Home > Diskussion > Wipo > GATS > Bildung > stapelfeldt | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Bildung ist keine Ware? Kritische Anmerkungen zu einer politischen Parole – von Gerhard Stapelfeldt* Der folgende Beitrag, ursprünglich 2003 als Vortrag auf Einladung von Studierenden der Hamburger Universität anlässlich der damaligen Proteste gegen den Umbau der Universität im Zuge des Bologna-Prozesses gehalten und zwischenzeitlich überarbeitet in Buchform erschienen, greift ein zentrales Motiv der Anti-Privatisierungsbewegungen (nicht nur) im Bereich der Bildung auf: Auf was kann sich die Kritik der Privatisierung und Ökonomisierung »öffentlicher Güter« und damit zugleich gesellschaftlicher Reproduktionsvoraussetzungen (noch) stützen, wenn die historische Wirklichkeit am normativen Ideal längst vorbeimarschiert ist? Wir dokumentieren den für den express aktualisierten und leicht gekürzten Buchbeitrag: »Bildung ist keine Ware!« Unter diesem Slogan haben seit etwa 2002 Schüler und Studierende in Deutschland, aber auch in anderen EU-Staaten, gegen den kapitalkonformen Umbau des gesamten Bildungssystems protestiert. Kritisiert wurde die organisatorische Verwandlung der Schulen, Hochschulen und Universitäten in Dienstleistungsbetriebe nach dem Vorbild von Aktiengesellschaften, die ökonomisch verwertbares Wissen zur Produktion von Humankapital vermitteln. Die Idee der Bildung, der Verwandlung des Subjekts in ein autonomes Individuum durch öffentliche Aufklärung, drohe verloren zu gehen. An seine Stelle trete die Verwandlung des Subjekts in ein Instrument betriebswirtschaftlicher Interessen, des Wissens in einen ökonomischen Rohstoff, des Studiums in eine durch erhebliche Studiengebühren zu bezahlende Dienstleistung. So verständlich und sympathisch der Protest war – er war politisch-ökonomisch naiv. Durch die Abkommen zur Gründung der Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organisation), des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade; Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen), vor allem des GATS (Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen) aus dem Jahre 1995 ist der ›Wissensmarkt‹ liberalisiert und ein weltweiter Handel mit der Ware ›Wissen‹ eröffnet worden. Bereits 1998/99 haben die Weltbank und das UNDP (UN-Development Programme) die Verwirklichung einer globalen Wissensökonomie konstatiert. Auf europäischer Ebene strebt die Europäische Union mit dem 1999 in Bologna eingeleiteten Prozess der Reformierung des europäischen Hochschulsystems an, die Universitäten in Wissensbetriebe auf einem durch Wettbewerb gesteuerten Wissensmarkt umzugestalten und dadurch die Grundlage zu schaffen, um die EU bis zum Jahre 2010 in den »weltweit größten wissensgestützten Markt« zu verwandeln. Wettbewerb aber bedeutet: Reduktion von Bildungsprozessen auf vergleichbare, messbare, quantifizierbare und abprüfbare Leistungen; Reduktion von Wissenden auf berechenbare Personifikationen reproduzierbaren Wissens. Wissende und Wissen werden objektiviert, in Mittel zur Steigerung ökonomischer Macht in einem globalen Kampf der EU mit den USA und Ostasien (Japan, China) verwandelt. Angesichts dessen ist ein lokal begrenzter Protest ebenso notwendig wie hilflos. Der Protest war auch hilflos, weil er suggerierte, es gelte, eine bis vor kurzem heile Bildungswelt nur zu bewahren. Wurde nicht vor mindestens 150 Jahren das Wissen zur Ware durch die wissenschaftlich-technische ›Zweite Industrielle Revolution‹? Wurde nicht zeitgleich das Wissen zur Ware, weil die Bürokratisierung von Wirtschaft und Staat im Imperialismus das Fachwissen von Juristen und Betriebswirten verlangte? Das Wissen ist längst eine Ware, die Bildung ist längst untergegangen – das haben Kulturkritiker wie Friedrich Nietzsche bereits am Ende des 19. Jahrhunderts beklagt. Die Parole: »Bildung ist keine Ware!« offenbart die Hilflosigkeit des Protestes, der offenbar deshalb schon erheblich an Schwung verloren hat. Die betriebswirtschaftliche, kapitalkonforme Umstrukturierung des Bildungssystems ist weit fortgeschritten; viele Studierende hatten ihren Protest ohnehin nur auf die Studiengebühren gerichtet und nicht zureichend im Blick, dass das neoliberale System ein Angriff auf humanitäre Interessen ist. Deshalb ist eine Kritik des neuen Bildungssystems weiterhin notwendig. Allein: Auf welche Idee kann sich die Kritik dabei stellen? Es wurde bislang zurückgegriffen auf eine alte philosophische Idee, die besonders in Deutschland um 1800 eine, wenn auch kurze, Blüte in der Humboldt-Universität erlebte und die alsbald begraben wurde. Was ist das also: Bildung? Wie wurde die Idee der Bildung in Deutschland um 1800 institutionalisiert? Warum wurde schon im 19. Jahrhundert die Idee der Bildung auf dem Altar des Kapitalprofits liquidiert? Warum ist der heute dominierende Neoliberalismus ein ökonomisches Gesellschaftsmodell, in dem die Idee der Bildung als völlig antiquiert erscheint? l. Die Idee der Bildung ist identisch mit der Idee der Philosophie: Selbst- und Welterkenntnis mit dem Ziel, die Menschen von undurchschauten Mächten, von jeder Herrschaft zu befreien. Wäre diese Utopie verwirklicht, wäre Bildung verwirklicht, wäre Philosophie in einer befreiten Menschheit aufgehoben. Bildung hat ihren Ort nicht bloß in der Theorie, sondern vor allem in der Praxis; die Praxis der Bildung ist die Aufklärung, die Weltveränderung. Bildung verhält sich kritisch zu allen politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen, die als unveränderlich erscheinen und darum den Menschen entfremdet sind. Idee und Begriff von Philosophie und Bildung können an der Philosophie des Sokrates (469 v.u.Z. – 399 v.u.Z.) dargelegt werden. Sokrates war der Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der Hebamme Phainarete. Er hat zunächst, wie sein Vater, als Bildhauer gearbeitet, ehe er durch die philosophische Hebammenkunst Menschen bildete. Sokrates gilt als erster Philosoph im präzisen Sinn: er hat, nachdem die Vorsokratiker über die Natur (physis) reflektierten, als erster über die Liebe (philia) zur Weisheit (sophia) selbst nachgedacht. Herausragendes Merkmal des sokratischen Philosophierens war, dass hier Philosophie unmittelbar Lebenspraxis wurde. Vor allem lebte Sokrates nicht in der Einsamkeit, sondern in der Öffentlichkeit: in den Wandelhallen und Gymnasien, auf dem Markt – »immer da, wo er voraussichtlich die meisten Leute antraf.« (Xenophon) Sein Philosophieren war der Dialog mit den Bürgern Athens. Er hielt keine Lehrvorträge, sondern ließ sich zunächst auf die unmittelbaren Interessen seiner Gesprächspartner ein, nahm ihre Gedanken auf – und fragte mit einer unerbittlichen Konsequenzlogik nach, bis sie sich in Widersprüche verwickelten, ihre ursprüngliche feste Meinung ohne jede Stütze blieb. So zerstörte er jedes Apriori-Wissen, die monologische Doxa (Meinung), bereitete dem Selbstdenken und dem Dialog den Boden. Dieses müßige Reflektieren, diese dialogischen Untersuchungen über Fragen der Tugend bildeten die Lebenspraxis und die Philosophie des Sokrates. Die sophia hatte ihren Ort nicht in einer abgeschiedenen theoria – sie richtete sich ganz direkt auf ein vernünftiges Leben, die Verwirklichung einer wahren Praxis von freien Bürgern, die sich dialogisch aufklären und dadurch als ihrer selbst bewusste Subjekte konstituieren, als Atome-Individuen im antiken Sinn. Das Philosophieren des Sokrates war Theorie-Praxis: auf Wahrheit ausgerichtetes Leben. Wegen dieser kritischen Praxis war Sokrates der erste Philosoph, der – aufgrund seines Philosophierens – angeklagt und zum Tode verurteilt wurde. Voraussetzung dieses Philosophierens war die Möglichkeit der freien Bürger, weitgehend ein Leben in der Muße zu führen; die Arbeiten wurden von den Unfreien verrichtet. Sokrates’ nachfragende Methode bedeutete ein Zurücktreten vom Alltag, ein Nachdenken über das Selbstverständliche, das allgemein Anerkannte, die bewusstlos-unreflektiert geltenden Grundlagen des sozialen Lebens. Dieses Reflektieren tritt zwar nicht in ruhigen Zeiten als Notwendigkeit auf, sondern dann, wenn die Welt schwankend wird: in Zeiten einer tiefreichenden sozialen Krise. Aber es gelingt nur, wenn der Mensch nicht panisch reagiert, sondern – wie Platon und Aristoteles formulieren – mit »Verwunderung«. So ist die Philosophie des Sokrates das Bewusstsein der Freien von einer Krisis Athens auf der fundamentalen Ebene ihrer moralischen Identität: Selbstbewusstsein und Weltbewusstsein, Theorie und Praxis in eins. Die Form seines Philosophierens zeichnet Sokrates als ersten Philosophen aus. Platon unterscheidet, Sokrates folgend, zwischen dem sophistés, dem philósophos und dem sophós. Danach beansprucht der Sophist, die sophia fertig zu besitzen, als ob sie eine Ware wäre; als sein Eigentum tauscht er sie, indem er einen monologischen Vortrag hält und sich dafür mit Geld bezahlen lässt. Der Philosoph hingegen reklamiert die sophia nicht als seinen Besitz, sondern er liebt sie (philia: Liebe): Er sucht nach der Weisheit, ohne sie völlig zu erreichen. In der ›Apologie‹ Platons heißt es, dem Philosophen komme bloß die »menschliche Weisheit« zu. Der Weise, der sophós, ist allein »der Gott«. Der Sophist ist nur zum Scheine weise und unterliegt einem Selbstmissverständnis; der Philosoph weiß, dass er die Weisheit nicht besitzt, und ist durch dieses Bewusstsein dem Sophisten voraus; der Gott ist weise. Aus diesen Abgrenzungen resultiert die Form der Philosophie: Sie ist unmittelbar immanente Kritik der Sophistik, allgemein Kritik jedes dogmatischen, scheinbaren Wissens, das wie privates Eigentum besessen werden kann, das sich von sozialen Verständigungsverhältnissen abgelöst hat. Im Gegensatz zum scheinbaren Fertigsein des Sophisten ist die Philosophie unabgeschlossen: Sie gibt nicht Antworten, sondern stellt Fragen, fordert nicht den Monolog, sondern den Dialog, impliziert nicht privates Bescheidwissen, sondern Verständigung. In philosophischen Bildungsprozessen gibt es daher keine Experten, die die Bildung besitzen und sie mit ausgefeilten Methoden bloß vermitteln, sondern nur Beteiligte; Bildungsprozesse setzen voraus, dass Menschen die Welt fraglich wurde, dass sie unter den gesellschaftlichen Verhältnissen leiden. Darum ist Bildung prinzipiell eine ›Hebammenkunst‹ (Sokrates): Sie kann nur Fragen, mit denen ein Mensch schwanger geht, zu Bewusstsein bringen und klären – sie kann niemandem Fragen geben. So zielt Bildung auf das Selbstdenken, auf das Selbst-Bewusstsein. Aber dieses Selbstdenken ist kein bloß intellektuelles und privates Resultat, weil das, was gedacht wird und was als ›wahr‹ erscheint, abhängig ist von der Identität eines Menschen, von seinen Bedürfnissen und Interessen, wesentlich auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen er lebt. Bildung ist kein Wissen, das auswendig gelernt und reproduziert werden kann, sondern ein Wissen, das inwendig wird, indem das Individuum sich selbst und seine Umstände verändert. Diese Idee der Bildung hat die Philosophie über 2000 Jahre geprägt, mindestens bis in das 19. Jahrhundert. Während aber die klassische, zuerst durch Sokrates gegebene Idee die Selbst- und Welterkenntnis noch mit Gotteserkenntnis zusammendachte, weil im mythologischen Bewusstsein der Antike und des Mittelalters die Welt »von Göttern voll« (Thales) schien, begann in der Neuzeit eine Säkularisierung der Bildungsidee. Die Bildung erhielt ihre Institutionalisierung in den Universitäten; die ersten Universitätsgründungen waren die in Bologna (1088), Paris (1150) und Oxford (1167). Der italienische Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola (1463–1494) leitete jene Säkularisierung ein, indem er Sokrates’ Metapher aufnahm: Gott habe den Menschen in die Mitte der Welt gestellt, damit dieser – wie ein »schöpferischer Bildhauer« – sich selbst und seine Welt erschaffe. In dieser Gottesebenbildlichkeit besitze der Mensch seine Würde. Nicht zufällig hat, zwanzig Jahre nach Picos Tod, der englische Philosoph und spätere Lordkanzler Thomas Morus den Begriff der Utopie geprägt. Morus, der einige kleine Texte Picos übersetzte, begründete damit den Zusammenhang von Bildung und bürgerlicher Revolution, der sich im 18. Jahrhundert in Frankreich und Nordamerika manifestierte. Der deutsche Philosoph Hegel (1770–1831) schrieb am Beginn des 19. Jahrhunderts: »Man muss sich nicht dagegen erklären, wenn gesagt wird, dass die [Französische] Revolution von der Philosophie ihre erste Anregung erhalten habe.« II. In Deutschland hat die Idee der Bildung um 1800 eine besondere Wendung erhalten: Bildung wurde vom Zusammenhang mit einer Revolutionierung der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse abgelöst und auf die Innerlichkeit beschränkt. Hegel hat die Differenz zwischen Deutschland und dem revolutionären Frankreich beschrieben: »Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner.« Der Grund für diese bloß theoretische Revolution im Deutschland Goethes und Schillers, Kants und Hegels, Fichtes und Humboldts ist einfach: Nachdem durch die Entdeckung und Eroberung Amerikas sich der europäische Welthandel an den Atlantik verschoben hatte, lagen die Zentren des bürgerlichen Fortschritts in den Niederlanden und England; Deutschland blieb in seiner sozialökonomischen Entwicklung zurück. Eine bürgerliche Revolution hatte in Deutschland keine gesellschaftliche Grundlage. Die bloß innerliche, theoretische Bildung blieb weiterhin eine philosophische; sie hatte ihren Ort in der Universität Humboldts – in der 1807/10 gegründeten Universität zu Berlin (heute: ›Humboldt-Universität‹). Wilhelm von Humboldt (1767–1835), in dessen Händen die Gründung der Berliner Universität lag, hat in einer Reihe von kurzen Texten die Idee der Bildung und der deutschen Universität entwickelt. Humboldt wiederholt zunächst das Selbstverständliche: Die Einheit der Universität liegt in der Philosophie. Die Prinzipien der Bildung, der Universität, sind: Einheit von Forschung und Lehre, Lehre als Reflexion (Aufklärung) und Dialog nach dem Vorbild des Sokrates, Autonomie und demokratische Verfassung der Universität. Die Philosophie bildet das Dach der Universität, weil sie allein dem Imperativ der Selbst- und Welterkenntnis folgt: weil sie allein einen enzyklopädischen Anspruch des Wissens verfolgt. Bildung ist das Bewusstsein dessen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, kein spezialisiertes Faktenwissen. Nach Kant weist die Universität, neben der philosophischen, noch drei weitere, Fakultäten auf: die theologische, die juristische und die medizinische. Nur die Philosophie ist frei; die anderen Fächer hingegen unterliegen Weisungen der Regierung. Juristen, Theologen und Mediziner sind, nach Kant, »Werkzeuge der Regierung«. Die nicht-philosophischen Disziplinen sind für ihn Fachwissenschaften, die nützliche, verwertbare Kenntnisse vermitteln unter der Voraussetzung der herrschenden sozialökonomischen Verhältnisse. Die Universität Humboldts folgt dem Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre, weil es in Aufklärungsprozessen keine Spaltung von Experten und Laien, Lehrern und Studierenden geben kann – weil die Aufklärung gesellschaftlich bewusstlos wirkenden Gesetzen wie der ›invisible hand‹ (Adam Smith) gilt, denen alle gleichermaßen unterworfen sind. Darum haben Schleiermacher und Fichte gefordert, dass das Lehren ein Lernen, das Lernen ein Lehren sein soll. Die Form der Lehre und des Lernens, die der Bildung entspricht, ist der Dialog, nicht der Monolog. Bildung, Aufklärung, ist ein öffentlicher Prozess. Auf der Humboldt-Universität ist die Lehre keine lästige Pflicht neben der wissenschaftlichen Forschung, sondern ein wesentliches Moment dieser Forschung. Aufklärung ist keine Vermittlung von Tatsachen, von Informationen. Gegenstand der Aufklärung sind undurchschaute gesellschaftliche Mechanismen, die als unverrückbare Tatsachen nur erscheinen, weil die ›invisible hand‹ bewusstlos wirkt. Die Erkenntnis der Welt als Ganzer ist nicht das Wissen aller gesellschaftlichen Tatsachen. (...) Aufklärung ist daher kein Auswendiglernen und Reproduzieren von Tatsachen; Bildung ist nicht zu verwirklichen durch didaktische, der Sache äußerliche Techniken – das unterscheidet sie von der Ausbildung auf einen bürgerlichen Beruf, von der Aneignung entfremdeten Wissens. Als Aufklärung über gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten – geltende allgemeine Überzeugungen, Ideologien – verhält Bildung sich kritisch zu den herrschenden Verhältnissen. Bildung ist vor allem Kritik jeder Form von Herrschaft, von »Autorität« (Schleiermacher), werde diese nun politisch, ökonomisch oder kulturell ausgeübt. Bildung ist der Widerstand gegen »Uncultur und Barbarei« (Fichte). Der Bildung ist die vernunftgegründete Utopie einer freien Gesellschaft freier Menschen wesentlich. Wenn Bildung allein in Form von Aufklärung über undurchschaute individuelle und kollektive Gedanken und Handlungen erfolgt, zielt sie darauf, das Individuum – alle Individuen – von Vorurteilen und Ideologien zu befreien, ihm zum Selbstdenken zu verhelfen. Darum, forderten Kant, Schleiermacher und Humboldt, müsse die Universität frei von autoritären Weisungen und demokratisch verfasst sein. Die Bildung darf nicht externen Imperativen unterworfen und in ein Mittel zur Verwaltung des Staates oder der Produktion gesellschaftlichen Reichtums verwandelt werden. Bildung ist kein Mittel für fremde Zwecke, sondern Selbstzweck. Darin liegt die Freiheit der Universität, die Freiheit des Gedankens, die Praxis der Freiheit. Humboldt hat diesen Prinzipien ein letztes, deutsches hinzugefügt: »Einsamkeit und Freiheit«. Schon Kants Beschränkung der Bildung auf die Philosophie trennt die Welt in eine Welt innerlicher Freiheit und eine Welt äußerer Unfreiheit. Im »bürgerlichen Amte« sei der Mensch bloß ein »Werkzeug« und zum Gehorsam gezwungen. Fichte, Humboldt und Schleiermacher haben entsprechend formuliert: Die Studierenden haben sich vom Materialismus der bürgerlichen Welt in die Einsamkeit der idealistischen Bildung zurückzuziehen und dort die Praxis des freien Gedankens zu verwirklichen. Die Freiheit auf der Humboldt-Universität geht zusammen mit einem Untertanengeist, der die äußere Welt einerseits verachtet, weil er sich ihr andererseits blind fügt. Bildung, im deutschen Sinne, ist anti-revolutionär und widerspricht insofern ihrer eigenen Idee. So hat die Idee der Bildung in Deutschland dem ›autoritären Staat‹ und dem ›autoritären Charakter‹ den Weg bereitet; der Widerspruch der Bildung in Deutschland führte zu ihrer Selbst-Liquidierung. An die Idee der Humboldt-Universität heute anzuschließen ist darum ein höchst problematisches Unterfangen. III. Der Zusammenhang von Bildung und (bürgerlicher) Revolution löste sich endgültig in der Epoche des Imperialismus (1870–1918), die der Epoche des Liberalismus und der politischen Revolutionen in Nordamerika (1776), Frankreich (1789) und Lateinamerika (um 1810/20) nachfolgte. Der Anspruch, die gesellschaftliche Welt als Ganze vernünftig zu erkennen und einzurichten, wurde eingezogen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts spalteten sich die Fachwissenschaften vom Menschen (naturwissenschaftliche Medizin und Psychologie), von der Gesellschaft (Soziologie) und der Politik (Politologie) von der Philosophie ab. Die neuzeitlichen mathematischen Naturwissenschaften, die schon im 17. Jahrhundert durch Galileo Galileis Astronomie und Physik begründet worden waren, wurden nun ökonomischen Imperativen unterworfen. Die Bildung wurde am Ende des 19. Jahrhunderts auf Ausbildung, das Wissen auf ein nützliches, ökonomisches verwertbares Wissen reduziert: auf eine Ware. Einerseits wurden die Naturwissenschaften etwa seit 1850/70 systematisch ökonomisch genutzt. Der Bereich der gesellschaftlichen Produktion war in den Epochen der Renaissance (1420–1520) und des Handelskapitalismus (1520–1760) weitgehend von handwerklich tradiertem Wissen geprägt. Auch die erste Industrielle Revolution (ab 1765) beruhte vor allem auf Erfindungen von Laien, Handwerkern und Tüftlern; eine wichtige Ausnahme bildete die Entwicklung der Lokomotive durch den Ingenieur Stevenson. Erst die zweite Industrielle Revolution setzte systematisch Wissenschaft in Technik zur Steigerung des Kapitalprofits um: Die Erfindungen des Automobils, des Gummireifens, der Stahlproduktion, chemischer Kunststoffe, des Dynamits, chemischer Düngemittel, der Elektrizität, des Flugzeugs, der Erzeugung elektrischer Energie, etc. waren von hohem ökonomischem Nutzen. Neben die Universitäten traten um 1870 neue Hochschulen: die Technischen Hochschulen, die – besonders in den USA – von der Industrie gefördert wurden. In den kapitalistischen Großunternehmen wurden Forschungslabors eingerichtet. Andererseits wurden die Sozial- und Geisteswissenschaften ab 1870 zu einer wichtigen ökonomischen Ressource. In den neu entstehenden, international ausgerichteten Trusts und Kartellen wurden Produktion und Absatz von Waren wissenschaftlich rationalisiert. (...) Die kapitalistischen Betriebe benötigten vor allem Betriebswirte und Juristen. Dieselben Berufsgruppen waren auch für die nun schnell anwachsende Staatsbürokratie relevant. Während der liberale Staat die Wirtschaft sich selbst überließ, suchte der Staat des Imperialismus den ›Markt‹ im Interesse der großen Unternehmen – im Kapitalinteresse – zu steuern. Dafür benötigte man Betriebswirte, Volkswirte, Juristen, Statistiker, Organisationsfachleute. Die Universitäten waren nun nicht mehr Stätten der Bildung, sondern der Produktion ökonomisch nützlicher Fachmenschen und ökonomisch verwertbaren Wissens. (...) Der Ökonom und Soziologe Max Weber (1864–1920) beobachtete in den USA die Verwandlung der Universitäten in Wissensbetriebe: »Der junge Amerikaner hat vor nichts und niemand, vor keiner Tradition und keinem Amt Respekt, es sei denn vor der persönlich eigenen Leistung des Betreffenden: das nennt der Amerikaner ›Demokratie‹. Wie verzerrt auch immer die Realität diesem Sinngehalt gegenüber sich verhalten möge, der Sinngehalt ist dieser, und darauf kommt es hier an. Der Lehrer, der ihm gegenübersteht, von dem hat er die Vorstellung: er verkauft mir seine Kenntnisse und Methoden für meines Vaters Geld, ganz ebenso wie die Gemüsefrau meiner Mutter den Kohl. Damit fertig.« Dass Wissen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nichts mehr gemein hatte mit der Idee der Bildung, der Befreiung des Menschen und der Menschheit, lässt sich an jenem Ereignis ablesen, das einen Kulturschock auslöste: an dem mit wissenschaftlich-technischen Mitteln geführten Ersten Weltkrieg. Das Wissen war, für alle Welt erkennbar, von der Idee der Befreiung, auch von einer Produktivkraft, in eine Destruktivkraft verwandelt worden. Mit wissenschaftlichen Mitteln wurden ›Fremde‹ zu Feinden erklärt, die zu vernichten seien. Die Waffen des Ersten Weltkrieges waren angewandte Naturwissenschaften. IV. Die in der Epoche des Imperialismus erfolgte Verwandlung von Bildung in Ausbildung, von Wissen in ökonomisch verwertbares Wissen, von produktivem und befreiendem in destruktives Wissen prägte das gesamte 20. Jahrhundert. Einerseits benötigte der nach der Weltwirtschaftskrise von 1929/33 vor allem in den USA, in Großbritannien und im nationalsozialistischen Deutschland – in sehr unterschiedlichen Formen – durchgesetzte staatsinterventionistische Kapitalismus weiterhin Naturwissenschaftler zur Rationalisierung der Produktion und Wirtschafts- sowie Sozialwissenschaftler und Juristen zur Rationalisierung der Wirtschafts- und Staatsbürokratie. Andererseits wurde die wissenschaftliche millionenfache Vernichtung von Menschen – von den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten bis zum Bau und zur Anwendung der Atom- und der Wasserstoffbombe – in allen Richtungen zur Konsequenz gebracht. Wissenschaft ist seit dem Imperialismus nicht mit Humanität, sondern mit Inhumanität verwandt. Durch die Weltwirtschaftskrisen von 1973/79 wurde nun der Staatsinterventionismus durch den – von Friedrich August von Hayek (1899–1992) theoretisch entwickelten – Neoliberalismus abgelöst. Das zentrale neoliberale Dogma ist einfach: Eine staatliche Steuerung des Kapitalismus zur Vermeidung von sozialökonomischen Krisen muss sich zutrauen, Wirtschaft und Gesellschaft als Ganze zu erkennen, um sie als Ganze zu lenken; die Krisen der 70er Jahre hatten nun scheinbar gezeigt, dass dieser Anspruch nicht eingelöst werden konnte. Also lehrt der Neoliberalismus: Wirtschaft und Gesellschaft sind als Ganze nicht zu erkennen und daher auch nicht (staatlich) zu steuern. An die Stelle des lenkenden Staates soll der freigesetzte, durch den Wettbewerb und durch Knappheitspreise gesteuerte Markt treten. Wirtschaftskrisen sollen nicht durch den Sozialstaat, der den Konsum ankurbelt, abgefedert und überwunden werden, sondern durch Wettbewerb, Abbau staatlicher Lenkung (›Deregulierung‹ der Wirtschaft), vor allem durch den Abbau des Sozialstaates. Die neoliberale Strategie löst ideologisch die Gesellschaft auf in Sozialatome und verabschiedet sich ausdrücklich vom sozialstaatlichen Gebot sozialer Gerechtigkeit; sie löst die Nationalökonomie auf in Betriebswirtschaft. Vor allem aber bedeutet der Neoliberalismus: Globalisierung der kapitalistischen Ökonomie. Fällt die nationalstaatliche Steuerung, so tritt an seine Stelle ein übernationaler – globaler – Wettbewerb. Der Neoliberalismus ist die Ideologie des ungebildeten, des bildungsfeindlichen Bewusstseins. Die Frage nach dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, ist dem Neoliberalismus ein Hirngespinst, ein autoritärer wissenschaftlicher Omnipotenzanspruch. Wissen ist nur noch Wissen von einzelnen Momenten, von Ausschnitten der Realität: Fachwissen für vorgegebene, undurchschaute Zwecke. Eine Wissenschaft von der Gesellschaft ist im Neoliberalismus eine überflüssige Veranstaltung; darum sollen (nicht nur an der Hamburger Universität) die Geisteswissenschaften – ohnehin längst keine Orte der Bildung mehr – dramatisch reduziert werden. Dem Neoliberalismus ist die ›Gesellschaft‹ ein Phantom, ein irrationales, undurchschaubares Ganzes; das Subjekt des Neoliberalismus ein gesellschaftlicher Analphabet, der aber in seinem partiellen Arbeitsbereich höchst rational agiert. Wenn der Neoliberalismus an die Stelle der staatlichen Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft den Wettbewerb setzt und damit ökonomisch den Nationalstaat auflöst in eine ›Globalisierung‹, dann löst er theoretisch und praktisch alle sozialökonomischen Zusammenhänge auf in vereinzelte Menschen und ›Betriebe‹. Alles soll durch Wettbewerb gesteuert, dem Wettbewerb untergeordnet werden. Die EU-Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza nennen ausdrücklich alle denkbaren Politikbereiche, die wettbewerbskonform zu gestalten, zu ›deregulieren‹ seien. Dazu gehören auch – selbstredend – Bildung und Kultur, Schulen, Berufsschulen und Hochschulen. Die ›Bildungseinrichtungen‹ sollen in Wissensbetriebe auf einem Wissensmarkt zur Produktion von humanen Ressourcen für die Verwertung von Kapital umgeformt werden; kein Wert gilt hier mehr als der ökonomische. Die Schüler und Schülerinnen, die Studierenden, die Schulen und Hochschulen sollen in einen permanenten Wettbewerb gesetzt, ihre Leistungen sollen deshalb – wie in den PISA-Studien und in den Hochschul-›Rankings‹ – permanent getestet und verglichen werden. Der Zusammenhang von Bildung, vernunftgegründeten Sozialutopien und Humanität, ohnehin längst liquidiert, ist nun auch ideologisch verabschiedet. Im Jahre 1969 haben der Philosoph Theodor W. Adorno und der langjährige Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Hellmut Becker, über ›Erziehung zur Entbarbarisierung‹ diskutiert. Becker hat die Frage formuliert: »Wie bildet man Jugendliche dazu, dass sie diese Reflexionen auf humane Zwecke wirklich anwenden?« Man müsse, hat Becker als These vorgegeben, sich vom »Wettbewerb« als einem pädagogischen Prinzip verabschieden, um Bildung zur Humanität zu verwirklichen. Denn der Wettbewerb enthalte »in sich ein Element der Erziehung zur Barbarei«. Adorno hat dem nachdrücklich zugestimmt: »Ich bin völlig der Ansicht, dass der Wettbewerb ein im Grunde einer humanen Erziehung entgegengesetztes Prinzip ist.« Es käme darauf an, »sich nicht dumm machen zu lassen«, also nicht dem gesellschaftlichen Analphabetismus zu erliegen. Denn die Idee des Wettbewerbs setzt, wie Hayek ausdrücklich sagt, voraus, dass die Gesellschaft als Ganze undurchschaubar ist. Der im Wettbewerb erzogene Mensch lernt dadurch, gesellschaftliche Mechanismen als unerkennbar anzuerkennen und sich ihnen blind zu unterwerfen – er lernt, gesellschaftliche Krisen als individuelle Defizite zu begreifen. (...) So tritt in der totalen Wettbewerbsgesellschaft an die Stelle des Zusammenhangs von Bildung und Revolution der Zusammenhang von entfremdetem Wissen, ›konformistischer Revolte‹ und ersatzreligiösem Glauben an den ›Markt‹. Die Idee der Bildung ist nur zu bewahren, indem die Gründe ihrer Liquidierung reflektiert werden. Wer dem herrschenden gesellschaftlichen Analphabetismus die Bildung bloß entgegenstellt, wird zum bewusstlosen Lobredner vergangener Zeiten und zum hilflosen Ankläger der Gegenwart. * Gerhard Stapelfeldt ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Hamburg Der Aufsatz ist zuerst erschienen in: G. Stapelfeldt: »Der Aufbruch des konformistischen Geistes. Thesen zur Kritik der neoliberalen Universität«, Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2007, S. 59ff. Wir danken dem Autor für die freundliche Nachdruckgenehmigung. Außerdem sind von Gerhard Stapelfeldt erschienen:
Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/09 |