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Updated: 18.12.2012 15:51
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Commons auf Utopia

Beiträge zur Rückeroberung einer Debatte

Von Thomas Gehrig

Ausgangspunkt der Erörterungen zu den Commons waren die im aktuellen Commons-Diskurs vorhandenen sozialwissenschaftlichen und politischen Definitionsschwierigkeiten des Gegenstands »Commons« selbst. Hierbei wurde deutlich, dass das, was als Commons bezeichnet wird, nicht als natürliches Artefakt aufzufinden oder wissenschaftlich abzuleiten oder zu erschließen ist, sondern dass Commons eine gesellschaftliche Vorstellung sind, dass sie immer gesellschaftlich ausgewiesen und bestimmt werden. Somit wandelt sich auch das Bild der Commons notwendig mit der jeweiligen Vorstellung von und Perspektive auf Gesellschaft.

Im Zuge einer »kommunistischen Rückeroberung« des Commons-Begriffs ging es darum, sich Vorläufer und Entwicklung ›communistischer‹ Commons, d.h. jener Formen der Gütergemeinschaft (Communauté), die den Bereich der Produktion einschließen, zu vergegenwärtigen. Wir gelangten zunächst zu den Diggers, die im England des 17. Jahrhunderts bereits commune Produktion proklamieren und auch versuchen, sie praktisch umzusetzen. Ihre Kritik bezieht bereits – und dies ist entscheidend – explizit die antagonistischen Lohnarbeitsverhältnisse mit ein.

Von hier aus eröffnen sich für den Anspruch einer vollständigeren Rekonstruktion recht viele weitere Untersuchungsräume. So wären Gruppen aus dem zeitgenössischen Umfeld der Diggers wie beispielsweise die der Ranters eine genauere Analyse wert.

Auch würde sich der Bereich religiöser Ideen einer Gütergemeinschaft anbieten. Hier finden sich nicht nur stark mit christlich-religiösen Motiven unterlegte theoretische Überlegungen und Utopien. Es existieren auch soziale Bewegungen, die sich explizit als christlich-religiöse verstehen und die versuchen, Gütergemeinschaft als adäquate Form christlichen Zusammenlebens zu praktizieren. [1] Vorbilder werden aus christlichen Erzählungen über frühchristliche Gemeinden oder die Jüngerschaft Jesus’ entnommen. Das gütergemeinschaftliche Leben wird dabei aus dem Auftrag einer christlichen Lebensgestaltung in der Nachfolge Jesus hergeleitet. Ziel ist hier in erster Linie nicht die Selbstbefreiung des Menschen, sondern seine Unterordnung unter das religiöse System. Dabei bleibt festzuhalten, dass religiöse Motive in den Theorien und Utopien der Gütergemeinschaft bis weit in das 19. Jahrhundert hinein fast allgegenwärtig sind und materialistische Ansätze eher die Ausnahme bilden.

Zugleich fällt jedoch auch in diesen religiösen Systemen deren Kritik privateigentümlicher Verhältnisse auf. Die Ablehnung jener historisch sich durchsetzenden Form des Privateigentums ist so etwas wie der gemein-same Kern der verschiedensten Entwürfe einer Gesellschaft der Gütergemeinschaft. [2] Sie sind bestimmt durch eine implizite oder explizite Kritik an jenen privateigentümlichen Verhältnissen, die gerade im Begriff sind, die alten, feudalen Verhältnisse zu stürzen und eine neue Form der Gesellschaft zu etablieren. Eine Gesellschaft, die Gleichheit verspricht und sich nicht zuletzt auch darüber zu legitimieren versucht, die aber zugleich neue Ungleichheit etabliert. Angesichts der Gleichheits- und Befreiungspropaganda und des steigenden Reichtums der Gesellschaften erscheint gerade diese neue Ungleichheit umso schreiender, weil unverständlicher und legitimationsbedürftiger.

In dieser Situation liegt es nahe, auf der Suche nach anderen gesellschaftlichen Zuständen und Entwicklungsmöglichkeiten zunächst auf traditionelle gemeineigentümliche Formen der Produktion zu rekurrieren. Sie erscheinen als Alternative zur privateigentümlichen und individualistischen Ökonomie, zu eben jenen Verhältnissen, die gerade dabei sind, die alte Gesellschaft von Grund auf aufzulösen. In der Bewegung der Auflösung und Neuorganisation der Gesellschaft mischen sich somit Vorgriffe auf Zukünftiges, die auch emanzipatorische Momente der neuen Entwicklung beinhalten, sowie Rückgriffe auf bestimmte Momente der alten Gesellschaft, die Sicherheit gegen die negativen Auswirkungen der neuen, privateigentümlichen (Un)Ordnung bringen sollen.

Gegenentwürfe gegen die bürgerliche Gesellschaft des Privateigentums, der materiellen Verelendung und der moralischen Degradation befinden sich dabei in einem eigentümlichen argumentativen Zwischenbereich. Ein Blick auf die Ideen des bereits bei den Diggers immer wieder durchschimmernden Thomas Morus und seine Insel Utopia kann dies verdeutlichen. Morus’ Utopia (1516)* ist der paradigmatische und kongeniale Planentwurf einer Gesellschaft der Gütergemeinschaft, der alle weiteren Überlegungen mehr oder weniger stark beeinflussen wird. Viele, sehr viele utopische Entwürfe folgen auf den des Morus. Sie sind literarisch als klassische Utopie, als Beschreibung eines (räumlich oder zeitlich) fernen Landes oder als Planentwurf zu finden. [3]

Gerade Morus’ Roman zeigt sich dabei als eine Reflexion, die im Zusammenhang mit der Herausbildung bürgerlicher Verhältnisse steht und die selbst eine Kritik des Privateigentums beinhaltet. Hier wird deutlich, wie sich mit der bürgerlichen Gesellschaft zum einen Formen der Kritik des Privateigentums – teils antifeudal, teils rationalistisch motiviert – sowie zum anderen Modelle einer autoritären Staatlichkeit, die die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse einführen und absichern sollen, entwickeln.

Wie u.a. bei den Diggers gilt bereits bei Morus das Privateigentum als das Hauptübel in der herrschenden Gesellschaft. [4] Auf Utopia dagegen gibt es nur gemeinschaftliches Eigentum, dort ist »alles gemeinsamer Besitz aller« (Morus: 44), »und obgleich niemand etwas besitzt, sind doch alle reich« (Morus: 126). Die Produktion ermöglicht für alle ein gleiches und gutes Auskommen, es herrscht sogar ein gewisser »Überfluss an jeglichem Lebensbedarf« (Morus: 70, vgl.: 60). Das Produzierte wird in Speicher bzw. auf Marktplätze (Lebensmittel) gebracht und von dort je nach Bedarf abgeholt (Morus: 65f.) [5]. Gemeinschaftliches Leben und gemeinschaftliche »Beschaffung des Lebensunterhalts, und zwar unter Ausschaltung jedes Geldverkehrs«, gelten als Fundament Utopias (Morus: 130).

Im ersten Buch des Romans bezweifelt der Ich-Erzähler im Rahmen einer Diskussion noch die Vorteile einer Gütergemeinschaft: »Aber ich bin gerade der entgegengesetzten Meinung«, erwiderte ich, »daß man sich nämlich niemals dort wohl fühlen kann, wo Gütergemeinschaft herrscht. Denn wie könnte die Menge der Güter ausreichen, wenn jeder sich um die Arbeit drückt, weil ihn ja keine Rücksicht auf Erwerb zur Arbeit anspornt und weil ihn die Möglichkeit, sich auf den Fleiß anderer zu verlassen, träge werden läßt?« (Morus: 47). Der darauf folgende ›Bericht‹ von der Insel Utopia soll den Beweis dafür liefern, dass eine gedeihliche gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung auch und gerade unter Bedingungen der Gütergemeinschaft möglich ist.

Hauptbereich der Produktion auf Utopia ist die Landwirtschaft, in der alle arbeiten müssen (Morus: 57). Da-neben existieren verschiedene Handwerke, wobei alle UtopierInnen ein besonderes zu erlernen haben (Morus: 58). [6] In der Landwirtschaft und in ähnlicher Weise auch im Handwerk erfolgt die Produktion im Familienverband. Die Arbeitszeit beträgt höchstens sechs Stunden am Tag, da auch Frauen, Priester, Reiche und deren Diener sowie arbeitsfähige Bettler arbeiten (Morus: 58f., 60, 63). [7] Zugleich existieren auch verschiedene Varianten von Sklavenarbeit (Morus: 67, 84, 92ff.).

Die monogamen Ehen und streng patriarchal-gerontokratisch organisierten Familien bilden die wesentliche Einheit gesellschaftlicher Organisation auf Utopia. [8] In Ehe und Familie wird die unterste Stufe staatlicher Ordnungsfunktionen etabliert: »Die Männer züchtigen ihre Frauen und die Eltern ihre Kinder« (Morus: 96). Die Ehe unterliegt einer rigiden Kontrolle, auf vorehelichen Geschlechtsverkehr stehen strenge Strafen, auf Ehebruch steht Sklaverei oder Tod (Morus: 94, 96). Ehescheidungen jedoch sind im Einvernehmen möglich, aber genehmigungspflichtig (Morus: 95f.).

Die Verteilung und Kontrolle der Arbeiten und Produkte wird staatlich organisiert, die staatlichen Organe sind z.T. demokratisch legitimiert (Morus: 56). Es herrscht eine Art ›basisdemokratischer Zentralismus‹. Der Übergang zur Gütergemeinschaft auf Utopia wird bei Morus gewissermaßen als Diktatur, mit einem guten und weisen Diktator (Utopus) beschrieben, der dieses System auf Utopia einführt.

»Syphogranten« werden jene genannt, die, patriarchal-demokratisch gewählt, die Arbeitssphäre überwachen und die Menschen zur Arbeit anhalten. [9] Zudem herrscht auf Utopia eine wirksame soziale Kontrolle: »Ihr seht schon, in Utopien gibt es nirgends eine Möglichkeit zum Müßiggang oder einen Vorwand zur Trägheit. Keine Weinschenken, keine Bierhäuser, nirgends ein Bordell, keine Gelegenheit zur Verführung, keine Schlupfwinkel, keine Stätten der Liederlichkeit; jeder ist vielmehr den Blicken der Allgemeinheit ausgesetzt, die ihn entweder zur gewohnten Arbeit zwingt oder ihm nur ein ehrbares Vergnügen gestattet.« (Morus: 70).

Die ausgeprägte Rolle des Staates ist ein typisches Moment der frühen utopischen Gesellschaftsentwürfe. Ein mehr oder weniger demokratischer, meist zentralistisch angelegter Staat übernimmt die Rolle der planenden und organisierenden Instanz gegenüber der utopischen Gesellschaft, in der Produktion und Verteilung nicht über den Markt vermittelt sind. Alles Produzierte wird in Magazinen gesammelt und über diese wiederum je nach Bedarf verteilt. [10] Geld und damit Handel gibt es auf Utopia nicht (Morus: 72, 128, 130).

Die Planung und Organisation der Gesellschaft erfolgt nach Maßstäben von Zweckmäßigkeit, ökonomischer Rationalität und allgemeiner Vernünftigkeit. Ziel ist es, ein »angenehmes Leben« (Morus: 80), ein bestimmtes Maß an materiellem und kulturellem Gemeinwohl (commonwealth) sicherzustellen (Morus: 126). Richard Saage hält an der Utopie des Morus fest, dass dort Bürgerrechte nicht vorgesehen seien, »weil offenbar unterstellt wird, daß die staatlichen Funktionsträger a priori im Interesse der einzelnen handeln« (Saage: 142). Die gesellschaftliche Orientierung auf das Gemeinwohl ist durch die staatliche Organisation garantiert, diese kennt zugleich aber auch Rechte und Formen demokratischer Legitimierung. Dabei fällt auf, dass auf Utopia alles vernünftig, zweckmäßig, nützlich etc. eingerichtet ist. Die Maßstäbe dieser Vernünftigkeit etc. sind offenbar so unmittelbar einleuchtend, dass Konflikte weitgehend ausbleiben. Alle sehen die Notwendigkeiten ein, die befolgt werden müssen, um jenen optimalen Zustand allgemeinen Wohlstands und Glücks zu erreichen. Die Einsicht in die vernünftige Organisation zum Wohle der Allgemeinheit verbürgt die Harmonie von Einzel- und Allgemeininteressen.

Die Religion der Utopier (Morus: 112ff., vgl. 78) könnte als liberaler Deismus umschrieben werden. Sie tritt gegenüber der vernunftgeleiteten Gesellschaftsorganisation in den Hintergrund. Die Tugend bestehe für die Utopier »in einem naturgemäßen Leben, sofern uns Gott dazu geschaffen hat; naturgemäß aber lebt der, der in allem, was er begehrt und meidet, den Geboten der Vernunft gehorcht.« (Morus: 79). Gott ist, so die Idee des Deismus, Schöpfer und Werkmeister der Natur (Morus: 91). Es herrscht Religionsfreiheit, wenn auch alle an die Unsterblichkeit der Seele und die göttliche Vorsehung glauben sollen (Morus: 115).

Einen besonderen Stellenwert auf Utopia genießen auch Erziehung und Wissenschaften (Morus: 76). Die wissenschaftliche Ausbildung der Utopier führt zu technischen Erfindungen (Morus: 91). Der Unterricht, der durch Priester (wobei es auch Priesterinnen gibt) erfolgt, soll »den noch zarten und empfänglichen Kinderherzen von Anfang an gesunde und der Erhaltung ihres Staates dienliche Anschauungen ein[ ]pflanzen. Wenn diese erst einmal im Kinde festsitzen, begleiten sie den Erwachsenen durchs ganze Leben und sind von großem Nutzen für die Erhaltung des Staates; denn was einen Staat zerfallen läßt, sind einzig und allein die Laster, die ihrerseits wieder aus verkehrten Anschauungen entstehen.« (Morus: 120). Diese Vorstellung von Erziehung wird in der Aufklärung und der französischen Revolutionsepoche und im Anschluss daran in den verschiedenen bürgerlichen, sozialistischen und kommunistischen Gesellschaftsentwürfen eine zentrale Rolle spielen. Es ist die Bildung und Erziehung zum Staatsbürger (Citoyen). [11] Wie viele der utopischen Gesellschaftsentwürfe der Aufklärung (außer den reaktionär-katholischen) wird auch bei Morus unterstellt, der Mensch sei von Natur bzw. Gott als grundsätzlich ›gutes‹ Wesen konzipiert. Es entsteht hier eine Art Theodizee-Problem: Wie kommt es zu der schlechten Einrichtung des Gesellschaftssystems, wenn doch der Mensch von Natur aus ›gut‹ und vernunftbegabt ist? Es herrscht die Vorstellung einer Entwicklung aus natürlichen Anlagen heraus, die jedoch durch Erziehung (staatlich) gelenkt werden müsse.

In den Utopien wie der des Morus gibt es zwar kooperative Produktionsformen, das Eigentum ist hingegen letztlich Staatseigentum, die Produktion wird staatlich (planmäßig) angeleitet, und die Einzelnen sind tendenziell Objekte einer (wissenschaftlichen) Eliteherrschaft. Hier reflektieren sich nicht zuletzt die historisch gewachsenen Potenzen der Administration in Kombination mit gesteigerten produktiven Kräften.

Der individuelle Ansporn, die Triebfeder der privateigentümlichen Produktion, wird ersetzt durch die Einsicht in die Vernünftigkeit (und zugleich in das gute Funktionieren, wie es das Beispiel Utopia zeigt) gütergemeinschaftlicher Produktion, begleitet von staatlichen und sozialen Kontrollregimen.

Bei Morus spielt im Unterschied zur Agitation und Praxis der Diggers (nicht jedoch zum späten Werk Win-stanleys) die staatliche Organisation des Gemeinwesens eine entscheidende Rolle. Dieses Element erscheint als modern, dagegen wirken seine familialen agrarischen und handwerklichen Produktionseinheiten wie ein Rückgriff auf überkommene Strukturen. In Morus Gütergemeinschaft ist gemeinschaftliche Produktion im Wesentlichen nach dem Bild der agrarischen Produktionsgemeinde oder -familie gezeichnet. Diese Produktionseinheiten und deren Zusammenwirken werden durch den in gewissem Rahmen demokratisch legitimierten Staat planmäßig gesteuert. Der Staat ist die Instanz, die das Allgemeininteresse an einem guten Leben vertritt. Maßgabe seiner planerischen Organisation ist eine durchgängige Rationalität und Zweckmäßigkeit.

Der zentrale gesellschaftlich-ökonomische Konflikt, vor dessen Hintergrund Morus Utopia entstehen lässt, spielt sich bei Morus zwischen jener Gruppe von Menschen, die Müßiggänger oder Produzenten unnützer Dinge (Goldschmiede, Wucherer) sind, und der Gruppe, die die unentbehrlichen Arbeiten verrichtet, ab. Letztere erhalten für ihre Arbeiten jedoch nur einen geringen Verdienst (Morus: 127). Es ist im Wesentlichen ein Konflikt der Privateigentümer im Sinne der Reichen und Mächtigen gegen die arbeitenden Armen. [12] Die bestehenden Staaten werden als »eine Art Verschwörung der Reichen, die unter Mißbrauch des Namens- und Rechtstitels eines Staates nur auf ihre persönlichen Interessen bedacht sind« kritisiert (Morus: 128). »Sie ersinnen und denken sich alle möglichen Mittel und Ränke aus, zunächst, um ihren unrechtmäßig erworbenen Besitz zu behalten, ohne fürchten zu müssen, ihn zu verlieren, und sodann, um sich die angestrengte Arbeit aller Armen so billig wie möglich zu erkaufen und zu ihrem Vorteil zu missbrauchen« (Morus: 128). Zugleich steckt dahinter jedoch implizit bereits auch ein Konflikt der entstehenden kapitalistischen Ökonomie des Privateigentums und der freien Lohnarbeit, was sich an Morus Schilderung der Einhegungsbewegung zeigt.

Die Veränderung der Ökonomie in England und die Etablierung privateigentümlicher Verhältnisse dient bei Morus als abschreckendes Exempel. Explizit thematisiert Morus den Prozess der Enclosures (Einhegungen), in dessen Verlauf die ›Schafe Menschen essen‹ (Morus: 22). [13] Morus beschreibt nicht nur die ökonomischen Antriebe, sondern auch die ökonomischen Folgen dieses Prozesses. Die landwirtschaftlichen Pächter werden mit ihren Familien vertrieben. »Was bleibt ihnen dann schließlich anderes übrig, als zu stehlen und am Galgen zu hängen – nach Recht und Gesetz natürlich – oder sich herumzutreiben und zu betteln, obgleich sie auch dann als Vagabunden eingesperrt werden, weil sie herumlaufen, ohne zu arbeiten? Und doch will sie niemand als Arbeiter in Dienst nehmen, so eifrig sie sich auch anbieten. Denn mit der Landarbeit, an die sie gewöhnt sind, ist es vorbei, wo nicht gesät wird; genügt doch ein einziger Schaf- oder Rinderhirt als Aufsicht, um von seinen Herden ein Stück Land abweiden zu lassen, zu dessen Bestellung als Saatfeld viele Hände notwendig waren.« (Morus: 23). Trotz der wachsenden Zahl der Schafe falle der Preis der Wolle aufgrund des oligopolisierten Handels nicht. Und auch die Preise für Lebensmittel stiegen, da die Landwirtschaft vernichtet sei (Morus: 23). Morus fordert deshalb, »die Aufkäufe der Reichen und die Freiheit ihres Handels« einzuschränken (Morus: 24).

Gegenüber einem übersteigerten Auseinandertreten von Reichtum und Armut und der ökonomischen Ineffizienz des bestehenden Systems gerät Morus jedoch letztlich der sich entwickelnde Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht systematisch in den Blick. Er verfügt über keinen entwickelten Begriff der Ausbeutung.

Auch Morus’ alternative Produktionsvorstellung bleibt, wie erwähnt, rückwärtsgerichtet. Die planstaatlich koordinierte und durch ein sozialmoralisches Kontrollregime abgestützte agrarische Produktionsgemeinde bildet jedoch auch noch das Zentrum der Produktionsvorstellungen späterer Entwürfe der Gütergemeinschaft. Diese Modelle der Gütergemeinschaft sind dadurch gekennzeichnet, dass sie keine industrielle Produktion kennen. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert rücken jedoch gerade die Möglichkeiten der ›modernen‹, industriellen Produktion in den Vordergrund. Der ökonomische Erfolg der agrarischen Gütergemeinschaft wurde in der rationalen Organisation, dem gesellschaftlichen Ausgleich der Produktionen und der Ausweitung des arbeitenden Teils der Bevölkerung auf die müßiggängerischen Klassen gesehen. Mit der industriellen Entwicklung werden jene Potenzen vermehrt der industriellen, hoch arbeitsteiligen Produktion, der zentralen Stellung von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, letztlich dem Fabriksystem zugeschrieben. Gerade das industrielle System erscheint als jenes, das in der Lage ist, der zukünftigen Gesellschaft ihren gesamtgesellschaftlichen Wohlstand zu gewähren.

Vor allem auch die Kooperativmodelle von Owen und Fourier, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt werden, fußen auf der neuen, industriellen Produktion. Beide wollen über die geschickte Organisation der Gesellschaft und vor allem des Produktionsprozesses die Menschen in das System industrieller Produktion einbinden. Soziale Konflikt sollen so überwunden werden. Die Modelle sind dabei so strukturiert, dass sie die ›natürlichen‹ Anlagen der Menschen berücksichtigen und sie zum Vorteil der Produktion verwenden. Owen und Fourier treten dabei nicht nur als Ingenieure, sondern auch als Lehrmeister ihrer eigenen Modelle auf. Inwiefern diese ›Erzieher‹ der Gesellschaft selbst noch bürgerlich erzogen sind und sich von der bürgerlichen Vorstellungswelt nicht emanzipieren, sondern sie zu perfektionieren versuchen, soll in anderen Teilen unserer Rückeroberung des Commonsbegriffs untersucht werden.

Für die Commons-Diskussion bleibt hier zunächst festzuhalten, dass Privateigentum in Utopia zumindest aus dem Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion verbannt ist. Verlassen wir also die Insel Utopia, nehmen mit, was von ihr für die aktuelle Zukunft brauchbar ist, und wenden uns in der nächsten Ausgabe den Gefilden von Ikarien zu, der für die kommunistische Diskussion maßgeblich gewordenen Utopie Etienne Cabets.

* Thomas Morus: »Utopia«, Leipzig 1988

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 05/11
express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link, www.labournet.de/express externer Link


1) Andreae, Johann Valentin (1619): »Christianopolis«, Leipzig 1977; Fast, Heinold (1962): »Der linke Flügel der Reformation«, Bremen; Goertz, Hans-Jürgen (1988): »Die Täufer. Geschichte und Deutung«, München.

2) »Die kommunistischen Systeme, um die es 1845/46 geht, werden gewöhnlich bis auf Morus und Campanella und sogar auf Platon zurückgeführt. Entscheidend ist der Gedanke, daß die Aufhebung privaten Eigentums der Hebel sei, um das Glück der einzelnen mit dem allgemeinen Besten eins werden zu lassen.« Morelly entwerfe ein »erstes modernes System«, dessen Modell die »gesamte utopisch-kommunistische Literatur des 19. Jahrhunderts verpflichtet« sei. Behrens/Hafner (1991): »Auf der Suche nach dem ›wahren Sozialismus‹« in: Pannekoek/Mattick u.a. (1991): »Marxistischer Anti-Leninismus«, Freiburg, S. 205-231. Siehe: Morelly (1753): »Naufrage des isles flottantes – Basiliade du célèbre Pilpai«, Messine; ders. (1755): »Gesetzbuch der natürlichen Gesellschaft«, Berlin 1964.

3) Campanella (1623): »Der Sonnenstaat«; Francis Bacon (1627): »Nova Atlantis«; Harrington (1656): »Oceana«; Veiras (1689): »Eine Historie der Neu-gefundenen Völcker Sevarambes genannt«; Fénelon (1699): »Les Aventures de Télé-maque fils d’Ulisse«; Desfontaines (1731): »Der neue Gulliver«; Morelly (1753): »Untergang der schwimmenden Inseln oder Königsgesang (Basiliade) vom erlauchten Pilpai«; Mercier (1770): »Das Jahr 2440«; Rétif de la Bretonne (1781): »La Découverte australe par un Homme-volant«; Schnabel (1828): »Die Insel Felsenburg«; Bellamy (1888): »Das Jahr 2000: Ein Rückblick auf das Jahr 1887«; etc.

4) Der bei Morus als fiktiver Berichterstatter über Utopia auftretende Raphael Hythlodeus führt aus: »Wenn ich freilich ganz offen meine Meinung kundgeben soll, mein lieber Morus, so muß ich sagen: ich bin in der Tat der Ansicht, überall, wo es noch Privateigentum gibt, wo alle an alles das Geld als Maßstab anlegen, wird kaum jemals eine gerechte und glückliche Politik möglich sein« (Morus: 45, vgl. S. 46)

5) Der gemeinschaftliche Güterspeicher und die Verteilung der Produkte daraus ist Element fast aller späteren Entwürfe der Gütergemeinschaft.

6) Eine Ausnahme bildet der Bereich der Wissenschaften, für die besondere Regelungen gelten. Wissenschaftlich arbeitenden Menschen kann »dauernde Arbeitsbefreiung zur Durchführung ihrer Studien bewilligt« werden (Morus: 61). Der Umstand, dass auf Utopia das Kochen Frauensache ist (Morus: 67), deutet auf Formen geschlechtspezifischer Arbeitsteilung.

7) Dagegen steht die bestehende Gesellschaft: »Da nämlich bei uns das Geld der Maßstab für alles ist, müssen wir viele völlig unnütze und überflüssige Gewerbe betreiben, die bloß der Verschwendung und der Genußsucht dienen. Würde man nämlich diese ganze Masse, die jetzt im Arbeitsprozeß steht, nur auf die so wenigen Gewerbe verteilen, die ein angemessener natürlicher Bedarf erfordert, so würde ein großer Überfluß an Waren entstehen, und die Preise würden notwendigerweise zu tief sinken, als daß die Handwerker ihren Lebensunterhalt davon bestreiten könnten. Aber wenn alle die, die jetzt ihre Kräfte in nutzloser Tätigkeit verzetteln, und wenn noch dazu der ganze Schwarm derer, die jetzt in Nichtstun und Trägheit erschlaffen und von denen jeder einzelne so viel von den Produkten verbraucht, die die Arbeitskraft anderer liefert, wie zwei der Arbeiter, wenn man also alle diese zu Arbeiten, und zwar zu nützlichen, verwendete, so würde, wie leicht einzusehen ist, ungemein wenig Zeit mehr als reichlich genügen, um alles zu beschaffen, was zum Leben notwendig oder nützlich ist; du kannst auch noch hinzusetzen, zum Vergnügen, soweit es echt und natürlich ist. Und das bestätigen in Utopien die Tatsachen selber.« (Morus: 60f.).

8) »Der Älteste ist [...] das Oberhaupt der Familie. Die Frauen dienen ihren Männern, die Kinder ihren Eltern«, (Morus: 65).

9) »Die besondere und beinahe einzige Aufgabe der Syphogranten ist es, sich angelegentlich darum zu kümmern, daß niemand untätig herumsitzt, sondern daß jeder sein Gewerbe mit Fleiß betreibt«, Morus: 58).

10) »Dorthin werden in gewisse Gebäude die Arbeitsprodukte aller Familien gebracht, dann werden die verschiedenen einzelnen Gattungen in Magazine sortirt gelagert. Von dort holt jeder Familienvater, was er und die Seinen nöthig haben, und nimmt es ohne Geld und ohne irgendwelche Gegenleistung an sich.«

11) Siehe dazu auch Gehrig, Thomas (2007): »Erziehungsvorstellungen im ‘Frühsozialismus’«, in: Bernd Dollinger/Car-sten Müller/Wolfgang Schröer (Hg.) (2007): »Die sozialpädagogische Erziehung des Bürgers«, Wiesbaden, S. 69-92.

12) Die Edelleute, selber müßig, lebten »von der Arbeit anderer, nämlich von der der Bauern auf ihren Gütern, die sie bis aufs Blut aussaugen, um ihre persönlichen Einkünfte zu erhöhen. Das ist nämlich die einzige Art von Wirtschaftlichkeit, die jene Menschen kennen« (Morus: 19).

13) »Eure Schafe«, sagte ich. »Sie, die gewöhnlich so zahm und genügsam sind, sollen jetzt so gefräßig und wild geworden sein, daß sie sogar Menschen verschlingen sowie Felder, Häuser und Städte verwüsten und entvölkern«.« (Morus: 22). Vgl. Marx (1867): Das Kapital, Abschnitt über die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation.


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