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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Commons im Industriesystem Beiträge zur Rückeroberung einer Debatte, Teil IV – von Thomas Gehrig* Die Forderung, die zumindest die progressiveren Varianten der aktuellen Commons-Debatte antreibt, ist die, dass etwas als gemeinschaftliches Eigentum anerkannt werden soll. Nun ist die Frage nach der Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Besitzes aller genuiner Gegenstand jener sozialen und politischen Bewegung, die sich im 19. Jahrhundert selbst »communistisch« nennt bzw. von anderen so bezeichnet und dabei meist als Schreckgespenst verteufelt wird. Zentral für diesen Debattenstrang ist die Ablehnung des kapitalistischen Privateigentums und damit die Perspektive auf eine Gesellschaft, in der vor allem auch die Mittel der Produktion gemeinsamer Besitz sind. Die kommunistische Debatte des 19. Jahrhunderts identifiziert in diesem Sinne Kommunismus und Gütergemeinschaft (Communauté). Als der hier gestartete Versuch einer ›kommunistischen Rückeroberung‹ der Commons zuletzt den 1516 erschienenen Roman des ehemaligen englischen Lordkanzlers, des hl. Thomas Morus streifte, war damit der früheste Punkt dieser historischen Grabung nach der Gütergemeinschaft erreicht. Seine Insel Utopia ist Urbild einer Gesellschaft mit gemeinschaftlicher Produktion, einer Gesellschaft ohne Privateigentum. Morus formuliert mit seinem Roman eine Kritik privateigentümlicher Gesellschaftsverhältnisse, die jedoch den Boden eines mit feudalen Resten behafteten bürgerlichen Denkens nicht verlässt. Von hier aus wenden wir uns nun jenen ›modernen‹ gütergemeinschaftlichen Entwürfen zu, für die Maschinen, Industrie und damit tendenziell das Fabriksystem zu zentralen Momenten der gesellschaftlichen Reproduktion geworden sind. Dabei soll der Insel Utopia zunächst das Ikarien des Étienne Cabet (1788-1856) an die Seite gestellt werden.[1] Cabet entwickelt sich in den 1830er Jahren vom liberalen Demokraten zum anerkannten Kommunisten und darüber hinaus zum politischen Führer einer eigenen kommunistischen Strömung. Sein utopischer Roman »Reise nach Ikarien« (1840) wird zur zentralen Schrift des ›ikarischen‹ bzw. ›Cabetschen Kommunismus‹, »zum Evangelium einer Partei« (Becker 1847: 23). [2] Er erfährt fünf Auflagen in acht Jahren (HSH 55). Cabets Schrift enthält viele inhaltliche und literarische Parallelen und Ähnlichkeiten mit Morus’ Utopia, von der er selbst sagt, vor allem sie habe ihn zu seinem Buch angeregt (C 514). Zugleich speist sie sich aus der Auseinandersetzung mit Robert Owen und dessen praktischen Versuchen, eine alternative Lebens- und Produktionsorganisation einzurichten. [3] Sie ist, ähnlich wie bei Morus, Kritik der gegenwärtigen, Beschreibung der zukünftigen, kommunistischen, gütergemeinschaftlichen Gesellschaft und programmatische Explikation von deren Grundsätzen in einem; darüber hinaus enthält sie Überlegungen zu Übergangsformen. Die Gütergemeinschaft wird in der kommunistischen Debatte des 19. Jahrhunderts, wie auch bereits bei Morus, als Alternative zur privateigentümlichen Form der Vergesellschaftung debattiert, die mit materieller Ungleichheit und sozialen Verwerfungen in Zusammenhang gebracht wird. Auch für Cabet liegen die Gründe allen gesellschaftlichen Elends in der Ungleichheit der Vermögen, in Privateigentum und Geld (C 303, 325). Der »Urquell« aller »Greuel« heiße »Reichtum und Armut« (C 311). Auch die Mängel der »politischen Organisation« seien »aus dieser Quelle« entsprungen (C 303). Cabet macht den zentralen gesellschaftlichen Widerspruch an der materiellen Ungleichheit von Arm und Reich fest. Die beiden »Klassen«, aus denen der Staat bestehe, seien die der Armen und der Reichen (C 521). Cabet bleibt bei dieser Gesellschaftsanalyse stehen und kommt insofern nicht zu einem entwickelten Ausbeutungsbegriff. [4] An den unterschiedlichen Machtpositionen der Klassen innerhalb des bestehenden Systems lässt Cabet zwar keinen Zweifel, über weite Strecken hält er jedoch ein gemeinsames politisches Vorgehen von Bourgeoisie und Proletariat für möglich. [5] Explizit wendet er sich gegen jene, die »Zwietracht zwischen Proletariat und Bourgeoisie« säen (Cabet nach HSH 153; vgl. C 520, siehe VBbB I: 316). Nach Johnson plädiert Cabet bis in die Mitte der 1840er Jahre für eine Zusammenarbeit von Bourgeoisie und Proletariat. Johnson sieht den Wendepunkt in Cabets Argumentation in dessen Zerwürfnis mit den bürgerlich-demokratischen Kräften um die Zeitschrift La Réforme gegeben (Johnson 1966: 206; 210ff.). Jedoch sei dieser Umschwung keine völlige Umkehrung (Johnson 1966: 216). Johnson zeigt, wie Cabets Konzept, die Bourgeoisie zu überzeugen und auf die Einheit von Bourgeoisie und Proletariat zu setzen, praktisch scheitert. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrung rückt für Cabet verstärkt die politische Einheit des Proletariats ins Zentrum seiner Arbeit. Cabet wird zum reformistischen Flügel des Kommunismus gezählt. [6] Dies hängt wohl einerseits mit seinem Hoffen auf und den politischen Appellen an bürgerliche Fraktionen zusammen, andererseits damit, dass er sein revolutionäres Ziel, die Aufhebung privateigentümlicher Verhältnisse und die Errichtung der Communauté, möglichst auf friedlichem Weg, unter Ausnutzung demokratischer Mittel erreichen will – wenngleich sich bei ihm auch die Vorstellung einer Übergangsdiktatur findet (s.u.). Cabet wendet sich u.a. in seiner ›Histoire populaire‹ von 1840 gegen die Gewalttätigen und die Materialisten, »les violents und les matérialistes« (Johnson 1966: 199), und behält diese Einstellung bei. Er kritisiert die Politik der Geheimgesellschaften ebenso wie das politische Konzept des Handstreichs einer Minderheit (Douze Lettres 1841: 144, Bambach 1984: 392). [7] Zugleich wendet er sich gegen – aus seiner Sicht – reformerische Maßnahmen wie Streiks oder Genossenschaften etc. Es geht Cabet um einen sozialen Ausgleich, der die herrschende Vermögensungleichheit im Interesse aller beseitigt und vor allem um die Einrichtung einer rational organisierten Produktion und Verteilung. [8] Die Gesellschaft des Privateigentums ist für ihn dagegen gleichbedeutend mit Entsolidarisierung, Individualismus, gesellschaftlicher Vereinzelung und Zersplitterung (C 517). Statt Vernunft und Harmonie gehen Streit, Zwietracht, Verbrechen und damit zusammenhängend ökonomische Verschwendung und Ineffizienz mit ihr einher. Geschichte sei bei Cabet, so Bambach, durch den »Kampf der beiden großen ›Systeme‹ des ›Kommunismus‹ und des ›Individualismus‹ gekennzeichnet« (Bambach 1984: 246). Was Not tut und glücklich macht In Cabets Republik Ikarien ist das Ziel, die rational organisierte Produktion und Verteilung, bereits erreicht, indem die Gütergemeinschaft verwirklicht ist.[9] Gütergemeinschaft und Demokratie stehen bei Cabet für Kommunismus (C 511ff.). Die Ikarier leben in »Gemeinschaft der Güter und der Arbeiten«, sie haben weder »sogenanntes Privateigentum noch Geld, weder Kauf noch Verkauf« (C 89). »Wir alle sind ernährt, logiert, gekleidet [...] auf Kosten des Gesellschaftskapitals; wir sind es alle auf gleichmäßige Weise, mit der erforderlichen Berücksichtigung des Geschlechtes, des Alters und einiger andern Punkte, die im Gesetz angegeben sind.« (C 35) Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, dass für Cabet, wie für viele AutorInnen der frühen kommunistischen Debatte, rechtlich-gesellschaftliche Gleichheit und individuelle Verschiedenheit miteinander korrespondieren – sie widersprechen sich nicht. [10] Dafür steht emblematisch die Losung: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Der auch aktuell immer wieder erhobene Vorwurf kommunistischer Gleichmacherei geht an diesen Vorstellungen vorbei. Auf dieser Basis »schaffen [die Ikarier] alle samt und sonders gleichmäßig für die Republik und für die Gemeinde« (C 89). [11] Die »Republik oder Gütergemeinschaft [ist] die alleinige Besitzerin, die alleinige Eigentümerin; sie allein organisiert ihre Arbeiter und baut die Werkstätten und Magazine« (C 35). Produziert wird in »Nationalwerkstätten« bzw. »Nationalfabriken, Nationalmanufakturen« (C 89), daneben bleibt die in gleicher Weise organisierte Landwirtschaft zentral. Alle Arbeitsfähigen sollen sich gemäß ihren Fähigkeiten einbringen (C 517, 90). Die »Produkte des Bodens und der Industrie werden in den öffentlichen Magazinen aufgespeichert« und von dort aus verteilt (C 35, 55). Die Verteilung wiederum orientiert sich an den unterschiedlichen Bedürfnissen. Die Republik »ist es allein, welche die Erzeugnisse des Bodens und des Fleißes an sich nimmt, um sie sofort gleichmäßig unter uns zu verteilen; sie nährt, kleidet, behauset uns, sie bildet unseren Geist aus, sie stärkt unsern Körper, sie gibt jedem was ihm Noth tut.« Der »Staatszweck ist: glücklich zu sein und glücklich zu machen« (C 89). Die Produktion wird nach dem Grundsatz geregelt: »Zuerst das Notwendige, hinterdrein das Nützliche, ganz zuletzt das Anmuthige« (C 41, vgl.: 61, 64, 344). Luxus ist keineswegs verdammt, jedoch baut Ikarien zuerst Fabriken, dann Denkmäler, möbliert zuerst Schlafzimmer, bevor Gesellschaftssäle vergoldet werden etc. (C 254). Mit Dampf in die Harmonie Für alle Bereiche der Produktion wird – im Unterschied etwa noch zu Morus – die Bedeutung von Maschinerie und Industrie hervorgehoben. Die beschriebenen Nationalwerkstätten sind durchaus fabrikmäßig organisiert (C 122, 58). Es geht Cabet zentral um den Fortschritt der Industrie und der Produktion (C 427). Der wissenschaftlich-technische Fortschritt wird dabei in einen Zusammenhang mit dem politischen und sozialen gestellt. Der »Dampf«, so Cabet, »wird die Aristokratie wegsprengen« (Bambach 1984: 48; C 430). Darüber hinaus will Cabet erkannt haben, »dass sich die Gütergemeinschaft dank der in Produktion und Maschinerie erzielten gewaltigen Fortschritte heute sogar leichter denn je einführen lässt« (Cabet 1840a: 382, vgl. C: Vorwort 1842: XXIII). Entsprechend kennzeichnen in Ikarien überall »neue Maschinenerfindungen« (C 92) den Produktionsprozess. Maschinen, »weise Leitung« (C 517) und Arbeitsteilung bestimmen die Industrie. »Ikarien ist ein technologisches Paradies« (Johnson 1966: 216). Cabet habe, so Höppner/Seidel-Höppner, »als einer der ersten« die »Großindustrie und moderne Technik« positiv in Bezug auf die Erleichterung der Arbeit, die höhere Produktivität und den steigenden Wohlstand gesehen (HSH 68, vgl. Bambach 1984: 251). Die ikarische Arbeit ist – nicht zuletzt dank der technischen Entwicklungen – »leicht, angenehm«, »unsere Verordnungen haben stets diesen Zweck vor Augen; niemals ist ein so gerechter milder Arbeitsmeister in der Welt gesehen worden, als unser Staat ist. Maschinen sind hier ins Endlose vervielfacht und sehr nahe der Vollkommenheit gebracht.« (C 90). [12] Die Produktion in Ikarien wird bei Cabet immer als rationell, rational, zweckmäßig und in allen Belangen vortrefflich beschrieben. Das Beispiel der Möbelproduktion kann dies verdeutlichen: »Jegliches Möbel ist bekanntlich gesetzlich bestimmt. Ordnung regiert auch in diesem Fach das ikarische Wesen. Jegliches Möbel, nach vielen eingereichten Modellen, unter denen das beste ausgesucht wurde, um fortan zum Muster zu dienen, bietet folglich den größt möglichen Nutzen, mit Schönheit verschmolzen, dar. Bequemlichkeit und Geschmack herrschen. Es versteht sich, daß bei jedem Möbel auf mögliche Ersparung von Material und Mühe für den Anfertiger gesonnen worden ist.« (C 65). Und es wird hervorgehoben, »daß mitten in dieser Gleichheit eine unendliche Mannigfaltigkeit waltet« (C 66). So ideal, schön, vernünftig und reibungslos geht es in Ikarien offenbar in allen gesellschaftlichen Bereichen zu. Die vernünftige staatliche Organisation der Produktion sowie die individuelle, durch Erziehung angeleitete Einsicht in die Vernünftigkeit der ikarischen Einrichtungen führt dazu, dass Gesetze kaum angewandt, Konflikt nicht thematisiert werden müssen. Selbst Gesetze wie das über das allgemeine Zeitregime als Ordnungsfaktor, mit Arbeitsbeginn um 5 Uhr und Bettruhe ab 10 Uhr, habe sich das »Volk selbst [...] auferlegt«, und jeder sehe »die Zweckmäßigkeit vollkommen ein« (C 96) Cabet, so Höppner/Seidel-Höppner, zeichnet »die schattenlose Idylle eines reibungslos funktionierenden Sozialgefüges« (HSH 64). Der wohlunterrichtete Staat... Der ikarische Staat regelt die Allokation der Arbeitskräfte (C 95) und die Produktion, er klärt, was produziert werden muss (Cabet 1840a: 385). Vorsorge und Verteilung könne der »wohlunterrichtete Staat selbst« am besten regeln (C 146). Die Nationalwerkstätten produzieren nach einem Plan hinsichtlich der »von dem Staate für das laufende Jahr geforderten Erzeugnisse« (C 145). »Die Republik oder die freie Gemeinde bestimmt jährlich alle diejenigen Gegenstände, die hervorgebracht werden müssen, um als Nahrung, Wohnung, Kleidung des Volkes [...] zu dienen.« (C 89). Der Staat ist »der Herr über alles«, er scheut keine Ausgabe, seine Unternehmungen sind »mit dem glänzendsten Erfolge gekrönt. Er vermag es, jeden Zweig bis ins Kleinste zu vervollkommnen, die besten Vorschläge nach langem, reiflichsten Prüfen anzunehmen, und alle übrigen abzuweisen. Er macht sofort die guten Neuerungen bekannt und führt sie ein. [...] Er endlich ist der Generalhaushalter und Hausmeister im Reiche, denn er sammelt die Produkte in seinen Magazinen und teilt sie von dort an die Arbeitenden [...] aus. Dieser Staat ist die Nation selbst, durch das Komitee der Industrie dargestellt. Sie sehen jetzt ohne Zweifel schon die ungeheuren Vorzüge dieses Organismus ein; welche Ersparnis an Zeit, Mühe, Kraft, welche Tüchtigkeit sich dadurch gewinnen läßt, ist wahrhaft bewundernswerth.« (C 90). Die Arbeitsstätten der Republik werden nach »Musterplänen« angelegt (C 136). Auch für den Feldbau gibt es zahlreiche, neu erfundene Maschinen. Alles ist »vervollkommnet«, die anbaufähige Fläche hat sich verdoppelt, ebenso der Ertrag, der darüber hinaus »unvergleichlich besser« geworden ist (C 143). Cabet schildert die Geschichte Ikariens so, dass vor der Einführung der Gütergemeinschaft die Arbeiten nicht geregelt worden seien und jeder »ins Blaue hinein irgend ein Geschäft« angenommen habe. Es sei dies eine »Werkstätte der Verwirrung und Verkehrtheit« gewesen, in der die Arbeiter mit ihren Familien trotz Fleißes zugrunde gehen und Produkte verderben (C 302f.). All dies habe zu Bankrotten geführt, die sich wie Lauffeuer fortpflanzten, und zu »furchtbar verwüstende[n] Handels- und Gewerbekrisen« (C 303). Die »Maschinen [...] dienten meist lediglich zur Aufhäufung ungeheurer Besitztümer einiger Personen, indes tausend andere dadurch brotlos wurden; in Wut zertrümmerten sie diese unschuldigen Instrumente« (C 303). Wie bei Morus triumphiert damit auch bei Cabet der planende Staat als Inkarnation von Vernunft und Allgemeinheit gegenüber dem ›Chaos‹ privateigentümlicher Ökonomie. Cabet demonstriert so die Überlegenheit des Prinzips Kommunismus gegenüber dem Prinzip Individualismus. ... und seine Gesellschaft Die Gesellschaft Ikariens gleicht der auf Utopia auch in anderen Hinsichten, beispielsweise in der hervorgehobenen Bedeutung der Erziehung. »Die Erziehung ist die Grundlage von allem: sie bildet die Kinder zu Menschen, zu Bürgern, zu Arbeitern heran.« (Cabet 1840b: 335). Zudem werden Ehe und Familie als gesellschaftliche Basiseinheit festgeschrieben. Eheschließungen beruhen auf Freiwilligkeit, Scheidungen sind in Ikarien möglich. Ehelosigkeit jedoch wird im Nationalgesetz Ikariens als eine »Empörung gegen die Natur« dargestellt (C 126). [13] Hier endet die staatsbürgerliche Selbstbestimmung. Gegen »Ehebruch und gesetzloses Zusammenleben der Geschlechter« spreche sich das Gesetz auf Schärfste aus. Jedoch, in Cabets idealer Republik kommen diese Verbrechen wegen fortgeschrittener Einsicht erst gar nicht vor, und so müssen die angekündigten drastischen Strafen gar nicht erst verhängt werden (C 126f.). Frauen erlangen bei Cabet keine Gleichberechtigung. Seine Zukunftsvorstellung spricht dies aus: »Die Frau wird ihrer natürlichen Bestimmung zurückgegeben; sie wird für den Mann ein Gegenstand der Verehrung sein.« (Cabet 1840a: 386; Cabet 1840b: 336) Gerade hierin fällt er hinter die zeitgenössische kommunistische Debatte zurück. [14] Frauen sind in Ikarien keine Vollbürger, sie genießen kein Wahlrecht (C 234). Zudem herrscht in Ikarien eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (C 95, 93), wenn auch die Elementarerziehung für beide Geschlechter gleich sein soll (C 67, 94). Sein Familienmodell ist entsprechend »patriarchalisch gefärbt[]« (HSH 76). Die Republik Ikarien ist säkular, Religion ist »nicht mehr mit Staat und Regierung gleichbedeutend« (C 152f.). Es herrscht »Glaubensfreiheit« (C 153), Materialisten werden in Ikarien explizit geduldet (C 150). Die im Anschluss an Rousseau formulierte Vernunftreligion Cabets verfügt über eine funktionale Gottheit: »Mir ist die Gottheit jene erste Ursache, davon ich die Wirkung sehe« (C 149), so wird in einer Auseinandersetzung über die Religion in Ikarien verkündet. [15] Auf dieser Grundlage kann er Kommunismus als »Wahres Christentum« identifizieren (HSH 78). Wenn Cabet mit seiner »Reise nach Ikarien« zwar den Plan einer kommunistischen Gütergemeinschaft als »System« eines rationalen Gemeinwesens entwirft, so wird der Anspruch darauf, das Gemeineigentum einzuführen, doch zugleich aus der natürlichen und gottgegebenen Gleichheit der Menschen abgeleitet (C 460, 514ff.). Die Natur selbst verbürgt und legitimiert dabei die Gütergemeinschaft: »Ich glaube, dass die Natur die Erde wie Licht, Luft und Sonne zum gemeinsamen, unteilbaren Besitz bestimmt hat. [...] Das Naturgemäße ist die Gemeinschaft der Güter« (Cabet 1841: 397). Auch hierin bleibt Cabet dem aufklärerischen Naturrechtsdenken verhaftet. Politisch lässt sich Ikarien als patriarchale, auf planstaatliche Institutionen ausgerichtete Demokratie, die in ihrer lokalen Organisation basisdemokratisch ausgerichtet ist, beschreiben. Es werden auf zwei Jahre gewählte Repräsentanten in die Nationalversammlung entsendet. Als mittlere, exekutive Instanz fungiert eine Provinzialvertretung (siehe C 37f, 157ff.). Von der Vision in die Emigration Mit seinem Roman antwortet Cabet explizit auf eine auch heute immer wieder gern gestellte Frage in politischen Debatten: »Wo ist euer Programm, euer System, euer Plan?« (Cabet 1840a: 380). Die zeitgenössische kommunistische Kritik am Entwurf eines solchen Plans bzw. Systems bleibt nicht aus (HSH 80, 186ff.). Flora Tristan etwa schreibt, Cabet habe »viel Unheil unter Arbeitern angerichtet, die gebannt auf die Heraufkunft ihres Ikarien starren. Die Faszination seiner Vision hat ihre Tätigkeit gelähmt« (nach HSH 107). Agitiert Cabet grundsätzlich für einen friedlichen Weg zum Kommunismus und wendet sich dabei gegen die neobabouvistischen Umsturzpläne seiner Zeit, aber auch gegen die begrenzten Gütergemeinschaftsexperimente, wie sie Owen oder auch die Fourieristen mit ihren Musterkolonien verfolgen, so ändert er seine Auffassung über die richtige politische Strategie mit seinem Artikel vom 9. Mai 1847 jedoch deutlich: Fortan plädiert er für die Errichtung von Musterkolonien und die Auswanderung nach Amerika. Die Gütergemeinschaft wird so vom politisch propagierten, theoretischen Konzept zum Modellversuch. Höppner/Seidel-Höpp-er nennen Cabets Umschwung eine »Bankrotterklärung seiner Konzeption des demokratischen Weges zum Kommunismus in Frankreich« (HSH: 170). Dass Cabet diese Kehrtwendung hinsichtlich der Auswanderung und der Einrichtung von Musterkolonien vollzieht, mag mit seiner Enttäuschung bzw. seiner realistischeren Einschätzung bezüglich der politischen und sozialen Interessen der Bourgeoisie zusammenhängen. Darüber hinaus zeigt sich jedoch gerade, dass Cabet sich in ein politisches Dilemma manövriert hat: Beschränkte soziale Reformen und die Kämpfe dafür lehnt er ebenso ab wie gewaltsame, verschwörerische Umsturzversuche (hier fehlt ihm die überzeugte – erzogene – ›Massenbasis‹). Von den historisch anstehenden politischen und sozialen Auseinandersetzungen, in die gerade auch die ArbeiterInnenbewegung und Teile seiner Anhängerschaft involviert sind, koppelt Cabet sich damit ab. Er setzt ausschließlich auf die kommunistische Propaganda, auf »mündliche und schriftliche rastlose Ausbreitung, Entwicklung, Bekanntmachung« (C 521) und auf eine Erziehung im Sinne der Gesellschaft der Gütergemeinschaft (wie er sie auch für den ikarischen Übergangszustand beschreibt). Seine Politik bleibt so in gewisser Hinsicht ›praxislos‹. Cabets Wandel erweckt den Eindruck, als solle sein ›genialer Plan‹ für eine neue Welt nun im Kleinen realisiert werden, da es der breiten Einsicht und damit der politischen Durchsetzbarkeit im Großen ermangelt. Fortan betreibt Cabet die Kolonisation, ein Weg, der von vielen KommunistInnen kritisiert wird. Nach einem ersten Gründungsversuch in Texas, der kläglich scheitert, wird ein zweiter in Nauvoo/Illinois gestartet. Cabet erwirbt dort eine Mormonensiedlung. Doch schnell zerstreiten sich die IkarierInnen mit ihrem Anführer, dem egomanische Wesenszüge und die Tendenz zur autoritären Selbsternennung bescheinigt werden, und trennen sich von ihm. Cabet stirbt bald darauf in Amerika. Die Kolonie Ikarien besteht bis 1895, kann jedoch keine expansiven Wirkungen entfalten (HSH: 234ff.) und bleibt so eines der gescheiterten Kolonie-Projekte unter vielen anderen. Der Kommunist im Bürger Verglichen mit Morus wirkt Cabets Utopie der Gütergemeinschaft, abgesehen von dem wesentlichen Unterschied bezüglich der Rolle der Maschinerie, der Fabriken etc., liberaler in Bezug auf Ehe und Familie und demokratischer hinsichtlich der politischen Institutionen. Die Befreiung der Individuen und ihrer Bedürfnisse macht jedoch vor den Institutionen Ehe und Familie einerseits sowie dem Staat andererseits halt. Die Planungs- und Leitungsbefugnisse über das gemeinschaftliche Eigentum werden letztlich zentral dem Staat überantwortet. Dass es eines Staates bedarf, ist für Cabet unzweifelhaft. Sein Vertrauen in die planerischen Fähigkeiten des Staates ist hoch und noch ungebrochen. Cabets Kommunismus ist insofern Staatskommunismus und damit ein Kommunismus, der seine bürgerlich-revolutionäre Grundlage nicht überwunden hat. Dass staatliches Handeln und Allgemeininteresse in seiner Utopie übereinstimmen, scheint durch die demokratischen Verfahren gewährleistet. Damit ist auch die wesentliche Frage in Bezug auf das Gemeineigentum, die Form der Verfügung über die ›Commons‹, geklärt: Marktökonomie, Handel und letztlich die Bourgeois werden durch den Staat ersetzt. Diese Orientierung auf die Institution des Staates kennzeichnet die kommunistische Debatte jedoch keineswegs durchgängig. Théodor Dézamy, Schüler und später Kritiker Cabets, sucht in seinen Schriften jegliche Repräsentation zu vermeiden und setzt an die Stelle des Staates eine Verwaltung. [16] Bei Cabet ist es nicht zuletzt die staatliche Erziehung, der es gelingen muss, die für Ikarien notwendigen ›neuen‹ Staatsbürger zu formen. Auch dies bildet ein Grundelement des bürgerlich-revolutionären Diskurses. Gesellschaftliche Veränderung ist dabei im Wesentlichen Erziehungs-, nicht Erfahrungsprozess. An der Erziehung hängt die Fähigkeit zur individuellen Selbstbestimmung, die zugleich immer auf das Allgemeininteresse bezogen ist. Mit ihr steht und fällt die Gütergemeinschaft. Auch die Frage, wie genau eine ›vernünftige‹ Reproduktion der Gesellschaft zu gestalten ist, scheint darüber beantwortet. Die Möglichkeit einer Entfremdung von Bürgertum und jener, von der Gesellschaft getrennten und ›äußerlichen‹ Institution, die das Allgemeininteresse vertreten soll, ist nicht vorgesehen. Das kommunistische, über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehende Element, die Gütergemeinschaft (Communauté), wirkt hier insofern noch wie die soziale Ergänzung oder Perfektionierung einer bürgerlichen Republik: Gleichheit wird nicht nur als politische, sondern auch als soziale verwirklicht, die sozialen Verwerfungen (Elend und Verschwendung, ökonomische Krisen, Individualismus d.h. Konkurrenz, Neid, Verbrechen etc.) der privateigentümlichen Verhältnisse sind damit verschwunden. Der frühe Kommunismus zeigt sich so als Ideologie und Ideal der Citoyens.[17]
* Thomas Gehrig ist Mitglied der Redaktion des »links-netz«. Eine ausführliche Fassung einschließlich aller Anmerkungen und Literaturliste ist über die Redaktion erhältlich. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 06/11 1) Étienne Cabet (1840): Reise nach Ikarien, Berlin 1979 = C. Zuerst unter Pseudonym (Francis Adams aus dem englischen übersetzt von Th. Dufruit) erschienen unter dem Titel: »Voyages et Aventures de Lord William Carisdall en Icarie«, Paris 1840. 2) Nach Karl Grün habe Cabet »das Wort Kommunismus in neuerer Zeit auf die Tagesordnung gebracht« (Grün 1845: 325). »An seiner politischen Ausstrahlung innerhalb und außerhalb Frankreichs gemessen, gehört Cabet unzweifelhaft zu den einflussreichsten kommunistischen Wortführern der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.« (HSH 145). 3) Cabet muss 1834 für fünf Jahre ins Exil und geht nach England. Hier setzt er sich nicht nur mit Owen auseinander (er trifft ihn auch persönlich), sondern erlebt die fortgeschrittene industrielle Wirklichkeit Englands sowie die politische Arbeit der Chartistenbewegung. Im englischen Exil entsteht seine »Reise nach Ikarien«. Siehe dazu HSH 49ff. 4) Cabet »apostrophiert die ›Bourgeoisie‹ als ›Privileg‹, als eine ›Art Kaste‹, nähert sich damit der traditionellen Bestimmung der ›bourgeois oisifs‹. Diese Charakterisierung liegt auf der Linie, nach der er die Gesellschaft in ›Arme‹ und ›Reiche‹ scheidet« (Bambach 1984: 248). 5) Cabet deutet immer wieder an, dass überhaupt Vernunft, konsequente Demokratie, die vernünftige, rationelle Organisation der Ökonomie, humanitäre Moral (Humanität, Solidarität, Harmonie statt Individualismus, Neid, Konkurrenz etc.) und Kommunismus koinzidieren und somit gütergemeinschaftliche Verhältnisse auch im Interesse der BürgerInnen liegen und diese überzeugen müssen (siehe u.a. Johnson 1966). 6) Höppner/Seidel-Höppner sprechen von einer »reformistischen und einer revolutionären« Richtung des »Arbeiterkommunismus«. Cabet (und Lahautière) zählen für sie zu den »Hauptvertretern des rechten Flügels« (VBbB I: 316). Die Kriterien solcher Einteilung bleiben jedoch fragwürdig. 7) Maßgeblich für Cabet scheint seine Überzeugung, dass der Kommunismus »nur durch den sich zwanglos artikulierenden Willen der Mehrheit« (Bambach 1984: 396) eingeführt werden kann. Dementsprechend formuliert er: »Wir ziehen die Reform vor, ohne die Revolution zurückzuweisen, wenn die öffentliche Meinung sie für notwendig erklärt.« (Cabet 1844: Les masques: 27, Bambach 1984: 392). 8) Vom ikarischen Land wird berichtet, nirgendwo sei ein unnützer Baum oder Strauch zu entdecken (C 133). Cabet denkt in Bezug auf die neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten auch über eugenische Praktiken und Maßnahmen nach (C 108, Bambach 1984: 253). 9) Die Einführung der Gütergemeinschaft denkt Cabet sich im Rahmen einer 50 Jahre dauernden Übergangszeit, in der Ikar, der quasi als ›guter‹ Diktator eingeführt wird, die politischen Geschicke leitet (C 198). 10) Die »Anerkennung der faktischen Differenz und die der Gleichheit der natürlichen Rechte kollidieren nicht, weil sie auf unterschiedlichen Ebenen artikuliert sind« (Bambach 1984: 245). 11) Für Cabet bedeutet das: »Jeder einzelne arbeitet die gleiche Stundenzahl im Tage, nach seinen Fähigkeiten; und genießt den gleichen Antheil an den Erzeugnissen, nach seinem Bedarfe.« (C 517). 12) »Die Maschinen werden, im Interesse aller, unbeschränkt vermehrt, um die Produktion zu steigern, um alle gefährlichen, ermüdenden, ungesunden oder ekelerregenden Arbeiten durchzuführen, so daß der Mensch nur noch ein Erfinder und Lenker von Maschinen ist, die Arbeit aber kurz von Dauer, einfach, angenehm.« (Cabet 1840: 334, vgl. Cabet 1841: 402, Cabet 1840a: 385f.). Mit diesem Produktionssystem seien »gewaltige Einsparungen zu erzielen und die Industrieproduktion mindestens zu verzehnfachen« (Cabet 1841: 402). 13) Die Natur kennt jedoch keine Ehe. Hier zeigt sich, ebenso wie in der Begründung des Gemeineigentums (s.u.), eine Grenze naturrechtlich-aufklärerischer Argumentation. 14) Ein Brief Lyoner Anhänger Cabets vom September 1842 beispielsweise kritisiert Cabets Familienvorstellung als unverträglich mit Brüderlichkeit und Gleichheit, siehe Bambach 1984: 341. 15) In seinem Kommunistischen Glaubensbekenntnis formuliert Cabet abweichend: »Ich glaube vielmehr an einen Urgrund, den ich Natur nenne« (Cabet 1841: 392). 16) Bei Dézamy wird die nationale Regierung im turnusmäßigen Wechsel einer Kommunalregierung überantwortet, gleiches gilt für die Weltregierung. Siehe VBbB II: 483, 488. 17) Dass in der Emanzipation des bürgerlichen Selbstbewusstseins die staatliche ›Schreckensherrschaft‹ angelegt ist, analysiert bereits Hegel im Abschnitt »Die absolute Freiheit und der Schrecken« seiner Phänomenologie des Geistes (1807).
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