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Updated: 18.12.2012 15:51
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Finanzmarktkapitalismus: Gewerkschaften und Sozialdemokratie im schrecklichen Dilemma gefangen - oder auch eine Aufforderung an Europa das Sozialmodell im Kontext von Corporate Governance neu und umfassender zu begreifen

Ein paar Gedanken angeregt durch einen kleinen Aufsatz von John W. Cioffi und Martin Höpner über "Das Parteipolitische Paradox des Finanzmarktkapitalismus" ( in : PVS - Politische Vierteljahresschrift - ,September 2006, Heft 3,S.419 ff. ) - oder auch ein kleiner Überblick über die aktuelle Literatur ( siehe den Schluß ) zum Finanzmarktkapitalismus - einer aktuellen "Variation" des Kapitalismus mit Präferenzen im angelsächsischen Raum

Jeder Einstieg in ein Thema vollzieht sich sicher individuell verschieden. So wurde für mich sozusagen "wegweisend" das Working-Paper Nr. 65 von Marcel Tyrell / Reinhard H. Schmidt zu : "Pensions- und Finanzsysteme in Europa : Ein Vergleich unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität" aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Frankfurter Universität vom Febr. 2001.

In der Frankfurter Rundschau wurde damals von Mario Müller ein spezifischer Zusammenhang bei der Umstellung von dem System der umlagefinanzierten Rente auf ein kapitalgedecktes Verfahren - vor allem bekanntgeworden unter dem Namen "Riester"-Rente u.ä. - thematisiert. Und zwar wurde die Frage aufgeworfen , ob damit auch die weiteren deutschen sozialstaatlichen Institutionen wie gerade die Mitbestimmung in den Betrieben auf längere Sicht in Frage gestellt würden und quasi "automatisch" ein Anpassungsdruck in Richtung eines bis dahin vor allem in den USA ausgeprägten "Finanzmarktkapitalismus" sich weiter stärker entwickeln würde.

Dieses Problem wird unter dem Begriff der "institutionellen Komplementarität" auch in dem oben zitierten Aufsatz - dieses Mal von Sozialwissenschaftlern aufgeworfen. Dieser Blick wird dann erweitert durch einen relativ neuen Aufsatz von Jörg Huffschmid in den WSI-Mitteilungen 12/2006 - gerade mit den weiteren Hinweisen ! - der vor allem die weitere Deregulierungen des Kapitalmarktes unter der rot-grünen Regierung darstellt - eben bis hin zu der Zulassung von Hedgefonds durch den Bundesfinanzminister Eichel.

Wobei dieser Akt erst in der Folgezeit so langsam bezüglich seiner Auswirkungen ins öffentliche Bewußtsein rückte ( der Fall Grohe etc. ). Deshalb wäre es an der Zeit - angesichts der inzwischen vorliegenden Literatur ! - diesen Bereich weiter zu beackern - insbesondere auch was die "institutionelle Komplementarität" der Mitbestimmung zum Finanzmarktkapitalismus anbelangt. Höpner ist da ja wohl sehr skeptisch... (und die Praxis der Fa. Siemens ein Beleg für diese Skepsis - siehe AUB)

Das nun folgende könnte - gestützt auf obigen Aufsatz - auch fast ein Kommentar zur verlorenen Wahl der Sozialisten in Frankreich sein... oder wer die Freiheit des Kapitals erhöht, sollte auch lernen, deren Folgen angefangen von einer zunehmenden sozialen Unsicherheit (Beschäftigung) bis zu einer stärkeren sozialen Ungerechtigkeit (Verteilung) einer politischen Lösung zuzuführen.

Bemerkenswert ist,dass es manchmal Erkenntnisse gibt,vor denen man eigentlich zurückschreckt, schon weil sie einen nur noch traurig machen:
Falls es jemanden einmal gelüstet den Geheimnissen des Finanzmarktkapitalismus auf der Spur zu kommen, so darf prophezeit werden, dass bei der weiteren Aufklärung das linke politische Lager auf enorme Konzeptions- und Strategiedefizite stossen wird.

Gleichzeitig wird jedoch die Aufklärung über dieses immer offensichtlicher werdende Dilemma stärker zu einer Notwendigkeit - vielleicht schon um politisch überleben zu können und nicht weiterhin in dieser Konzeptionslosigkeit gefesselt zu bleiben und hilflos mit den sozialen Folgen zu leben.

Gerade an deutschen Konzernen treten auch die Defizite immer deutlicher hervor. So hat Siemens zwar auf dem Kapitalmarkt eine hervorragende "Performance", während dieser Konzern gleichzeitig immer stärker in einem Sumpf von Korruption und Missmanagement versinkt - auch in der Mitbestimmungsfrage (sprich AUB). Dennoch ist der ehemalige Aufsichtsratschef von Pierer, einer der Protagonisten der Ausrichtung von Siemens an den Kapitalmärkten noch wirtschaftspolitischer Berater der Bundeskanzlerin Merkel. Und an dem Nachfolger Cromme lässt sich eigentlich auch schon die ganze Widersprüchlichkeit - mitsamt den Defiziten - dieses kapitalmarktgetriebenen Kapitalismus ablesen. War er selbst einer, der als einer der ersten in Deutschland den "Coups" einer feindlichen Übernahme probierte, so war er nicht nur als Vorsitzender der Regierungskommission "Corporate Governance" ein nüchtern Bilanzierender, sondern bei Thyssen durch Stärkung der Thyssen-Stiftung im Aufsichtsrat einer der ersten, die Sicherungen gegen die Macht der Finanzmarktakteure einbauten.

Aber nicht nur bei den deutschen Unternehmen - die amerikanischen hatten das bei Enron und Worldcom schon vorher - bricht etwas auf, auch unsere Wirtschaftsjournalistik, die - z.B. wie die SZ in ihrem Wirtschaftsteil - einer strikte und dogmatischen Ausrichtung auf marktgetriebene Modelle verpflichtet war und in permanente Jubelschreie über das Ende der sog. "Deutschland AG" ausbrach, befleißigt sich langsam einer neuen Nachdenklichkeit - angesichts dieser offensichtlichen Schwächen. So schreibt z.B. die SZ im Leitkommentar des Wirtschaftsteiles vom 5.Mai 07: "Auch wenn manche von Beteiligungsfirmen oder Hedgefonds initiierte Übernahme sinnvoll ist, auch wenn es gute Argumente für die Aufspaltung ineffizienter Konglomerate gibt - so droht doch der Kauf und Verkauf von Firmen durch die Macht der Finanzinvestoren und Banken zum Selbstzweck zu werden."

Ja, und wie kam der "Finanzmarktkapitalismus" in die Welt - und damit die stärkere soziale Unsicherheit? Verstärkt und forciert gerade durch linke Regierungen (ja, vielleicht hatte Segolene Royal gerade wegen dieser "unausgegorenen" Erblast - noch von Jospin - keine Chancen?) - ob Deutschland, Frankreich, Italien oder auch die USA.

Bedauerlicherweise waren diese "Linken" wohl nur auf einem Auge sehend und konnten so nicht den Blick für die gesamten Konsequenzen - gerade in sozialer Hinsicht: zunehmende soziale Unsicherheit und völlig aus der Balance geratene Verteilungsgerechtigkeit! - dieser Finanzmarktreformen bekommen?

Irgendwie war für sie die kapitalmarktgetriebene Unternehmenskontrolle keine neue institutionelle Ausrichtung, die sozialpolitische Perspektiven nicht nur konterkarrierte, sondern langfristig nachhaltig zerstörte.

Mit dieser Einäugigkeit rutschten sie in ein schreckliches Dilemma in sozialer Perspektive - oder auch vor die Wand.

Oder wie Cioffi/Höpner das ausdrücken: Sie hatten nur den einen Teil, den um die Managerherrschaft, perzipiert - und die wollten sie einschränken. Dabei gibt es drei Konfliktebenen:

Erstens die, wo Manager und Beschäftigte gegen die Aktionäre stehen. (faktisch kaum gegeben - siehe zweitens wegen der Aktienoptionen)
Zweitens die, wo Manager und Aktionäre gegen die Beschäftigten stehen (hier sind insbesondere die Aktienoptionen als Mittel zu sehen, das Management an die kurzfristigen Interessen der Aktionäre zu binden. Allein fixiert auf den Börsenkurs werden die langfristigen Unternehmensperspektiven - ganz anders als bei der "Manager-Herrschaft" - vernachlässigt und es kommt zu jenem "Drehtüren-Management", das sich dem "Ex und Hop" der Finanzinvestoren anpasst - auch hierfür wird Kleinfeld von Siemens einen Anfang markieren.)
Und drittens die, wo Aktionäre und Beschäftigte gegen die Manager koalieren. (irgendwie ist die Dimension, dass die Beschäftigten über eine kapitalgedeckte Rentenversicherung (Riesterrente & Co.) in die Doppelrolle als einerseits "renditesüchtige" Aktionäre und andererseits sozial verunsicherte Beschäftigte gezwungen werden, dabei noch nicht ganz klar - siehe Schimank)

Der Renditedruck auf die Unternehmen hat jedenfalls bisher schon eine sichtbare Konsequenz, dass sich die Verteilungsrelationen zu Lasten des Faktors Arbeit nachhaltig verschlechtert haben und weiter verschlechtern.

Es mag daneben noch eine offene Frage sein, ob die Mitbestimmung in "institutioneller Komplementarität" nur Chancen hat in einem System der "Managerherrschaft" (Deutschland AG). Eine Fragestellung, der die Gewerkschaften bisher schon ziemlich systematisch ausweichen.

In der Konsequenz könnte das traditionelle linke Spektrum in seiner undifferenzierten Blauäugigkeit für die Durchsetzung des Finanzmarktkapitalismus - ohne auch sauber die Konsequenzen zu wägen, längerfristig nachhaltig beschädigt werden (immer weitere Mitglieder- und Wählerverluste).

Besonders absurd war in diesem Zusammenhang die von dem jetzigen sozialdemokratischen Arbeitsminister Müntefering losgetretene "Heuschrecken-Debatte" - die wie der Lateiner sagt "venire contra factum proprium", aber vielleicht besser als die nüchterne Feststellung des Anredens gegen die eigenen Taten könnte die Benennung mit der Methode "Haltet den Dieb" sein - ausgerufen von dem Dieb selbst, um von sich abzulenken. Nur eine dauerhafte Strategie kann das nicht werden, weil irgendwann merken die Leute doch, wer jetzt eigentlich der "Dieb" war.

In diesem Dilemma sitzen die Sozialdemokraten - und mit ihnen meist die Gewerkschaften - gefangen und bevor sie dieses Dilemma nicht mit einer nachhaltigen sozialen Perspektive (erweitertes Sozialmodell Europa) aufzulösen vermögen, wird voraussichtlich ihr politischer Absturz - auch weiterhin - nicht aufzuhalten sein.

Dazu müssen sie aber lernen "Corperate Governance" mit der politischen Gestaltung wieder zusammen zu sehen - und nicht wie bisher die Sozialpolitik verbal hochhalten, um auf der anderen Seite mit Finanzmarktreformen die Deregulierung der Finanzmärkte immer ungebremster voranzutreiben (ohne Not hatte die rot-grüne Bundesregierung 2003 auch noch den Hedge-Fonds grünes Licht für Deutschland gegeben!)

Volker Bahl im Mai 2007

Als grundlegende Literatur :

  • Paul Windolf (Hrsg.) "Finanzmarktkapitalismus" / Wiesbaden 2005
  • sowie eine gute Zusammenfassung und politische Besichtigung der beiden Protagonisten dieses Bandes Windolf und Deutschmann in "Leviathan", Heft 1/2007,S. 47 ff. von Uwe Schimank, "Die Anlagefonds und der Mittelstand",
  • weiter: Jörg Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, Hamburg 2002
    sowie ergänzend ders. in: WSI-Mitteilungen 12/2006
  • weiterführend das ökonomische Werk "The German Financial System" edited by
    (den Frankfurter Ökonomen) Jan P. Krahnen and Reinhard H. Schmidt (Oxford University Press)
  • sowie gerade zu dem auch von Höpner skeptisch beurteilten Gesichtspunkt der "institutionellen Komplementarität" z.B. der deutschen Mitbestimmung, das schon erwähnte Working-Paper Nr. 65 aus diesem Frankfurter Finanzwissenschaftlichen Fachbereich vom Febr. 2001 von Reinhard H. Schmidt und Marcell Tyrell "Pensions- und Finanzsysteme in Europa : "Ein Vergleich unter dem Gesichtspunkt der Komplementarität"

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