschaft gegenüber den Älteren eine Lanze brach: ".Wir legen nicht genug Großzügigkeit an den Tag. Man muss Großzügigkeit aufweisen." Der konservative Staatschef ging sogar bis zu der Aussage, ein Gesundheitssytem dürfe nicht "nach Juste-in-time-Grundsätzen funktioniren wie die Industrie", eine Anspielung an die systematisch zu knapp kalkulierte Personalbemessung. Doch vermied er es, von solchen hässlichen Dingen wie Geld zu reden, beispeilsweise von der Höhe der öffentlichen Gesundheitsausgaben ("Oh Geld, Du böses Wort"!). Im Anschluss an die Ministerratssitzung trat Chirac sogar im französischen Fernsehen auf, um eine ähnliche Botschaft zu verkünden. Eine regelrechte Kampagne.
Durch Raffarins Entlastungsoffensive sah sich Libération veranlasst, mit dem Titel aufzumachen: "Die große Heuchelei Raffarins" (18. August 03). Die Tageszeitung erinnert daran, dass die Regierung die 183 Millionen Euro, die ursprünglich für das laufende Jahr zur Verbesserung der Situation in den Altenheimen in Aussicht gestellt worden waren, aus Spargründen blockiert hat. Bisher sind nur 80 Millionen davon freigegeben worden. Ferner haben die regierenden Konservativen die Sozialleistung APA, allocation personnalisée d`autonomie (ungefähr "Unterstützung zur Selbsthilfe"), die älteren Leuten einen Pflegedienst im Heim oder auch zu Hause finanzieren hilft und die erst im Juli 2001 durch die Sozialisten eingeführt worden war, deutlich beschnitten. Statt 5 Prozent müssen die Betroffenen nunmehr 12 Prozent zuzahlen. Die Einkommensgrenze, unterhalb derer die APA-Berechtigten nicht selbst zuzahlen müssen, sank von 949 auf nur noch 623 Euro. Und die Alten müssen nunmehr genau nachweisen, wofür sie die Mittel verwenden es könnten sich ja "Sozialbetrüger" unter ihnen befinden.
Als Bauernopfer musste am 18. August der Leiter der Direktion für öffentliche Gesundheit (die dem entsprechenden Ministerium als Ausführungsverwaltung untersteht) Lucien Abenhaim, zurücktreten. Die Frage der Verantwortung konnte damit freilich kaum geklärt sein. Das "Figaro-Magazine" spricht derzeit bereits von der Möglichkeit eines Strafprozesses auf höchster Ebene, vergleichbar jenem, der vor drei bis vier Jahren gegen führende Regierungsmitglieder der frühen 80er Jahre (darunter Ex-Premierminister Laurent Fabius) geführt wurde, weil damals AIDS-verseuchte Blutkonserven landesweit bei Bluttransfusionen eingesetzt und nicht rechtzeitig zurückgezogen worden waren. Die Politiker wurden allerdings freigesprochen. Die Ankündigung des jetzige "Figaro-Magazine" schwebt jedoch in weiter Ferne am Horizont.
Die parlamentarische Opposition hat, aus durchaus eigennützigen Motiven, die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, um im Sommerloch Punkte zu sammeln. Die Grünen und das Enfant terrible der sozialdemokratischen Abgeordneten, Arnaud Montebourg (ein smarter Anwalt und medienorientierter Klassenstreber des Parlaments), forderten jüngst den Rücktritt von Gesundheitsminister Mattéi. Die Mehrheit der Sozialistischen Partei hingegen forderte lediglich die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsauschusses, von dem sie wissen dürfte, dass es ihn nicht geben wird, da die Rechte (allein aufgrund des Mehrheitswahlrechts) in beiden Parlamentskammern 60 Prozent der Sitze hält. Sogar der schleimig-"modernisiererische" frühere Gesundheitsminister sozialliberaler Couleur, Bernard Kouchner, spuckte am Ende in der Öffentlichkeit kritische Töne zum Versagen der Regierung. Anfangs, am 11. August, hatte er noch betont, die Regierung sei nicht für das Wetter verantwortlich und bei einer Hitzewelle seit es nun einmal so, dass ältere Leute gefährdet seien nach dem Motto: Leute, was regt Ihr Euch auf! Doch eine Woche später hatte auch er das schmähliche Versagen der Regierung entdeckt. Das parteipolitisch motivierte Geschimpfe darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass auch die sukzessiven sozialdemokratischen Kabinette zwischen 1997 und 2002 mit die Grundlagen für den heutigen Zustand des Gesundheitswesens gelegt haben.
Die Sparpolitik im Gesundheitswesen hat bisher nicht dazu geführt, dass die Defizite der Sozialsysteme gesenkt werden konnten. Im Gegenteil: Die roten Zahlen namentlich der Krankenkasse steigen immer weiter, im laufenden Jahr vermutlich auf 16 Milliarden Euro. Verantwortlich sinkt steigende Erwerbslosenzahlen, sinkende Sozialabgaben der Unternehmen oder Preisvorgaben der pharmaindustriellen Lobby. Auch die Klientelpolitik der regierenden Konservativen gegenüber dem selbstständigen Ärztestand, deren Einkommen kurz nach dem Amtsantritt von Gesundheitsminister Mattéi (der selbst aus dem Arztberuf kommt) im Juni 2002 angehoben wurde, spielt eine Rolle.
Die nächste regressive "Reform", auf Kosten vor allem zu Lasten der ärmeren Bevölkerungsteile, nach jener der Rentensysteme steckt daher bereits in den Startlöchern. Im Herbst 2003 will die Regierung die Baustelle der Krankenkassenreform eröffnen, spätestens zum Zeitpunkt der Abstimmung über die jährliche "Vorlage zur Finanzierung der Sécurité sociale" im Oktober 03. Im Hintergrund wartet bereits die mächtige Lobby der Versicherungskonzerne, deren Frontmann Denis Kessler (ein ehemaliger Maoist, und wie viele "Ehemalige" ein besonders scharfer Hund) zur Nummer Zwei des Arbeitsgeberverbands MEDEF aufgestiegen ist. Diese Lobby wittert hier einen riesigen Markt.
Doch die sommerliche Sterbewelle und die Polemik darum werden die Pläne vermutlich deutlich erschweren. In Libération (18. 08.) ließ Premierminister Raffarin verlauten: "Die Senkung der Gesundheitsausgaben ist auf mittlere Frist ein Thema, das der Vergangenheit angehört." Zugleich ist die Absicht der Konservativen eindeutig, die öffentliche Krankenversicherung nur noch auf "schwere Krankenheiten" zu beschränken, wie der UMP-Fraktionsvorsitzende Jacques Barrot schon im vorigen Herbst ankündigte und den Rest möglichst privater Initiative zu überlassen.
Auch das bürgerliche Lager ist hier in Widersprüchen gefangen und steht unter erheblichem Druck. Der marktradikal-liberale Radiokommentator Jean-Marc Sylvestre etwa machte in der Frage der Gesundheitsversorgung vor einem Jahr eine erstaunliche Wandlung durch. Er hatte sich lange Zeit für eine radikale Senkung der Gesundheitsausgaben ausgesprochen bis zu dem Tag, an dem er mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Seitdem tut er öffentlich seine Meinung kund, eine Klinik habe vielleicht doch nicht in erster Linie rentabel zu sein.
Wahrscheinlich ist deswegen, dass man versuchen wird, diese überaus heikle Reform nur scheibchenweise durchzuführen. Erste Schritte sind bereits unternommen. Im April gab Minister Mattéi bekannt, die Kosten für insgesamt 625 Medikamente würden durch die öffentlichen Kassen nur noch zu einem Drittel - statt bisher zwei Dritteln erstattet. Im Juli folgte eine Liste von 100 Medikamenten, die gar nicht mehr erstattet werden.
Die Regierung muss sich auf diesem Gebiet wie auf rohen Eiern bewegen. Zugleich erschwert eine Dämpfung ihrer Pläne aber auch das Kalkül jener in den sozialen Bewegungen, die im Frühsommer etwas vorschnell und lautstark verkündet hatten, im September gingen die Streiks wieder los, wenn es um die Gesundheitsreform gehe. Denn darauf, dass es zu Verschlimmerungen kommen wird, kann man sich verlassen aber vielleicht nicht auf ihren Zeitplan.
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