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Updated: 18.12.2012 15:51
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Naomi Klein deckt die "Meister-Erzählung" und die Gewalt des Neoliberalismus auf. Doch "Die Schock-Strategie" missfällt besonders deutschen Medienmännern.

Rezension der Rezensionen von Brigitta Huhnke vom 21.10.2007

Die Miniaturen aus dem Elend verstören besonders. So lernte Naomi Klein 2005, ein halbes Jahr nach dem Tsunami, an der srilankischen Südküste "eine junge Mutter namens Renuka kennen, bezaubernd schön sogar noch in Lumpen und eine von denen, die auf Varleys Aufzug warteten. Ihr jüngstes Kind, ein Mädchen, war sechs Monate alt, zur Welt gekommen zwei Tage nach dem Tsunami. In einem fast übermenschlichen Kraftakt hatte die im neunten Monat schwangere Renuka damals ihre beiden kleinen Söhne geschnappt und war mit ihnen vor der Welle davongerannt, gegen das Wasser ankämpfend, das ihr bis zum Hals stand. Doch nachdem sie diese heroische Leistung vollbracht und überlebt hatte, fand sie sich mit ihrer Familie auf einem verdörrten Stück Land im Nirgendwo wieder, still vor sich hin hungernd."
Das Bild vom "Aufzug" geht auf John Varley zurück, der 2005 als Direktor der "Behörde der Vereinigten Staaten für internationale Entwicklung" (USAID) in Sri Lanka für ein sogenanntes "Wettbewerbs-Programm" verantwortlich zeichnete. In einem Gespräch mit Klein beschrieb er das Ziel des Wiederaufbaus so: Nicht nur die Opfer sollten von Hilfsgeldern profitieren sondern das ganze Land. Das sei wie mit einem Fahrstuhl in einem Wolkenkratzer. Dieser nehme bei der ersten Fahrt eine Gruppe von Fahrgästen mit und befördere sie nach ganz oben. Die würden dort Wohlstand schaffen. Dann könne der Aufzug auch wieder herunterfahren und mehr Menschen holen. "Die im Erdgeschoss wartenden Menschen sollen wissen, dass der Aufzug wiederkommen und auch sie nach oben bringen wird - irgendwann." Naomi Klein nennt das den "zweiten Tsunami". Der erste, die Naturkatastrophe, verhalf der "Schock-Strategie" marktradikaler Ökonomen endlich zum schon fast aufgegebenen Durchbruch in Sri Lanka: 35 000 Menschen waren Ende Dezember 2004 ums Leben gekommen, 1 Millionen durch die Zerstörung obdachlos, hilflos und verwirrt ins Landesinnere geflohen.

Nun konnte sich die Gier der Manager in der Luxusindustrie dort voll ausleben, denn mit den schönsten exotischen Stränden Sri Lankas lassen sich noch traumhafte Profitraten erzielen. Zwischen 2001 und 2005 haben sich die Gewinne der weltweit agierenden Luxushotelketten um 70 Prozent erhöht. Doch was fehlte, waren neue Resorts für die Superreichen. So waren die Malediven schon vor Jahren weitgehend ausgepresst. Klein beschreibt, welche verheerenden Folgen der Tourismus der letzten 20 Jahre bereits für diese Inselgruppe hatte, wie dort BewohnerInnen systematisch mit staatlicher Gewalt von ihren Inseln vertrieben und auf anderen, noch kargeren angesiedelt worden sind und dort viele von ihnen unter dem Existenzminimum vegetieren. Bali ist ebenfalls schon lange keine Adresse mehr für teuren Exotismus, zu viele Ballermänner aus Australien, Westeuropa und den USA haben die Insel bereits verschandelt. Auch die Karibik bietet kaum noch Distinktion. Mit zunehmender Zahl von Schnäppchen-Kreuzfahrern, deren Fäkalien die Strände überschwemmen und die Korallenwelt dezimieren, wie beispielsweise im Gebiet der Jungfraueninseln, ist auch dort die Exklusivität ziemlich dahin. Andererseits boomt der Markt und Luxuskonsumenten zahlen besonders gern, wenn sie dafür unter sich sind. Und sie wollen das mittlerweile pur: Palmen, blaues Meer, Korallen, keine pittoresken Einheimischen, keinen Ethno - Kitsch sondern auch drum herum nur Luxusdesign.

Die Küste von Sri Lanka war schon lange im Visier ausländischer Konzerne. Doch typische Hindernisse hatten sich nicht so einfach wie auf den Malediven überwinden lassen. Im unheiligen Pakt mit der Waffenindustrie hatte die Regierung zwar das Land in den neunziger Jahren in hohe Verschuldung getrieben und somit in die Abhängigkeit von IWF, und Weltbank, deren Geschäftsführender Direktor von 2000 bis 2004 übrigens Horst Köhler war. In Form des 2003 von der Weltbank abgesegneten "Regaining Sri Lanka" kam dann auch die übliche "Hilfe". Als kleine Gegenleistung sollte die Regierung lediglich das Land für private Investoren öffnen, verbrämt als "Public Private Partnership". Die Bevölkerung aber wollte dabei nicht so recht mitmachen, sah der Plan nämlich auch vor, Millionen von Menschen, Fischer- und Bauernfamilien aus Küstenzonen einfach umzusiedeln. Außerdem waren noch 80 Prozent des Landes in staatlichem Besitz und das Arbeitsrecht einfach noch nicht "flexibel" genug. Die Bevölkerung wehrte sich, mit Streiks, Massenprotesten und Straßenblockaden, 2004 schließlich auch erfolgreich an den Wahlurnen. Die durch Koalition mit der Linken wieder gestärkte Regierung unter Chandraka Kumaratunga versprach deshalb, das Konzept der Privatisierung nicht umzusetzen. Doch dann wütete der Tsunami und die Schock-Strategen hatten plötzlich bessere Bedingungen als sie sich je zu erträumen gewagt hatten.

Die Präsidentin habe über Nacht "so etwas wie ein religiöses Erweckungserlebnis" ereilt, dabei habe sie "das Licht der freien Marktwirtschaft" gesehen, schreibt Klein. Dann ging alles ganz schnell: vier Tage nach dem Tsunami peitschte die Präsidentin Gesetze zur Privatisierung des Wassers durch das Parlament, wenig später öffnete sie den Strommarkt für private Anbieter. Weite Teile der Strände wurden zur sogenannten Pufferzone erklärt, den ursprünglichen BewohnerInnen die Rückkehr verwehrt. Überlebende fanden sich in Notunterkünften wieder, monatelang eingesperrt, bewacht von Polizei und Militär. Die Menschen standen unter Schock, viele hatten alles verloren, hatten keine Kraft mehr, sich gerade in dieser höchsten Not weiter politisch zu wehren. Im Sinne des "Aufzugs" von Varley wurden nun die sogenannten Hilfsgelder verteilt. So bekam der US- Technik- und Baukonzern CH2M Hill, zu der Zeit schon im Irak mit 28,5 Millionen Dollar "Hilfe" aktiv, für Sri Lanka eine Finanzspritze von insgesamt 48 Millionen Dollar. Dafür sollte der Konzern die baulichen Voraussetzungen für eine industrielle Fischereiflotte schaffen. Die Fischer waren ja vertrieben. Das ist gut für die Luxusgäste, die nun am Strand kein Fischgeruch mehr belästigen soll. Und das ist gut für die Konzerne der Fischindustrie, die hier ebenfalls künftig traumhafte Fangquoten erzielen können. Auch die junge Mutter Renuka durfte nicht mehr zurück, bis heute warten sie und ihre Kinder in ihren Lumpen auf den "Aufzug", drei Kilometer vom Meer entfernt. Doch hat eine NGO die junge Frau mit einer Spende bedacht, mit einem Kanu, "kaum mehr als eine grausige Erinnerung an das frühere Leben", kommentiert Klein. Mitte 2005 zerbrach allerdings die Regierung, nicht zuletzt auch wegen dieses Ausverkaufs.

Die Schriftstellerin Arundhati Roy, die im Nachbarland Indien lebt und ihre Prominenz dazu nutzt, die weltweite Zerstörung durch den Terror des Neoliberalismus gerade auch auf dem indischen Subkontinent anzuprangern, schreibt über die "Schock-Strategie" von Naomi Klein: "Es zeigt nicht weniger als die verborgene Geschichte dessen, was wir ,freien Markt' nennen", das Gegenmodell zur ,sozialen Marktwirtschaft' und demokratischen Verfassungen, die auf den Menschenrechten beruhen".

Ausführlich analysiert Klein die auf den Marktfundamentalisten Milton Friedmann zurückgehende ökonomische "Schock-Strategie", der Erfahrungen von Folterstrategien der CIA ebenso zugrunde liegen wie die ebenfalls von der CIA finanzierten Experimente mit Elektroschocks. Sie zeigt, wie Friedman und seine Jünger, die Chicago Boys, alle US-Regierungen und weltweit nahezu alle Diktatoren der letzten 30 Jahre dahingehend "beraten" haben, wie sie unter Ausnutzung von Folter, Krieg oder dem Schock einer Katastrophe radikale Privatisierungen durchsetzen konnten und können. Chile war ab 1973 das Labor für den ersten neoliberalen Satellitenstaat, errichtet mit Terror und Gewalt, ohne dass irgendwelche demokratischen Spielregeln oder Menschenrechte hätten beachtet werden müssen. Pinochet gab Friedman viele persönliche Audienzen. Diese Komplizenschaft mit dem Terror in Chile und 1976 auch in Argentinien zahlte sich für Friedman schon bald aus: 1976 bekam er den Nobelpreis für Wirtschaft.

Vorläufiger Höhepunkt ist ohne Zweifel das Operationsfeld Irak, für Klein bis dato der "Hyperschock". Klein, die unter anderem auch im Irak recherchiert hat, nimmt der Leserin in diesem Kapitel die allerletzten Illusion: Der Irak Krieg ist ganz und gar nicht das Werk eines verrückten George W. Bush, sondern Folge höchst rationaler Entscheidungen. Ganz egal, wie er und die seinen auch versucht haben die Weltbevölkerung zu belügen und aufzuhetzen, ob mit dem Konzept vom Vorhandensein angeblicher Massenvernichtungswaffen, mit der Paranoia "Achse des Bösen" oder mit dem evangelikalen Gewaltplan vom "Krieg gegen den Terror". Ziel war und ist: nach der gezielten Zerstörung des Iraks, Menschen, Boden und Rohstoffe von privaten, überwiegend US- Konzernen ausbeuten zu lassen. Und genau das geschieht auch seit 2003. Klein beschreibt den terroristischen Krieg, die Säuberungen und die Folter, aber auch konkret die Gier einfallender US-Konzerne, die in den "grünen Zonen" bereits völlig freie Hand haben. Erschreckend sind auch die personellen Kontinuitäten, die sie der Leserin vor Augen führt. Einige der Hauptverantwortlichen hatten sich bereits beim Militärputsch in Argentinien 1976 erste Meriten erworben. So gehörten der Regierung unter Gerald Ford, die mit Kräften den Militärputsch in Argentinien befördert hatte, damals schon an: Dick Cheney als Stabschef, Donald Rumsfeld als Verteidigungsminister und Paul Bremer als Assistent Henry Kissingers. "Diese Männer mussten sich nie vor einer Wahrheitskommission oder einem Gericht für ihre Rolle bei der Unterstützung der Militärjunta verantworten", stellt Klein fest. Vielmehr haben sie 30 Jahre später im Irak "ein verblüffend ähnliches - wenn auch weitaus gewalttätigeres - Experiment starten" können. Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Teilprivatisierung des Krieges durch den Einsatz privater Söldner, mittlerweile sollen es 180 000 sein. Paul Bremer, erster US-Gouverneur, der mit dem Angriffskrieg in den Irak gekommen war, erließ 2003 die sogenannte "Order 17", einen Freifahrtschein für Angehörige der US Armee und privater Militärfirmen, die damit nicht der irakischen Gerichtsbarkeit unterworfen sind. So müssen auch die Mordgesellen von Blackwater, die am 16. September 2007 in Bagdad ein Blutbad angerichtet haben, keine Gerichte fürchten, auch nicht in den USA. Menschenrechte sind im Irak vollständig außer Kraft gesetzt. Und bis heute verdienen die Herren Cheney und Rumsfeld prächtig an Not und am Elend auch dieses Krieges, was Klein ebenfalls akribisch dokumentiert.

Bisweilen wird die Lektüre über diese geballten Verbrechen unerträglich, auch weil die Leserin realisiert, wie eine Weltöffentlichkeit, besonders die im Westen, mehr oder minder tatenlos zuschaut. In einem im Sommer in The Nation (USA) erschienenen Artikel zeigt Klein zudem, wie die Invasion des Irak einen weltweiten Ölboom ausgelöst hat, auch in Kanada[1], wo die Autorin lebt. Der US-Historiker Howard Zinn bescheinigt Naomi Klein einen "grausamen Kapitalismus", zu dokumentieren, "der sich selbst ,freier Markt' nenne, um alles zu privatisieren, um einigen große Profite und anderen Elend zu bringen. Um ein solches System abzusichern, wird es notwendig, die Freiheit einzuengen, die Menschenrechte zu verletzten. Die Folterkammern für einige können dann das Foltern einer größeren Gesellschaft nach sich ziehen".

Mittlerweile hat die Schock-Strategie auch im Heimatland des "Monsters"(Klein) Milton Friedman ideale Laborbedingungen gefunden, dank Kathrina 2005. Dieses mittelschwere Unwetter hätte in Hamburg vielleicht Keller am Hafen vollaufen lassen, allerdings wären auch und hier und da die durch Umweltschäden kranken Baumbestände wahrscheinlich stark dezimiert worden, wie dies vor einigen Jahren punktuell sogar der Fall war. Doch in New Orleans waren die morschen Deiche und Dämme dem Unwetter nicht gewachsen, waren jahrzehntelang einfach nicht gewartet worden. Im ausgehöhlten Staat ist dafür kein Geld da. Ebenso heruntergekommen, besonders in den Südstaaten der USA, sind auch die Küstenbefestigungen anderer Städte, genauso marode wie viele Brücken und Straßen, wie auch das staatliche Bildungssystem, das Gesundheitswesen und das Rentensystem des ganzen Landes. Wir erinnern noch die Elendsbilder aus New Orleans, die überwiegend schwarze Bevölkerung, die tagelang sich selbst in den Fluten überlassen war, im "Land der Freiheit und Demokratie". Diese rassistische Dimension empörte Menschen in aller Welt.

Doch kaum hatten sich in New Orleans die afrikanischen Amerikaner aus den schmutzigen Fluten gerettet, traf sie die "Schock-Strategie" des Katastrophenkapitalismus. Im Wall Street Journal durfte Friedmann umgehend zynisch frohlocken: Die Schulen lägen zwar wie die Häuser der Kinder in Trümmern. "Diese Kinder sind jetzt über das ganze Land verstreut. Das ist eine Tragödie. Es ist aber auch eine Gelegenheit, das Bildungssystem radikal zu reformieren." Rechte "Denkfabriken" und die Regierung schritten zur Tat: Von 123 öffentlichen Schulen existieren 2007 insgesamt nur noch vier, ein Großteil der übrigen wurden zu sogenannten "Charter" Schulen unter privater Regie umgewandelt, 4700 LehrerInnen wurden gefeuert. So war die Stadt "das bekannteste Labor des Landes" (New York Times) für die Privatisierung des Schulsystems geworden. Das größte öffentliche Krankenhaus, das Charity Hotel, ist bis heute geschlossen. Während die Weltöffentlichkeit noch fassungslos zuschaute, wie die obdachlos gewordenen Menschen in großen Hallen apathisch am Boden kauerten, bewacht von Polizei und privatem, ebenfalls mit Waffen ausgerüstetem Sicherheitspersonal, verkündete der Republikaner Richard Baker: "Endlich ist New Orleans von den Sozialwohnungen gesäubert. Wir konnten das nicht tun, aber Gott hat es getan." Und auch der reichste Bauunternehmer der Stadt freute sich über den "schönen reinen Tisch".

"Sie zeichnet ein beunruhigendes Bild der Hybris", stellt Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften in seiner Rezension der "Schock Strategie" für die New York Times fest. Doch gerade deshalb dürfte s. E. die Autorin Naomi Klein damit "die Meister- Erzählung unserer Zeit aufgedeckt haben" (New York Times 30.09.07). Ein ähnliches Urteil fällt auch ein anderer promovierter Ökonom, der Schweizer Res Strehle, Autor mehrerer Bücher, Universitätsdozent und stellvertretender Chefredakteur des Tages-Anzeiger. In seinem Artikel "Der Terror des Katastrophen-Kapitalismus: Das neue große Buch von Naomi Klein" kommt er zu dem Schluss: "Ein spektakuläres Buch [...] genügend Stoff für inhaltliche Auseinandersetzung [...] Naomi Klein hat fünf Jahre an ihrem Buch gearbeitet, das einst als bloße Analyse des Irak-Krieges angelegt war. Während der Recherche unterstützte sie ein international zusammengesetztes Team an verschiedenen Brennpunkten ihrer Untersuchung (eine andere ,globale Verschwörung', wie sie in der Danksagung selbstironisch vermerkt). Die Untersuchung wurde zeitlich und geografisch ausgeweitet, bis schließlich eine Art von Weltgeschichte der Jahrtausendwende vorlag." (Tages-Anzeiger 12.09.07).
Im Standard in Österreich, "Versuch über den Katastrophenbedarf" (Standard 15.09.07), zeigt der österreichische Hochschullehrer und Publizist Bert Rebhandl ebenfalls, wie eine sachliche Rezension im deutschsprachigen Raum aussehen könnte, die auf gründlicher Textkenntnis basiert und die sachliche Darstellung bevorzugt. Seine Einschätzung gerät dann ähnlich wie die vieler anderer Intellektueller weltweit, die sich mit den brutalen Folgen der sogenannten "Globalisierung" (bereits der Begriff ist von neoliberalen Think Tanks geprägt worden) im Stadium des Katastrophenkapitalismus seit langem beschäftigen und dennoch Hoffnungen haben: "Die Graswurzelrevolution bleibt auch im Zeitalter der Folterökonomie und des katastrophenkapitalistischen Komplexes die einzige Strategie, die es erlaubt, sich den Schockwirkungen des Wirtschaftslebens zu entziehen."

Auf gänzlich anderem Niveau wurde bisher die "Schock-Strategie" in der Bundesrepublik verhandelt bzw. genauer: die Autorin wurde schlicht mit Unflat beworfen. Weder in der politischen Presse beispielsweise der USA, noch in kanadischen oder englischen Medien, in italienischen, oder auch griechischen, ist die Autorin Naomi Klein mit ihrer 763 Seiten starken Untersuchung zur "Schock-Strategie" derart diffamiert worden, wie bisher in diesem Land. Das verwundert nicht: Zum einen brechen sich in keinem anderen westeuropäischen Mediensystem sexistische Wahrnehmungsweisen so ungehindert Bahn, wie dies seit Jahrzehnten in bundesdeutschen Printmedien der politischen Presse Tradition hat. Insbesondere gebildete, gesellschaftskritische Frauen ziehen sexistische Aggressionen hier traditionell auf sich. Zu den besonders häufigen Strategien gehören: Entwertung, plumpe Anreden, Anspielungen auf den Körper der jeweiligen Frau, Kampfbegriffe, Verleumdung und patriarchale Belehrung [2], deren z. T. paranoide Dimensionen besonders erschrecken. Zum anderen ist die bundesdeutsche Presse mittlerweile dermaßen gleichgeschaltet - und zwar von innen heraus und nicht durch staatliche Zensur-, wie dies ebenfalls in keinem anderen westlichen Land der Fall zu sein scheint, nicht einmal in den USA, aber auch nicht in Nachbarländern wie Österreich oder Frankreich. Neoliberale Mantren gelten in diesem Land schlicht als Richtschnur und "Wahrheit" und solche gegen Frauen allemal.

Den größten Bock, die "Schock-Strategie" betreffend schoss bisher der Eifrigste ab: der Zeit-Redakteur Thomas Fischermann. Der durfte bereits am 10. September zulangen, mit Interview und Bericht. Plump-vertraulich schon die Überschrift: "Neues von Naomi". Auf die Alliteration folgt das Klischee, das bereits 2001 abgegriffene Schlagwort: Sie sei "die Ikone der Globalisierungskritiker", etwas weiter unten legt er nach, mit "die heilige Johanna der Schlachtrufe" und noch etwas später mutiert sie dann zur "Fahnenfrau". Ganz forsch wird er gleich in der Eingangsfrage des Interviews: "Haben Sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank?" Der Economist habe geschrieben, sie sei eine "eine nörgelnde Heranwachsende", "aber Miss Klein habe keine Lösungen". Von der eigenen Schmierigkeit entzückt wiederholt er sich im Bericht noch einmal: "Die unhöfliche Eingangsfrage jedenfalls prallt an dieser Wand aus froher, sanfter Beharrlichkeit einfach ab. ,Bestimmt werden viele Leute gerne behaupten, dass ich durchgedreht bin', sagt sie, ,ich bin da für alles offen.' Man wird ein wenig unsicher, wenn man neben Naomi Klein sitzt." Auch seinen Futterneid kann Herr Fischermann nicht bremsen:"Klein lebt seither gut von ihren Tantiemen, ihren Auftritten und den Kolumnen im englischen Guardian und im amerikanischen Magazin The Nation. Naomi Klein - sie leugnet das nicht - ist eine Globalisierungsgewinnerin." (Die Zeit 10.09.07) Interview und Bericht geben keinerlei Hinweise auf genauere Textlektüre.

Auch im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vermengt sich patriarchaler Mief mit Mantren über den "freien Markt" und vor allem mit Besserwisserei:
"Erst der Schock und dann das Heil"(SZ 10.9.07), weiß der Verfasser Robert Jacobi. Dafür sollten wir uns im kurzen Exkurs die "Denk"- Tradition der globalen Jagdgemeinschaften gegen "die politische Korrektheit", in deutscher Spezialität auch das Halali auf das "Gutmenschentum", in Erinnerung rufen. Ende 1990 hatten US- Neokonservative diese erste große Hassrede des Neoliberalismus nach 1989 erschaffen, gegen alle Feinde des westlichen Patriarchats, gegen Feministinnen und PazifistInnen, gegen Rechte von Minderheiten [3], gegen poststrukturalistische Sichtweisen in den Geistes- und Sozialwissenschaften, gegen alle kulturelle Avantgarde. Die erste berüchtigte Schablone dazu lieferte Richard Bernstein am 27. Oktober 1990 im New York Times Magazine: "The Rising Hegemony of the Politically Correct". Mit diesem Pamphlet, das ohne jegliche empirische Belege auskommt, auf reiner Projektion basierend, wurde ein gigantisches inter-media-agenda setting in westlichen Medien losgetreten, unterstützt von einschlägigen "Studien" rechter Think Tanks [4]. In der Süddeutschen Zeitung durfte am 3. November 1991 Christine Brink im Feuilletonaufmacher erstmals dazu im Blatt die Kundschaft mit Hyponymen von PC, dem Kanon der neuen Schreckensmetaphorik, vertraut machen: "Muli-kultureller Joghurt. In amerikanischen Universitäten greift ein neuer Sprach-Terror um sich." Das ganze Stück, wie auch alle weiteren in anderen einschlägigen Gazetten wie FAZ, Der Spiegel, Die Zeit und bald auch in der in diesen Jahren zunehmend sexistischen taz [5] sowie später im bunten Blatt Focus, besteht in den ersten Monaten aus zusammengeschriebenen Gerüchten aus den USA. Die ersten "pc" Erzählungen haben anfangs immer weiße Männer als Opfer-Helden. Im Laufe der neunziger Jahre werden auch diejenigen als "politisch korrekt" denunziert, die historische Errungenschaften wie den Sozialstaat oder Menschenrechte von Flüchtlingen schützen wollen oder sich gegen neoliberale Zerstörung des Gesellschaftlichen einsetzen sowie keinesfalls vom "Ende der Geschichte" überzeugt sind. [6] Die "Macht" dieser Geschichten liegt zum einen in ihren Mustern der Inszenierung; sie enthalten selten Konkretes, keine klaren Aussagen, dafür umso mehr Anspielungen, die fast immer ohne genaue Orts-, Raum- oder Personenbezeichnungen auskommen. In der Regel ist zum anderen der Rechercheinhalt solcher Medienprodukte gleich Null, deren Verfasser nennen keine Argumente, keine Zahlen, keine Fakten. Das "Wahrwerden" und "Wirken" dieser Konstrukte generiert sich allein über das Prinzip der "dämonischen Wiederholung" (Homi Bhabha) in Medien und Politik. In bundesdeutschen Medien müssen "politische Korrektheit" oder "Gutmensch" mittlerweile noch nicht einmal mehr unbedingt als solche benannt werden, so wirkmächtig haben sich bereits die dazugehörigen Irrationalismen und dementsprechende Assoziationsfragmente sowie die dazu gehörenden emotionalen Rückstände im Milieu etabliert. Auf diesem Hintergrund erklärt sich auch die Wirkmächtigkeit neoliberaler Mantren zum "freien Markt". Solche, die den Sozialstaat, das frühere Glücksversprechen gegen den real existierenden Kommunismus, verteidigen, sind "Ewiggestrige", oder "Traditionalisten", die in den siebziger Jahren einfach stecken geblieben sind.

In genau dieser Tradition stehend fabuliert auch der SZ-"Diplom-Journalist" Robert Jacobi. Klein, "die Lara Croft der Antiglobalisierungsbewegung", "überschwemmt" die Buchläden: "Dick und schwer, stützt es sich auf eine Verschwörungstheorie - sonst nichts".
Eigentlich wäre damit alles gesagt. Doch er schreibt weiter, ebenfalls ohne tiefere Textkenntnis, dafür aber lässt er uns an seiner Paranoia teilhaben:
"In einer bizarren Fügung des Zufalls erscheint dieses Buch zwei Tage, nachdem Osama Bin Laden an die Menschen auf dieser Erde appellierte, sich des ,kapitalistischen Systems' zu entledigen, ,so wie ihr euch zuvor aus der Sklaverei der Mönche, Könige und Feudalherren befreit habt'.
Nun wäre es absurd, einen Zusammenhang zwischen der kindlichen Trotzigkeit der Naomi Klein und dem tödlichen Zynismus des Osama bin Laden herzustellen. Dennoch - der Duktus ähnelt sich, wenn Klein vom "Kreuzzug zur weltweiten Befreiung der Märkte" und von einem brutalen ,Kampf für die Verbreitung eines puristischen Kapitalismus' schreibt, den ,prokorporatistische Regime' führten
."

Kleins Buch, sei "Nur für Bekehrte". Dann kommt er irgendwie auf Karl Popper, vorher auf Adam Smith, um mit denen festzustellen, es gebe "Vertreter pseudowissenschaftlicher Theorien". Als "Diplom-Politologe" wäre ihm das vielleicht nicht passiert. Doch so kann er noch einen drauf setzen:
"Naomi Kleins Buch ist jetzt schon Geschichte, ein Wiedergänger des Denkens, das die marktwirtschaftliche Lehre in ihrer übersteigerten Form als Pseudowissenschaft zu entlarven half, es aber selbst nicht über die Pseudowissenschaft hinausschaffte. In den Industrieländern breitet sich hingegen die Erkenntnis aus, dass nicht jede Privatisierung einen Fortschritt bedeutet und ein Sozialstaat zwar teuer ist, aber ganz andere, viel dramatischere Kosten verhindern kann."

Zunächst: Der "Wiedergänger", den kennen wir! Aus "Hitlers Widergänger" (Der Spiegel, 4.2.1991) von Hans Magnus Enzensberger, der die Gleichung "Saddam=Hitler" von George Bush I übernommen, aber als seine Schöpfung ausgegeben hat. Wird in diesem Fall nun ein Buch zum "Wiedergänger"? Oder soll sich hier in der geistigen Wirre die Assoziationskette: Wiedergänger, Saddam, Hitler, Osama Bin Laden, Klein generieren?
Wo genau, fragen wir uns dann ebenso staunend, breitet sich die "Erkenntnis" aus? In der US-Regierung, der politischen Hauptakteurin der von Klein beschriebenen "Schock-Strategie"? Dumme Frage, patriarchale Paranoia lebt vom Vagen, vom mal so Hingeworfenen. Klein, so befindet Jacobi schließlich, zeige keinen Ausweg, helfe, "wenn überhaupt, nur sich selbst". Hier wieder die Anspielung auf monetäre Motive, deren Muster wir aus den ganz dunklen Zeiten kennen.

Ein Meisterjäger der "politischen Korrektheit" und der "Gutmenschen" im politischen Raum ist Guido Westerwelle. Da wildert er seit vielen Jahren. Am 14.09. durfte er in der Welt loslegen: "Plump wie Oskar - Naomi Kleins neues Buch". Unter anderem wirft er der Autorin und deren These, die er "Muster" nennt, folgendes vor:
"Dass es vorgibt, alles zu erklären. Derlei leisten nur Gedankengebäude, die hermetisch daherkommen, die Widersprüche aufsaugen und als Bestätigung der eigenen These begreifen: Widerrede ist Ketzerei. Kommunismus und Psychoanalyse funktionieren so, der globale Anti-Globalisierungsfeldzug auch."

Das ist schon toll, wenn auch nicht eben neu, wurde die Psychoanalyse doch bereits von den Nazis mit Kommunismus und Judentum gleichgesetzt. Die Psychoanalyse gehört schon lange auch zu den Feindbildern aller Glaubensbrüder, die sich von "Gutmenschen" umstellt fühlen. Das wiederum ist ebenfalls kein Wunder, kann doch nur die Psychoanalyse genauer erklären, wie pathologische, narzisstische Störungen mittlerweile auch die Leitlinien der Politik bestimmen, damit auf kollektive Befindlichkeiten zu treffen scheinen. Noch einmal Westerwelle im O-Ton:
"Naomi Klein handelt nach der Devise: Besser irgendeine These als gar keine. Sie hält eine Welterklärung bereit, eine Version vom ,Ende der Geschichte'. Scheinbar fügt sich jedes Land und jede Umbruchsituation in ihr Muster.
Dies ist kein kluges Buch, sondern ein banales und, jenseits der vielen Zahlen, ein sehr simples. Beifall wird es bekommen. Oskar Lafontaine beispielsweise könnte es lesen und sich hernach ereifern: Da sehe man doch, da könne man es doch schwarz auf weiß lesen, wie dringlich er sei, der ,Sozialismus des 21. Jahrhunderts', den er zusammen mit Fidel Castro und Hugo Chavez errichten will.
" (Welt 14.09.07)

Hier haben wir also die Assoziationskette: Lafontaine, Chavez, Castro, Klein. Und was für ein Panoptikum schiefer Metaphern (da kommen Gedankengebäude daher, die dann was aufsaugen, nämlich Widersprüche)! Auf seiner albernen Webside imaginiert Westerwelle die Autorin dann sogar noch als Amazone: "Naomi Klein galoppiert durch die Welt. Ihr Pferd heißt Vorurteil."

Einer geht noch - für diese erste Runde der Berichterstattung. In der FAZ durfte Andreas Platthaus ran:"Zuerst kommt die Katastrophe, dann kommt der Kapitalismus - Foltern à la Milton Friedman: Naomi Kleins ,Schock-Strategie' verdammt den Neoliberalismus". (FAZ 17.09.07)
Vor dem Autor einer Biographie über Alfred Herrhausen, dem er als "Revolutionsführer" huldigt, wird eine Frau, die weltweit in den Krisengebieten recherchiert, die analysiert und ihre Erkenntnisse über Jahre hinweg mit den international wichtigsten KritikerInnen des Neoliberalismus diskutiert hat, natürlich niemals bestehen können. Für den Qualitätsnachweis konzentrieren wir uns hier auf die Neidphantasien dieses Schlaumeiers: So echauffiert sich Herr Platthaus gleich im Einstieg zynisch über Kleins Schilderung eines Autounfall, den sie 2005, kurz nach dem Unwetter in New Orleans hatte. An einer Stelle beschreibt Klein ihre Angst, die sie im Krankenwagen hat, der sie gegen ihren Willen in ein privates Krankenhaus bringt. Nun, wohin sonst sollte die Verletzte gebracht werden, wenn das staatliche Krankenhaus damals restlos überfüllt, dann vernagelt wurde und bis heute geschlossen ist? Aber wahrscheinlich hat Platthaus davon bis heute nicht einmal gelesen. Und wer schon einmal eine Notaufnahme eines privaten Krankenhauses in den USA erlebt hat, wird auch diese Angst mehr als verstehen können. Doch manchen Männern ist nichts peinlich. Vom Krankentransport der Verletzten zeigt sich Platthaus bis zum Schluss obsessiert: "Andererseits besteht kein Zweifel daran, dass die Patientin nur deshalb in die Privatklinik eingeliefert wurde, weil sie Naomi Klein ist: eine reiche Bestsellerautorin, die sich die entstehenden Kosten leisten kann." Hätte er noch ein "jüdisch" dazu gesetzt, könnten wir ihm jetzt offenen Antisemitismus konstatieren.

Vordergründig, jedoch nur bei sehr oberflächlichem Lesen und nur bei Nichtkenntnis des Buches, scheint Rudolf Walther in der Frankfurter Rundschau die Autorin mit "Die Folter als stummer Partner des Kapitals" in Schutz nehmen zu wollen. Doch bevor er lapidar feststellt, Klein sei in bisherigen Rezensionen, die er nicht konkret nennt, zu Unrecht "als naive, moralisierende oder quasi-religiös eifernde Autorin" abgetan worden, entwertet er sie erst einmal selbst kräftigst als "Vorbeterin". Auch bei Walther ist keine tiefere Textkenntnis ersichtlich. Er referiert zwar einen Teil der Hauptthese, um Klein dann gönnerhaft zu bescheinigen: "dass sie immenses Material zusammenträgt", um "zu illustrieren", aber "dieses Zusammenspiel analytisch zu durchdringen" gelinge ihr nicht. Vielmehr: "Sie kommt nicht über die Feststellung hinaus, dass die Schocks auf politischer, wirtschaftlicher und psychologischer Ebene "irgendwie miteinander" zusammenhängen." Nichts, was er am Text belegen würde und auch nicht könnte. Insgesamt weiß der Oberlehrer: "Diese Einsicht ist nicht brandneu, aber materialreich dokumentiert, wobei eine Straffung dem Buch nicht geschadet hätte." (FR 18.09.07)

Diese geballte Verunglimpfung in bundesdeutschen Medien, ermuntert natürlich auch Leser aus der Laienspielschar der Besserwisser zum freien Schwadronieren. Zum Anlass wird ausgerechnet der Artikel einer Frau, die sich positiv auf die "Schock-Strategie" bezieht. Die erste und bisher einzige, ausführlichere Buch-Rezension in einer bundesdeutschen Zeitung, die ohne Sexismen, Projektionen, Belehrungen und vage Andeutungen auskommt, stammt von einer österreichischen Intellektuellen. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla, die für ihre literarischen Arbeiten über die Zurichtung der Individuen im Neoliberalismus international bekannt ist, stellte am 17.09. ihre Lektüre der "Schock-Strategie" im Tagesspiegel vor. Sie rückt, ähnlich wie ihr Landsmann Bert Rebhandl, die Gewalt, die Folter und die Kriege in den Vordergrund, neben dem ausgehöhlten Staat wesentlicher Bestandteil der von Klein beschriebenen Schock-Strategie. Sie schreibt unter anderem sehr genau, zumindest für den geringen, ihr zur Verfügung stehenden Zeitungsplatz, wie die Politik einer "Schock-Strategie" aussieht: ".begleitet von einer Politik autoritärer Regime, die vor Folter und Menschenraub nicht zurückschrecken. Das alles unter dem Deckmantel der Demokratisierung, obwohl in Wirklichkeit der korporatistische Staat entstanden ist, in dem wirtschaftliche Elite und politische Klasse einander zuarbeiten. Ein ausgehöhlter Staat, der nicht nur aller Funktionen beraubt ist, weil sie privatisiert wurden, sondern auch über deren Ausübung keine Kontrolle mehr besitzt. Dieser Prozess erfasst auch uns (Sarkozy!), in den USA zeigt er schon seine bittere Realität."
Sie bezieht sich damit auf Kleins Analysen der US-Verhältnisse, wo seit längerem demokratische Grundrechte eingeschränkt sind, Polizeiterror bereits zum Alltag gehört, Polizeiaufgaben immer stärker privatisiert werden, seit Kathrina auch im Land konkret die "Schock-Strategie" angewendet wird. Röggla kennt die US-Verhältnisse der letzten Jahre wie Klein persönlich. Mit der Feststellung: "Dieser Prozess erfasst auch uns (Sarkozy!), in den USA zeigt er schon seine bittere Realität", sagt sie sehr deutlich: bei uns ist es noch nicht so weit, doch mit Sarkozy könnte der Prozess auch in Westeuropa angekommen sein. Diese Überlegung ist nachvollziehbar, da Sarkozy bereits für ungeheure Gewaltexzesse gegen Minderheiten verantwortlich ist und die Gefahr besteht, er könnte in Frankreich die Zerschlagung des Sozialstaates auch mit massiver Gewalt gegen die gesamte Bevölkerung durchsetzen. Auf diesen Kontext bezieht sich Röggla, auf nichts anderes.

Doch auf Sachkenntnis von Frauen reagieren bestimmte Männer auch im kritischen Spektrum gern aus dem Bauch heraus. So versuchte ein Leser der politischen Webside Nachdenkseiten seine Verdauungsprobleme mit dem Artikel von Röggla so zu bewältigen: "Dieser Artikel im Tagesspiegel stößt bei mir etwas sauer auf. Die pauschale Anspielung auf eine Zusammenarbeit von transnationalen Multis und der CIA ist zwar ein populäres Klischee (es fehlt nur noch der Mossad und die Königin von England, dann wäre die Theorie perfekt), gehört aber nicht unkommentiert in die Nachdenkseiten." Nichts, was der Leser behauptet, steht im Artikel oder gar im Buch von Klein. Doch der Verweis auf den Mossad ist sehr typisch für die verqueren "pc" Jäger, die mit einer solchen Anspielung gern "Verschwörungstheorien" outen. Die irrationale Spur zur "Königin von England" können wir allerdings im Moment nicht deuten. Auf Nachfrage bestätigte dieser Leser dann auch, weder das Buch noch je etwas von Röggla gelesen zu haben. Letztere bezichtigt er dennoch als "naiv". Er unterstellt, was im Text ebenfalls nicht steht: "Die Privatisierungswelle in Europa fing auch nicht erst mit Sarkozy an, sie gibt es in Deutschland und anderswo in Europa schon eine ganze Weile." So möchte der Leser also Röggla und Klein, die beide für ihr Engagement vielfach international ausgezeichnet worden sind, belehren, sie hätten die Privatisierungswelle in Europa nicht bemerkt. Leider bleibt der Leser Belege schuldig, wo hier der Bezug zur Schock-Strategie gegeben ist, konkret: wo in "Deutschland" mit Militär, Folter, oder dem Ausnutzen von Katastrophen die Regierung das Volk terrorisiert. Doch knapp zwei Wochen später legt dieser Leser noch einmal nach. Diesmal belehrt er die Autorin Klein und ihr Konzept der "Schock-Strategie". Noch immer hat er deren Buch nicht gelesenen, offensichtlich nicht einmal das Interview im Spiegel, auf das er sich bezieht, in dem Klein zum x-ten Mal sehr klar sagt, keine Anhaltspunkte für eine Schock-Strategie in der Bundesrepublik vorzufinden. Das ficht ihn nicht an, wieder generiert er aus dem Bauch heraus seine Assoziationen: "Doch die Schock-Therapie ist in Deutschland im vollen Gange. Die Schreckensmeldungen über die arbeitsplatzbedrohende Konkurrenz aus dem fernen Osten, die Verunsicherung über die gesetzliche Rente, die durch die falsche Beitragspolitik stagniert, natürlich auch der Terror - das sind Beispiele der Schock-Therapie, die auch in Deutschland läuft, um den Sozialstaat zu verkleinern und den Sicherheitsapparat zu vergrößern". Leider ist das nicht nur Blödsinn pur: Kaum erträglich vielmehr ist der rassistische Subtext: "Schreckensmeldungen über die arbeitsplatzbedrohende Konkurrenz aus dem fernen Osten". Und nur noch als zynisch und menschenverachtend sind solche Besserwissereien einzuordnen, wenn wir uns dem von Klein in ihrer Untersuchung beschriebenem Elend der Opfer nicht verschließen. Wie die oben zitierten Rezensenten ist auch dieser Laie lektüreresistent.

Mitte Oktober war die Autorin Naomi Klein in Berlin, um im Kulturkaufhaus Dussmann am 15.10. ihr Buch vorzustellen und um am 17.10. in Kreuzberg eine ausführliche inhaltliche Debatte führen zu können, zu der eine Gruppe unabhängiger Linker eingeladen hatte. Zum ersten Termin strömten mindestens 300 Leute in den Lesesaal des Kaufhauses, Zweidrittel davon Frauen. Die Rednerin betrat den knallvollen Raum, nahm den kurzen Gang zur Bühne, ließ die Fotografen höflich gewähren, bot ihnen dann aber nach vielleicht 40 Sekunden sehr bestimmt Einhalt. Die freundlichen, sehr kurzen Worte des Geschäftsführers nahm sie entgegen, ebenso die knappe Einführung des Moderators und fing dann ohne Umschweife an, ihre Untersuchung vorzustellen, unterbrochen durch Fragen des Moderators und die außergewöhnlich guten Übersetzungen. So weit, so unspektakulär, so professionell tritt Klein überall auf, also eigentlich nicht der Rede wert. Zwei Tage später, am 17.10. schauten wir in die taz und die Süddeutsche Zeitung. Beide Blätter hatten freie Nachwuchskräfte geschickt, Nicole Basel (taz) und Phillipp Mattheis (SZ). Beide, so wird schnell klar, haben sich auch entschieden, auf jede konkrete Wiedergabe zentraler Thesen und Inhalte zu verzichten, oder gar eine Trennung zwischen Bericht und Kommentar vorzunehmen, wie dies im journalistischen Traditionalismus üblich ist. Stattdessen heben beide ihre Eindrücke weitgehend in den Rahmen ihrer jeweiligen "intellektuellen" Kontexte. Nicole Basel ("Die Naomi-Show") markiert ihre Denkhöhe mit "Klamotten", Boxkampf und Privatfernsehen. Philipp Mattheis ("Böse Welt, mach deine Hausaufgaben: Naomi Klein stellt ein Buch vor.") ist ebenfalls von der Kleiderfrage obsessiert und zeigt wie stark auch ihn schon die Schwaden des Miefs einschlägiger Männergemeinschaften eingenebelt haben. Doch Nicole Basel kann da durchaus mithalten. Schon in der Überschrift sehen wir, wie originell sie ist und auch, welche Vorbilder sie hat, beispielsweise den Zeit-Mann Fischermann mit seiner plumpen Vertraulichkeit. Es folgt ein langatmiger Einstieg. Sie möchte einen "Showdown" wie "bei einem Boxkampf" belegen, führt dafür die ganz konventionelle Begrüßung, so wie sie in der englischen Sprachgemeinschaft weltweit üblich ist an: "Ladies and Gentleman (ja, in der taz -Redaktion scheint der Plural von Gentleman nicht bekannt zu sein!), please give a warm welcome to Naomi Klein". Dann kommt Basel plötzlich auf Michael Buffer, auf Henry Maske, um dann zu behaupten "Sie schreitet zwischen den Stuhlreihen entlang, strahlt in die Kameras, zieht neckisch die Augenbraue hoch." Wir wissen, Frauen kommen immer noch am ehesten in den Dunstkreis der Herren, wenn sie die Andere herabwürdigen. Die freie Fachkraft der taz macht das so: "Die Kanadierin redet über Elektroschocks oder Folter im Irak und strahlt dabei. Ihre Zähne sind so weiss wie die eines Hollywoodstars. Ihr Auftritt ist filmreif, gerade weil er nicht gespielt wirkt. Naomi Klein wirkt wie das natürliche, fröhlich winkende Nachbarskind, auch wenn sie 37 Jahre alt ist." Dann aber gleich noch folgende Sätze: "Klein spricht in druckreifen, kurzen, präzisen Sätzen. Man sucht einen Teleprompter an der Wand, aber den gibt es nicht. Der Neoliberalismus steckt für Klein überall." Wir erinnern: der Kollege Jacobi hatte in seinem fulminanten Vergleich mit Osama Bin Laden von "der kindlichen Trotzigkeit der Naomi Klein" geplappert. These und Inhalte des Buches, die Klein über 90 Minuten lang dargestellt hatte, fasst Fachfrau Basel so zusammen: "Kapitalismus funktioniere genauso wie Folter. ,Folterer wollen Menschen brechen - Ökonomen ganze Gesellschaften', sagt Klein". Nichts davon hat Klein je so als absolute Aussage getätigt, besonders nicht an jenem Abend in Berlin oder so je irgendwo geschrieben.

Nun kommen wir zum Fachmann der SZ, der sich nicht mühsam mit niederen Neidgefühlen gegen eine Geschlechtsgenossin rumplagen muss. Die Buchhandlung Dussmann liegt an der Friedrichstraße, ein mittlerweile peinlich billiges Imitat der Madison Avenue. Chain Store reiht sich an Chain Store, bisweilen unterbrochen von anderen "Dienstleistern", wie beispielsweise der taz-Redaktion. Für den SZ-Mitarbeiter scheint die Gegend Inspiration zu sein. Ältlich-schlüpfrig hält der junge Mann fest: "Für die Fotos setzt Naomi Klein die Brille ab. Sieht noch besser aus als mit. Ein Lichtgewitter blitzt kurz, aber nur kurz, denn schließlich geht es hier um Inhalte und nicht um Äußerliches. Ist schließlich kein Modell. Die junge Frau. Auch wenn sie wirklich gut aussieht." Aber er zeigt sich auch am Äußeren des Publikums interessiert: "Das Publikum sieht nicht besonders globalisierungskritisch, sondern very Dussmann-like aus: herb dreinblickende Damen um die 50 in herbstfarbenen Kleidern, dazwischen ein junger Mann mit Barbour Jacke". Bisher haben wir noch nichts über den Inhalt des Buches erfahren, dafür werden wir gleich wieder mit Modefragen konfrontiert: "Naomis Brille sitzt inzwischen wieder auf ihrer Nase. Kurz fragt man sich, ob ihr Blazer wohl von H&M sei, schiebt die Frage aber schnell auf den eigenen Anti-Reflex- Pfui. Tut schließlich auch nichts zur Sache. In ,Die Schock Strategie' geht es um mehr. Um den Neoliberalismus und wie dieser auf der Welt verbreitet wird." Dann folgt eine völlig falsche Widergabe der These des Buches, aber auch der an diesem Abend von Klein getätigten Ausführungen, um dann flott zu behaupten "Folterknecht ist gleich freier Markt." Und dann rundum noch mal hingelangt: "Nichts Neues dabei, aber alles unter einem Blickwinkel geordnet". Die SZ-Nachwuchskraft hat auch noch einen Zuhörer beobachtet "In der ersten Reihe sitzt ein schmallippiger Herr mir herunterhängendem Mundwinkeln, der aus dem Nicken gar nicht mehr herauskommt" usw. Gegen Ende hatte sich Naomi Klein kritisch auf die Rolle der Dussmann Gruppe beim Ausbau der Festung Europa bezogen, unter anderem soll sie "Catering" für Abschiebehäftlinge auch in Berlin betreiben. Der SZ Schreiber nimmt sich dann folgende Freiheit heraus: die Autorin habe gesagt, "Aber das ginge sie jetzt nichts mehr an". Nun, da müssen wir wieder etwas an diesem Abend überhört oder das falsche Buch gelesen haben. Doch genau mit dieser kleinen Beifügung strebt er straks seinem großen Ausstieg aus der Geschichte zu: "Das Publikum applaudiert. Und genau an dieser Stelle offenbart sich die Schizophrenie der Globalisierungskritik."

Die hier vorgestellten Bezugnahmen vor allem männlicher "Experten" auf Kleins "Schock-Strategie" dokumentieren neben den sexistischen Anzüglichkeiten, nicht zu letzt den Verfall öffentlicher Diskurse, in denen Projektion und Missachtung zunehmend an die Stelle von Vernunft und Argumentation rücken. Erschreckend ist die Gleichschaltung in der Berichterstattung, als Folge vorauseilenden Gehorsams und der damit einhergehende Grad des Irrationalismus. Keiner der hier zitierten deutschen Rezensenten bzw. auch der Rezensentin sowie der amerikanische "Freund der Nachdenkseiten" geben auch nur vor, das Buch "Die Schock Strategie" überhaupt gelesen zu haben. Das Ausmaß des Meinens und Dafürhaltens, das frei flottierende Aufstoßen, zeigt ganz schlicht auch maligne Züge: die der Paranoia.

Zwei Tage später war Naomi Klein im Festsaal Kreuzberg am Kottbusser Tor zu Gast, eingeladen ganz kurzfristig von der Gruppe FelS (Für eine linke Strömung):  400 Leute waren gekommen, zu vier Stunden Vortrag und intensiver politischer Debatte. Ingo Stützle, zur Gruppe der Veranstaltenden gehörend, bewertet die bisherige Berichterstattung so: "Mit der 
Reduzierung auf einen 'hübschen Star' wird sie als Person degradiert, ihr Buch der politischen
Substanz beraubt
." Nach den wenigen Tagen in der Bundesrepublik war Klein 
in der Tat vom Umgang mit ihr sichtlich getroffen. Sie sei in den letzten Tagen vor allem von männlichen Journalisten befragt worden, berichtete sie dem Publikum in Kreuzberg und hoffte, endlich würden nun Frauen das Wort an sie richten. Etwa die Hälfte der Nachfragen in der offenen Diskussion kam dann auch von jungen Aktivistinnen aus der politischen Szene, die sich auf konkrete Inhalte des Buches bezogen, mit Fragen, mit Zustimmung, mit Kritik, auch kapitalismuskritische Kontroversen wurden vielfältig benannt. Die taz war auch da. An diesem Abend war die Fachkraft Sebastian Heiser vorbei gekommen und hat danach schmissig für die Ausgabe vom 20.10.07 formuliert: "Naomi Klein in Kreuzberg. Die Evangelistin und ihre Fans". Nun, die Autorin mit Evangelikalen zu vergleichen, deren Endziel vor dem jüngsten Tag darin besteht, nicht bekehrungswillige Juden ins Rote Meer zu jagen, ist schon eine Ecke mehr als nur dümmlich. Im angestrengten Bemühen, ironisch sein zu wollen, folgt dann, völlig recherchefrei, hämische Abrechnung mit Kleins angebliche Verschwörungstheorie, wie wir sie bereits kennen. Auch Heiser bezieht sich aufs Idol Fischermann, wiederholt dessen intelligente Frage "Haben Sie noch alle Tassen im Schrank". Und er "belegt" mit der erzkonservativen National Post in Kanada, die Klein vorwirft, einen "weltweiten Werbe-Blitzkrieg" zu führen. Da haben wir also zum x-ten Mal wieder das Geld-Motiv. Der Verleger der National Post tritt übrigens dafür ein, die englisch sprechende Welt unter Führung der USA gegen die muslimische zu vereinen, Klein hatte darüber kürzlich in The Nation berichtet [7]. Und Heiser von der taz erwähnt noch das Flaggschiff von Rupert Murdoch, die Times in London, die festgestellt habe, Klein gehe "über die Grenzen der Vernunft" hinaus. Was ist noch weiter zum Elend der taz zu sagen, die sich in letzter Zeit so gern von Coca Cola und anderen "global playern" per Werbeanzeigen füttern lässt? "Coffee to go" auf der Friedrichstraße ist schließlich teuer.

Der Vollständigkeit halber und zum Abrunden dieses inter-media-agenda setting der Entwertung noch der Einstieg eines Artikels von Jakob Schlandt in der Berliner Zeitung: "Durch Krieg und Folter zum N eoliberalismus. Star der Protestgeneration: Naomi Klein und ihr neues Buch" (Berliner Zeitung 19.10.07). Und er hebt an:
"Ordentlich gescheitelte Haare mit hellen Strähnchen, dezentes Makeup, elegante schwarze Lederjacke, ein breites, strahlendes Lachen - Naomi Klein könnte auch ohne weiteres als Globalisierungsgewinnerin im Freizeitlook durchgehen, die für einen Großkonzern arbeitet. Doch das Gegenteil trifft zu. Die Kanadierin ist weltweit eine Ikone für Globalisierungskritiker seit ihrem Debüt ,No Logo', in dem sie den Markenwahn in den Industrie- und die Sweatshops in den Entwicklungsländern beschreibt. Am Mittwochabend ist sie in den überfüllten Festsaal Kreuzberg vor ein junges Publikum gekommen, um ihr neues Buch vorzustellen, ein Manifest gegen den weltweiten Vormarsch des Neoliberalismus: ,Die Schock-Strategie - der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus'". Und dann auch in der Folge das übliche Kompilieren subjektiver Befindlichkeiten mit Aufgeschnapptem. In einem Jubelartikel der Bundesagentur für Arbeit von 2006 war der damals 27 -jährige Volontär Schlandt zu seinem Verständnis von Journalismus befragt worden und hatte kund gegeben: "Genau recherchieren, sich Fakten und Daten merken können und Spaß an der Sprache haben".

Die bisherige Art der Berichterstattung zeigt: In ganz besonderer Weise wird hier mit sexistischem Hass die Arbeit einer Autorin abgewehrt, die das weltweit wirksame neoliberale Gewaltsystem in seinen Zusammenhängen an die Öffentlichkeit zerrt. Das tut Klein wasserdicht, mit einem beindruckenden Anmerkungs- und Quellenapparat, nicht nur im Buch, sondern viele der Dokumente sind auch online einzusehen, unter anderem auch das Folterhandbuch der CIA, auf das sie sich mehrfach bezieht. Zu einstweiligen Verfügungen, Unterlassungsklagen seitens der benannten Konzerne oder Politiker ist es übrigens bisher nicht gekommen. Die paranoiden Formen der Rezeption dokumentieren nicht zuletzt das eigene Verstrickt sein in neoliberale Diskurse, die Unfähigkeit Empathie zu üben, in diesem Fall für die weltweiten Opfer des Katastrophenkapitalismus, aber auch über persönliche politische Verantwortlichkeiten nachzudenken. Solche "Rezensionen" lassen sich auch unschwer als Identifikation mit den Tätern deuten. In ihrer Abwehr dokumentieren sie zudem in sehr typischer Weise die "niedergeworfene Rebellion" des neoliberalen Subjekts, das in der "Unterordnung als Existenzversprechen" (Judith Butler) [8] geradezu darum bemüht sein muss, nicht nur die eigene Trauer, die Wut über die Leere neoliberaler Heilsversprechen nicht zum Durchbruch kommen zu lassen, sondern auch Begehren und bewusstes Handeln nicht zulassen kann. Das neoliberale Subjekt muss daher sich und andere in permanenter Ambivalenz halten, in den zunehmend dezentrierten gesellschaftlichen Kontexten. Es sucht aber auch immer wieder nach dieser Ambivalenz, um nicht zur Besinnung kommen zu müssen. Der Raum dieser Ambivalenz und Unberechenbarkeit lässt sich trefflich noch etwas genauer mit dem Konzept der "Dummheit" [9] bestimmen, das die Philosophin Avital Ronell weiterentwickelt hat: "Wirklich schweigt die Dummheit, der Zulieferer selbstgewisser Anmaßung, genau über all das, was ihre empfindungslosen Hierarchien stören könnte." [10] Sich auf Karl Marx beziehend verweist Ronell auf Dummheit als die dritte historische Kraft, nach Ökonomie und Gewalt. In der Sprache manifestiert sie sich als "leere Wiederholung und Gewohnheitsrecht der Meinung". [11] Genau in dieser Leere, aber auch in der aktiven Verweigerung vor der Geschichte und der Gegenwart, können die Transporteure nur sehr notdürftig ihre Gewalt maskieren. Ronell: "Die Truppen der Dummheit, extrem und doch gewöhnlich, schieben eine Fata Morgana der Aggression vor sich her, eine Front ohne Grenzen." [12]

Nun muss eine solche Untersuchung wie die "Schock-Strategie" des Katastrophen -Kapitalismus natürlich zur Kritik herausfordern, zu Anregungen, vor allem zum Entdecken von Leerstellen. Klein analysiert zwar ausführlich, konkret und nachvollziehbar wie die Chicago Boys zusammen mit entsprechenden Konzernen und korrupten Staatsführern nicht nur in Chile und Argentinien gewütet haben und heute den Irak und Afghanistan zerstören, sondern in den neunziger Jahren auch systematisch die Auflösung der früheren Sowjetunion betrieben haben. Auch die neoliberale Zurichtung Chinas dokumentiert sie. Und für jedes dieser und anderer Länder beschreibt sie die Folgen, wie Hunger, Entwurzelung, Verelendung großer Teile der Bevölkerung. Und immer wieder legt sie den Finger auf die massiven Menschenrechtsverletzungen, durch Terror und Krieg, aber auch auf die neuen Formen der Sklavenarbeit. So sind wir vielfach auch gezwungen, uns längst Verdrängtes wieder in Erinnerung zu rufen, beispielsweise wie Bill Clinton die terroristische Gewalt unterstützt hat, mit der Boris Jelzin nicht nur gegen Tschetschenien, sondern auch gegen das russische Parlament vorgegangen ist. Und wir möchten ergänzen: und die deutsche Regierung ebenso.

Kleins Liste ist keineswegs vollständig, den Anspruch verfolgt sie auch nicht. Eine Leerstelle, die jedoch künftig unbedingt in eine solche (Nachfolge-) Dokumentation und Analyse gehören würde: Die direkte oder auch indirekte Beteiligung europäischer und insbesondere deutscher Regierungen, "Denkfabriken" (wie Bertelsmann-Stiftung") und Konzerne an diesem weltweit wirksamen Katastrophenkapitalismus. Nicht zuletzt die hier analysierten Presseberichte zeigen, wie hermetisch bereits der neoliberale Diskurs in diesem Land ist.

So beschreibt Klein zwar sehr eindringlich, wie auch in Polen die Schock-Strategie voll zum Einsatz kam, nachdem sich die Solidarnosc hat regelrecht kaufen lassen und private Investoren ungehemmt ins Land einfallen ließ. Die Mitverantwortung der deutschen Regierungen und ihrer Konzerne an der Zerschlagung der polnischen Wirtschaft taucht aber bei Klein nicht auf. Jede und jeder kann diese Art von ökonomischem Neo-Kolonialismus jedoch mit bloßem Auge in Nachbarländern wie Polen und Tschechien sehen: Aldi, Lidl, Tchibo, Media Markt, um nur die größten Handelsketten zu nennen, sind auch in Polen massiv eingefallen. Allein in polnischen Städten war die Drogeriekette Rossmann nach eigenen Angaben des Konzerns bereits 2006 mit insgesamt 260 Filialen vertreten. Die polnischen Medien sind von deutschen Konzernen beherrscht. In Polen grassiert in der Bevölkerung derzeit wieder massive Angst vor Deutschen, eine Angst, die durchaus nachzuvollziehen ist. Noch ist der Terror von Wehrmacht, SS, ist das jahrzehntelange Treiben der Volksdeutschen in vielen polnischen Familien nicht vergessen. Und nun kommen Nachkommen der TäterInnen mit neuen Begehrlichkeiten, erheben Anspruch auf alte Besitztümer. Insbesondere das Leid polnischer aber auch anderer osteuropäischer Frauen müsste endlich in diesem Land von einer neoliberal-kritischen Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werden. Das fehlt leider auch bei Klein. Welches alltägliche Leid beispielsweise gegenwärtig Frauen in Polen ertragen, durch hohe Arbeitslosigkeit, den Wegfall sozialer Absicherung, die Entwurzelung vieler polnischer Männer, hat kaum jemand so eindringlicher beschrieben wie Daniel Odija in seinem Roman "Das Sägewerk". Und nicht nur in Prag oder im Grenzgebiet von Tschechien sondern auch in polnische Städte fallen zumindest im Sommer immer mehr deutsche Männerhorden ein, um sich an der Not der Frauen schadlos zu halten. Auch der profitträchtige Menschenhandel mit Frauen aus Osteuropa gehört zu den widerlichsten Auswüchsen der in diesen und anderen Ländern wirksamen Schockstrategien. So wird sich beispielsweise in Hamburg kaum ein Bordell oder ein sogenanntes Apartment für Wohnungsprostitution finden lassen, in denen nicht auch Osteuropäerinnen sexuell ausgebeutet werden.

Auch deutsche Mitschuld an militärischen, terroristischen Einsätzen, sei es in Ex-Jugoslawien oder in Afghanistan, bleibt bei Klein leider weitgehend ausgeblendet. Ebenso die skandalöse Unterstützung von Folter in Guantanamo durch den BND und den deutschen Außenminister, wie der Fall Murat Kurnaz zeigt. Statt diese Verbrechen, besonders auch den Irakkrieg deutlich zu ächten, zeigt sich Kanzlerin Angela Merkel (auch wenn sie letztlich die Freilassung von Kurnaz erwirkt hat) öffentlich mit George W. Bush, lässt sich von ihm distanzlos duzen, wie auch Walter Steinmeier der Öffentlichkeit sein vertrauliches Verhältnis mit Condolezza Rice immer wieder in peinlichster Weise vorführt. Auch das ist eine zynische Missachtung der Opfer des Katastrophenkapitalismus, den Klein dokumentiert.

Besonders schockierend sind die Schilderungen Kleins über die Wandlung des ANC in Südafrika. Ähnlich wie die Solidarnosc in Polen hat sich die südafrikanische Befreiungsbewegung, der ANC, regelrecht kaufen lassen. Mit drastischen Folgen: Seit 1990 ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Südafrikaner um 13 Jahre zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit der schwarzen Bevölkerung hat sich mit heute 48 Prozent fast verdoppelt, 25 Prozent der Bevölkerung leben in Elendsvierteln, oft ohne fließendes Wasser und Elektrizität. Wie das genau aussieht und wie BewohnerInnen in den Townships verzweifelt versuchen, sich gegen die Gier der Stromkonzerne zu wehren, hat Florian Opitz mit seinem Dokumentarfilm "Der große Ausverkauf" festgehalten.

Immer wieder wird Klein vorgeworfen, sie habe keine Lösung für die Probleme. Nun, dies ist wohlfeil, trägt Spuren des christlichen Erlösungsbegehrens, zeigt aber mindestens, wie wenig solche Rezensenten eigentlich über die planetarischen Bewegungen gegen den Neoliberalismus wissen. Diese Bewegung hat keine "Führer", keine "Ikone", auch darauf weist Klein immer wieder hin. Auch ihre Stimme ist nicht wichtiger als beispielsweise die der namenlosen Bolivianerinnen, die 20001 einen Volksaufstand gegen die Privatisierung des Wassers initiiert haben und das Volk den US-Konzern Bechtel schließlich aus dem Land gejagt hat. Überall auf diesem Planeten entstehen Projekte, bauen sich Widerstandskräfte [13] auf, gegen die zum Teil immense Gewalt von Konzernen und neoliberalen Regierungen. Einen kleinen Teil davon hält Naomi Klein auch in ihrem Schlusskapitel fest. Im Kern sind es immer die gleichen Kämpfe: gegen die Privatisierungen der Schlüsselindustrien, gegen die Kürzungen staatlicher Ausgaben für ein staatliches Gesundheits- und Sozialsystem, gegen die die Reichen begünstigenden allgemeinen Steuern, wie Mehrwertsteuern. Und genau das beschämt. Denn im Vergleich zu Menschen, die in Lateinamerika, in Asien und Afrika ihr Leben aufs Spiel setzen, greift in diesem Land neben dem oben beschriebenem Zynismus in den Medien eine unheimliche Stille und Tatenlosigkeit Raum. In der Bundesrepublik sind die Menschen bisher von solchen Schock-Therapien verschont geblieben. Der Katastrophenkapitalismus ist zwar auch hier spürbar, in seinen Nachbeben, im Sozialabbau, in nie gekannter Kinderarmut. Unsere Schulen und Universitäten werden zerstört, Reichtum staatlich gefördert. In keinem anderen westeuropäischen Land ist das intellektuelle Niveau durch fortwährendes Nachbeten neoliberaler Mantren derart heruntergekommen. Alte deutsche "Tugenden" wie Angst, Gehorsam und Unterwerfung, aber auch Sexismus und Rassismus sind hier immer noch weit verbreitet. Dennoch erklärt, entschuldigt das nicht, warum Menschen sich in diesem Land nicht kollektiv wehren, sich selbst vom Handeln abhalten, obwohl sie keine Folterkeller oder Kriege bedrohen.

Naomi Klein sieht trotz allem Hoffnung und schaut dabei vor allem nach Lateinamerika. Der Neoliberalismus scheint dort in der Tat ein Auslaufmodell zu sein. In Ecquador rief Rafael Correa nach seiner Wahl im November 2006 die Menschen dazu auf, "all die Irrtümer des Neoliberalismus zu überwinden". Er will die US-Militärbasis in der Hafenstadt Manta schließen lassen. Einen Monat nach dem Tod von Milton Friedman lud Evo Morales zu einem lateinamerikanischen Gipfel nach Cochabamba in Bolivien ein, dahin, wo der erfolgreiche Volksaufstand gegen die Privatisierung des Wassers begonnen hatte. Morales eröffnete den Gipfel mit Bezug auf Eduardo Galeanos Chronik über 500 Jahre Ausbeutung in Lateinamerika. Morales will "die offenen Adern Lateinamerikas schließen". Und in der Tat werden in vielen Ländern Lateinamerikas, wie Klein auflistet, wichtige Wirtschaftssektoren wie Wasser und Elektrizität wieder verstaatlicht, auch Bildungs- und Gesundheitswesen, kleine Bauern bekommen ihr Land zurück. Doch diese Bewegungen und Regierungen haben auch aus der linken Vergangenheit gelernt, sie sind nicht mehr wie früher zentralistisch organisiert, sondern setzen auf Netzwerk- und Genossenschaftsstrukturen.
Schlechte Zeiten dort für IWF und Weltbank. Brasilien und Venezuela weigern sich schlicht, mit dem IWF überhaupt noch Vereinbarungen einzugehen. Und Néstor Kirchner, Präsident Argentiniens, ließ 2007 den IWF wissen: "Meine Herren, wir sind souverän. Wir wollen unsere Schulden abzahlen, aber keine sieben Teufel bringen uns dazu, noch einmal ein Abkommen mit dem IWF zu schließen." Das hat Folgen: Noch 2005 entfielen 80 Prozent der vom IWF vergebenen Kredite auf Lateinamerika, 2007 sind es nur noch 1 Prozent. Auch aus dem Würgegriff der Weltbank befreien sich einige Länder. Rafael Correa hat einfach alle Weltbank Kredite ausgesetzt und Vertreter der Weltbank in Ecquador zu unerwünschten Personen erklärt. Evo Morales hat für Bolivien das Ausscheiden aus dem "Schiedsgericht" der Weltbank angekündigt.

Klein richtet ebenso den Blick auf die kleinen Graswurzelbewegungen. So bewerkstelligten für sie die Moken, die "Seezigeuner", ein indigenes Fischervolk in Thailand die "mutigsten Wiederinbesitznahmen" nach dem Tsunami. Sogar Bürgerrechtsgruppen aus New Orleans kamen nach Thailand, um sich von den Moken beraten zu lassen. Wer sich auf das Lesen der "Schock-Strategie" von Naomi Klein einlässt, wird von dieser Zusammenschau neoliberaler Verbrechen und Verwüstungen zwar zeitweise traurig und verstört sein. Aber die Fakten können auch in Wut versetzen, in Wut beispielsweise darüber, wie wenig Verantwortung die Menschen derzeit hier für ihre Gesellschaft übernehmen, statt endlich auch hier dem dämonischen Geplapper über "Reformen", die "im Zeitalter der Globalisierung" angeblich notwendig seien, Einhalt zu gebieten, aber auch endlich wieder zu lernen, Solidarität mit den am härtesten Betroffenen zu üben. Anregungen zum Handeln liefert Klein genug.

"Das ist ein brillantes Buch, eines der wichtigsten, das ich seit langem gelesen habe", sagt der Historiker Howard Zinn, Autor des Bestsellers "A People's History of the United States". Hier jedoch mokiert sich das Fachpersonal für Hassreden stattdessen immer wieder über die Werbestrategien zur "Schock-Strategie". Ihnen sei mit der Schriftstellerin Kathrin Röggla beschieden: "Eine perfekte PR-Strategie? Gut so, sage ich, denn ich wünsche ihm viele Leser." Viele Leserinnen wird Naomi Klein sowieso bekommen.

Anmerkungen:

1) http://www.fischerverlage.de/microsite/autor/www.naomiklein.de/
red_beitrag?content=992389
externer Link

2) Vgl. Brigitta Huhnke (1996): Macht, Medien und Geschlecht. Opladen. Die Untersuchung basiert im empirischen Teil auf der Analyse von 5000 Texten (von 1980-1995). Auch in den letzten 12 Jahren ist qualitativ keine Abnahme aggressiver Berichterstattung zu verzeichnen, allerdings wird weniger vor allem über Feministinnen berichtet, schlicht, weil anders als in anderen westlichen Ländern, sich hier immer weniger gesellschaftskritische Frauen zu Wort melden oder dies wollen bzw. die Möglichkeit bekommen, ihre Meinungen öffentlich in den Medien zu vertreten.

3) Wie kam es zu dieser Medienkarriere? Die Entwicklung haben mindestens zwei herausragende diskursive Ereignisse beschleunigt: Der New York Times (NYT) Artikel von Richard Bernstein über vom 27. Oktober 1990 sowie die Stellungnahme des damaligen Präsidenten George Bush in seinen "Remarks at the University of Michigan Commencement Ceremony in Ann Arbor" vom 4. Mai 1991, vgl. dazu sowie zum Forschungsstand: Brigitta Huhnke (1997): "pc" - Das neue Mantra der Neokonservativen . In: Andreas Disselnkötter, Siegfried Jäger, Helmut Kellershohn, Susanne Slobodzian (Hg.) : Evidenzen im Fluss. Demokratieverluste in Deutschland .. Dies. (1998): "political correctness" - ein Mantra nationaler Erweckung, in ZAG 30.

4) vgl. Huhnke 1997;1998

5) Vgl. Huhnke 1996.

6) aber auch Kritiker beispielsweise von Ernst Jünger werden so geoutet. Martin Walser darf im Kontext seiner berüchtigten Paulskirchenrede über "Auschwitzkeule" und "politische Korrektheit" schwadronieren, wied dabei bis in höchste Regierungskreise geschützt.

7) Vgl. dazu den Bericht von Klein in The Nation:
http://www.thenation.com/doc/20070409/klein
externer Link

8) Vgl. Judith Butler (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt in der Unterwerfung. Frankfurt aM.

9) Avital Ronell (2005): Dummheit. Berlin.

10) Ronell, a.a.O., S.9

11) Ronell, a.a.O., S. 66

12) Ronell, a.a.aO., S. 22

13) Vgl. dazu auch den Reader über weltweite Widerstandsbewegungen: Notes from Nowhere. wir sind überall. weltweit. unwiderstehlich. antikapitalistisch. (2007) Mit einem Vorwort von Naomi Klein, Hamburg.

Siehe zum Buch:

Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-KapitalismusDie Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus

Buch von Naomi Klein, erschienen im S. Fischer Verlag und aus dem Englischen übersetzt von Hartmut Schickert und Michael Bischoff und Karl Heinz Siber (Preis € (D) 22,90/Preis SFR 40,40 (UVP), 768 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-10-039611-2). Siehe dazu:


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