Besser: nie mehr krank
Nadja Rakowitz über die Auswirkungen der Gesundheitsreform ab 2004
Das in großer Koalition ausgearbeitete Gesetz
zur »Modernisierung« des Gesundheitswesens tritt am 1. Januar 2004 in Kraft.
Weil der oberste Zweck der »Reform« nicht eine Reform der durchaus reformbedürftigen
Strukturen, sondern die Senkung der Lohnnebenkosten ist, bestehen die neuen
Regelungen zum großen Teil darin, die Kosten für Gesundheitsversorgung auf
die Versicherten bzw. die Kranken zu verlagern. Folgende Neuregelungen sind
beschlossen:
- Zuzahlungen bei Arzneimitteln: Grundsätzlich müssen ab 1. Januar
2004 bei allen Medikamenten zehn Prozent, bzw. mindestens fünf, aber höchstens
zehn Euro zugezahlt werden.
- Praxisgebühr pro Quartal: Ab 1. Januar 2004 zahlt jeder Patient
bei erstmaliger Inanspruchnahme eines Arztes und Zahnarztes zehn Euro je
Quartal für beliebig viele Behandlungen bei diesem Arzt. Liegt für eine
Behandlung beim Facharzt eine Überweisung vor, muss keine Gebühr gezahlt
werden. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren sind befreit.
- Hausarztmodelle: Kassen müssen Hausarztmodelle anbieten. Der
Hausarzt soll der »Lotse« zum Gesundheitssystem werden, d.h. der Hausarzt
soll stärker als bisher die Kontrolle darüber bekommen, zu welchem Facharzt
der Versicherte geht. Wer als Versicherter am Modell teilnimmt, verpflichtet
sich, für eine bestimmte Zeit immer zu diesem Hausarzt zu gehen und bekommt
dafür einen Bonus von seiner Krankenkasse.
- Zuzahlung im Krankenhaus: Hier beträgt die Zuzahlung täglich
zehn Euro, sie soll höchstens 28 Tage im Jahr erhoben werden. Für häusliche
Krankenpflege und Heilmittel werden ebenfalls zehn Euro Praxisgebühr plus
zehn Prozent der Tageskosten verlangt; nach 28 Tagen übernimmt die Krankenkasse
die Kosten.
Für alle Zuzahlungen gilt: Wer Zuzahlungen
über die Höchstgrenze von zwei Prozent (bei Chronikern ein Prozent) des Bruttoeinkommens
bezahlen musste, bekommt diese ersetzt. Für Sozialhilfeempfänger gibt es keine
Ausnahmen.
- Zahnersatz: Ab 2005 wird Zahnersatz von den Versicherten alleine
bezahlt. Er wird zwar noch als Leistung von der GKV angeboten, der Betrag
dafür wird aber zum allgemeinen Beitrag hinzugerechnet. Die Versicherten
haben die Wahl, ob sie den Zahnersatz gesetzlich oder privat absichern wollen.
- Streichung: Sehhilfen erstattet die Kasse nur noch für Jugendliche
bis 18 Jahre und schwer Sehbehinderte. Die Kassen beteiligen sich nicht
mehr an den meisten Taxifahrten zur ambulanten Behandlung. Gestrichen werden
auch so genannte versicherungsfremde Leistungen wie Sterbe- und Entbindungsgeld
sowie Mittel für Sterilisation aus nichtmedizinischen Gründen. Künstliche
Befruchtung wird nur noch eingeschränkt bezahlt. Für den Bund entstehen
durch die Übernahme dieser Leistungen ab dem Jahr 2004 jährliche Mehrausgaben
in einer Größenordnung von ca. 4,7 Mrd. Euro; zur Gegenfinanzierung wird
die Tabaksteuer in Stufen insgesamt um einen Euro je Packung Zigaretten
angehoben; die Erhöhung tritt frühestens am 1. März in Kraft.
- Paritätische Finanzierung: Das bisher von der siebten Krankheitswoche
an gezahlte Krankengeld wird ab 2007 allein durch die Beiträge der Arbeitnehmer
bezahlt. Sie übernehmen den Arbeitgeberanteil von 0,5 Prozent; d.h. in Zukunft
werden die Beitragssätze von Arbeitgebern und Arbeitnehmern für die GKV
nicht mehr gleich hoch sein, sondern z.B. 6,5 Prozent für die Arbeitnehmer
und 6 Prozent für die Arbeitgeber.
Durch die Reform werden die Krankenkassen
angeblich allein 2004 um rund zehn Milliarden Euro entlastet. Davon sollen
sie drei Milliarden Euro zum Abbau ihrer Schulden verwenden können, der Rest
muss zur Senkung des Beitragssatzes genutzt werden. Das Gesetz soll sicherstellen,
dass die Senkung umgesetzt wird. Außerdem soll die Verwaltung der Kassen gestrafft
werden, um die Verwaltungskosten (die sowieso mit ca. 6 Prozent der Gesamtausgaben
nicht sehr hoch sind) zu senken. Der durchschnittliche GKV-Bei-tragssatz von
derzeit rund 14,3 Prozent soll durch all diese Maßnahmen nächstes Jahr auf
13,6 Prozent und bis 2006 auf 12,15 Prozent sinken. Für Arbeitnehmer kommt
aber noch ein Betrag zur Zahnersatz-Ver-sicherung und für das Krankengeld
hinzu, außerdem – sofern er krank wird – auch noch die oben genannten
Zuzahlungen.
Weitere Maßnahmen
- Integrierte Versorgung: Zwischen 2004 und 2006 stehen bis 1
Prozent der jeweiligen Gesamtvergütung der Kassenärztlichen Vereinigung
und der Krankenhausvergütung für integrierte Versorgung zur Verfügung. In
Zukunft kann es dafür Medizinische Versorgungszentren geben, die von den
Leistungserbringern gegründet werden können. Krankenhäuser dürfen sich allerdings
nur bei hochspezialisierten Leistungen und im Rahmen von Disease Management
Programmen (Chroniker Programme) an der ambulanten Behandlung beteiligen.
Die Kassen dürfen nur mit »besonders qualifizierten« Hausärzten Einzelverträge
abschließen. Hier haben sich die Kassenärztlichen Vereinigungen der niedergelassenen
Ärzte vermittelt über ihren Einfluss auf die CDU/CSU durchgesetzt; die Union
hat in den Konsensverhandlungen die Planungen von Rot-Grün verhindert, die
die Macht der KVen beschneiden wollte, indem sie Fachärzte nur noch direkte
Einzelverträge mit den Krankenkassen abschließen lassen wollte.
- In der Frage der Positivliste für Arzneimittel hat sich die
Pharmaindustrie mit ihren Interessen mal wieder durchgesetzt. Es wird auch
in Zukunft keine Positivliste geben. Es gibt nur ein paar wenige Maßnahmen,
die die Einnahmen der Pharmaindustrie schmälern werden: Für neue Medikamente
ohne erkennbaren Zusatznutzen sollen billigere Festbeträge gelten, Re-Importe
müssen billiger abgegeben werden und Versandapotheken werden zugelassen.
Rezeptfreie Mittel werden nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt. Die
Pharmaindustrie hat dafür aber schon ein »Rezept«: In den vergangenen drei
Monaten sind etwa 900 Anträge auf Neuzulassung von Präparaten mit bekannten
Stoffen beim Bundesinstitut für Arzneimittel eingegangen. Mit diesen Anträgen
werden Arzneimittel, die bislang rezeptfrei sind, modifiziert: Zum Beispiel
durch höhere oder andere Dosierungen, neue Indikationen oder neuen Angaben
zu Risiken. Das Ziel ist, dass die so neu zugelassenen Arzneimittel rezeptpflichtig
sind und dann wieder von den Kassen bezahlt werden.
- Auch beim neu zu errichtenden Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
in der Medizin, das Behandlungsleitlinien entwickeln, Empfehlungen für eine
zeitgemäße Fortschreibung des Leistungskatalogs erarbeiten und Nutzen-Bewertungen
von neuen Arzneimittel durchführen soll, hat sich die Pharmaindustrie durchgesetzt,
denn im alten rot-grünen Entwurf sollte noch die Kosten-Nutzen-Relation
überprüft werden. Damit wäre es möglich gewesen, auf die Preisgestaltung
der Pharmaindustrie Einfluss zu nehmen. Außerdem sitzen die Kassen und die
KV im Institut, im alten Entwurf war es unabhängig.
- Im Gesetz ist eine Stärkung der Patientensouveränität und ein
Ausbau von Rechten, Wahl- und Einflussmöglichkeiten der Patientinnen und
Patienten geplant, eine Verbesserung der Transparenz auf allen Ebenen und
die Einführung von Patientenquittungen sowie der elektronischen Gesundheitskarte.
Freilich ist bei Begriffen wie Patientensouveränität oder auch Eigenverantwortung
immer Vorsicht geboten: Sie werden beschönigend dafür gebraucht, dass der
Versicherte souverän selbst zahlt und so selbst Verantwortung übernehmen
soll...
Insgesamt sollen
mit diesen Leistungsstreichungen und Zuzahlungen bis zum Jahr 2007 66 Mrd.
Euro eingespart werden. Die Reform des Gesundheitswesens, die am 1. Januar
in Kraft treten wird, ist damit die einseitigste und umfänglichste Lastenverschiebung
auf die Versicherten und die Kranken, die es je in der BRD gegeben hat.